Hauptbild
Titelseite der nmz 2024/05.

Titelseite der nmz 2024/05.

Banner Full-Size

600 Einzelfälle oder strukturelles Problem?

Untertitel
Der Warnruf der Studierenden muss Konsequenzen haben · Von Antje Kirschning
Vorspann / Teaser

Zwei Veröffentlichungen haben kürzlich die Aufmerksamkeit auf Missstände an Musikhochschulen gelenkt. In München wurde eine wissenschaftlichen Studie zum Thema „Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt an der HMTM“ vorgestellt (siehe Seite 19), schon im März wurden Ergebnisse einer Umfrage der studentischen „Initiative gegen Machtmissbrauch an Musikhochschulen“ bekannt. Für die nmz ordnet Antje Kirschning, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin und Sprecherin der bukof-Kommission Künstlerische Hochschulen die Diskussion ein.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Nach einem Konzert fragte kürzlich eine Studentin: „Was ist der Unterschied zwischen Leitungen von Kirchen und von Musikhochschulen im Umgang mit allgemeinen Missbrauchsvorwürfen?“ In das nachdenkliche Schweigen in der Runde hinein sagt sie: „Die Kirchenleitungen blockieren Aufklärung, die Hochschulleitungen unterstützen Aufklärung nicht.“ Diese Szene fällt in eine Zeit, in der der SPIEGEL titelt „Machtmissbrauch an Musikhochschulen ‚Wie kann man so jung und so langweilig sein?‘“ Am 16. März 2024 berichtete er über „Beleidigungen, Demütigungen, sexuelle Übergriffe“ (Quellen am Ende des Artikels, siehe auch nmz 4/2024). Einmal mehr werden die Spezifika der künstlerischen Ausbildung in der Presse erörtert. Neu ist jetzt, dass die Studierendenvertretungen sich selbst zu Wort melden, Forderungen stellen und Betroffenen anonymisiert eine Stimme geben. 

Die Studierendenvertretungen und Allgemeinen Studierendenausschüsse (ASten) von vielen Musikhochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlichten Ende 2023 „Forderungen zur Prävention und Intervention von übergriffigem, unangemessenem und missbräuchlichem Verhalten“. Sie unterstützen darin vollumfänglich die „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an künstlerischen Hochschulen“ der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof). Mit zehn Empfehlungen forderte die bukof Anfang 2023 die Rektorenkonferenzen der deutschen Musik- und Kunsthochschulen (RKM und RKK) auf, die vielfältigen Maßnahmen an den künstlerischen Hochschulen auf Bundesebene zu bündeln und Synergien zu nutzen. Mit dem Fokus auf die übliche 1:1-Situation in der musikalischen Ausbildung setzen die ASten nun noch eins drauf und fordern die verpflichtende Evaluation des Einzelunterrichts an Musikhochschulen, um sexualisierte Übergriffe und psychische Gewalt frühzeitig zu erkennen. Die kulturell und sprachlich vielfältige Studierendenschaft soll durch niedrigschwellige Beratungsangebote gestärkt werden. 

Nulltoleranz gefordert

Die studentische „Initiative gegen Machtmissbrauch an Musikhochschulen“ hat hochschulübergreifend über 160 Erfahrungsberichte mit mehr als 600 Fällen aus dem Unterrichts- und Probenalltag gesammelt. Sie zeigen auf, wie Lehrpersonen nonverbal und verbal Grenzen von Studierenden überschritten und damit belastende Situationen geschaffen haben, die bis zum Studienabbruch führten. Die Berichte legen nahe, dass an vielen Musikhochschulen ein Klima herrscht, das vermeintlich ‚kleinere‘ Übergriffe toleriert und bagatellisiert. Deshalb fordern die ASten von den Hochschulleitungen, Übergriffe und Macht­miss­brauch als strukturelles Problem an­zu­erkennen. Sie fordern außerdem einen Kulturwandel im Sinne einer Nulltoleranz. Hierbei erkennen sie den bereits bestehenden Willen einiger Hochschulleitungen dazu an, während sie ihn von anderen dringend einfordern. Fast frage ich mich in Anlehnung an das Zitat aus dem SPIEGEL-Artikel: Wie kann man so jung und so geduldig sein?

Die ASten der Musikhochschulen kündigten die Veröffentlichung vorab an. Sie bitten, dies nicht als Provokation zu sehen, sondern als Warnruf, die Dringlichkeit des Problems anzuerkennen: „Wir haben große Hoffnungen in eine nachhaltige Änderung der Strukturen, die Machtmissbrauch bisher begünstigen, erwarten mit Spannung die Zusammenarbeit mit den Hochschulgremien und freuen uns, mit Ihnen über unsere Forderungen ins Gespräch zu kommen“. Basierend auf Fakten haben sie wirksame Maßnahmen abgeleitet. Mehr Geduld, Sachorientierung und Kooperationswillen kann eine Interessenvertretung nicht haben.

Die Mär vom Einzelfall

Im Kern geht es um die Frage, ob es sich hier um 600 Einzelfälle handelt oder den Ausdruck eines strukturellen, gesamtgesellschaftlichen Problems. Typische Abwehrmuster im Umgang mit Übergriffen und Machtmissbrauch bezwecken oder bewirken genau das, was die Studierenden nicht länger hinnehmen wollen: die Probleme verharmlosen und beschönigen. 

Häufig ist zu lesen, dass Fälle von Machtmissbrauch eher die Ausnahme und nicht die Regel seien. Das ist richtig, aber: Wie oft kann eine Ausnahme eine Ausnahme sein? Jeder Vorfall ist einer zu viel und verursacht unnötiges seelisches Leid. Alle, die für Beratungen und Beschwerden an Hochschulen verantwortlich sind, wissen: Nur ein Teil der Vorfälle wird den internen Anlaufstellen gemeldet aus Angst vor beruflichen Nachteilen, dem Vorwurf der Nestbeschmutzung, dem Infragestellen der Glaubhaftigkeit und nicht gewährleisteter Anonymität. Nur ein Bruchteil von Vorfällen gelangt bis zu den offiziellen Beschwerdestellen und Hochschulleitungen. Der Großteil ‚versickert‘ im Hochschulalltag und bleibt verborgen. Es müsste gezielt das Dunkelfeld beforscht werden. 

An den Kunst- und Musikhochschulen gibt es eine spezielle Schutzlücke: Der Rollenwechsel der Lehrenden von der Bühne in den (Einzel-) Unterricht erfordert ein besonderes Maß an Professionalität und Selbstreflexion, denn als Künstler*in auf der Bühne stehen sie selbst im Mittelpunkt des Interesses und als Lehrperson sollten sie sie die Studierenden fördern und coachen. Lehrende geben zwar Einzelunterricht, sind jedoch größtenteils weder psychologisch, noch pädagogisch und/oder didaktisch geschult. Es sollte selbstverständlich sein, dass Lehrende mit ihren Studierenden zu Beginn einer Unterrichtsbeziehung grundsätzlich besprechen, ob und gegebenenfalls wann, wo und wie die Studierenden berührt werden dürfen. Das klingt banal, wird jedoch noch zu selten unternommen. Lehrende Künstler*innen müssen teilweise auch lernen, professionell Gespräche zu führen darüber, wie Körperlichkeit, Intimität und starke Gefühle auf der Bühne sensibel dargestellt, geprobt und wiederholbar gemacht werden. Im Verlauf des Unterrichts müssen Lehrende ihre Studierenden immer wieder ermutigen, Veränderungen und Unwohlsein anzusprechen.

In dieser individuellen Lehr-Lern-Situation ist das Hierarchiegefälle und die Fürsorgepflicht besonders zu beachten. Sie sind verantwortlich dafür, dass Studierende ihre Talente angstfrei entfalten und mit Freude lernen können. Weiterbildungen etwa von Intimitätskoordinator*innen würden diese Schutzlücke schließen helfen, wenn sie nicht länger freiwillig, sondern verpflichtend angeboten werden. Auch Supervision oder kollegiale Beratung können gute Formate für Lehrende sein. Übrigens hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016 eine Schutzlücke für Studierende im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgezeigt. Auch aufgrund dieses Gutachtens haben inzwischen alle Musikhochschulen entsprechende Richtlinien erlassen. 

Niemand erhebt einen Generalverdacht gegen das 1:1-Format des Einzelunterrichts. Die Studierenden hinterfragen jedoch das Setting in einer Jahrhunderte alten Tradition des „Meister-Schüler-Verhältnisses“. Sie fordern, es transparenter zu machen und Licht in diese Black Box zu bringen. Denn in diesem isolierten Raum können Grenzen verschwimmen oder unbeachtet, auch unbewusst verschoben werden. Eine Evaluation bringt auch immer den quasi begutachteten Personen neue Erkenntnisse und bietet damit eine Chance, sich weiter zu entwickeln.

Evaluationen, Weiterbildungen

Seit einigen Jahren finden Evaluationen und Weiterbildungen auf freiwilliger Basis statt. Die erschütternden Berichte legen nahe, dass das nicht reicht. Damit Lehrende zu Evaluationen und Weiterbildungen verpflichtet werden können, muss diese Pflicht gesetzlich verankert werden. In anderen Ländern wie Großbritannien und in anderen Berufsgruppen (in der Medizin) ist eine Fortbildungspflicht längst Standard. Denn jede Verhaltensänderung erfordert zunächst eine Einsicht. Anschließend muss neues Verhalten trainiert und in den Alltag integriert und zur Gewohnheit gemacht werden. Unabhängig von juristischen Grundlagen könnten die RKM und RKK im Sinne einer Selbstverpflichtung vereinbaren, dass Weiterbildungen und Evaluationsergebnisse als Auswahlkriterien in Ausschreibungen benannt und in Besetzungsverfahren positiv gewichtet werden. Im Falle einer Berufung könnten Fortbildungen notfalls nachgeholt werden. Hier ist Kreativität gefragt: An Österreichs Kunsthochschulen gibt es bereits ein verpflichtendes Onboarding für neu berufene Lehrende, dass auch „die großen Stars“ durchlaufen müssen.

Text

Die nächsten Schritte

Der RKM-Vorstand bemüht sich um einen Dialog mit der „Initiative gegen Machtmissbrauch an Musikhochschulen“. Außerdem stehen die Hochschulleitungen im Austausch mit ihren ASten und Studierendenvertretungen. Die von der RKM eingerichtete AG Antidiskriminierung soll ein Positionspapier erarbeiten, welches Zukunftsperspektiven und Handlungsempfehlungen für die Musikhochschulen aufzeigt. Dieses Papier soll laut einer Pressemitteilung im Mai verabschiedet werden und die RKM-Hochschulen wollen koordinierte Maßnahmen abstimmen. Es ist zu hoffen, dass die Expertise aus den Forderungen der Studierendenvertretungen und die bukof-Handlungsempfehlungen einfließen. 

Jetzt ist der Zeitpunkt für ein starkes Signal. Das Ziel aller Akteure ist ein sicherer, respektvoller und von gegenseitigem Vertrauen geprägter Umgang an allen Musikhochschulen. Ein deutliches Zeichen der RKM könnte beispielsweise sein, den ASten anzubieten, die Veröffentlichung der Erfahrungsberichte zu finanzieren. Denn die Studierenden haben ohne besondere Finanzmittel eine qualitative Befragung auf die Beine gestellt. Ihnen gebührt Dank für ihr monatelanges, ehrenamtliches Engagement. Davon sollten sie selbst auch profitieren und nicht erst Studierendengenerationen nach ihnen. Dann würde auch der Unterschied deutlich zwischen Leitungen von Kirchen und von Musikhochschulen.

Antje Kirschning — Die Autorin ist Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Sprecherin der bukof-Kommission Künstlerische Hochschulen und Mitautorin der bukof-Handlungsempfehlungen.

Quellen:

Artikel auswählen
Ort
Print-Rubriken
Unterrubrik