Das Geräusch hat die Musik historisch auf vielen Ebenen geprägt und ist nach wie vor Motor aktueller Entwicklungen. So unmittelbar Geräuschmusik auf die Hörenden wirkt, so sehr fordert sie auch neuartige wissenschaftlich-intellektuelle Ansätze. Ein spannendes Themenfeld, dem sich die Musikhochschule Lübeck (MHL) zusammen mit anderen Kulturinstitutionen vom 20. bis 22. Oktober mit einem Festival-Symposium widmete. Hans-Dieter Grünefeld war dabei und berichtet über einige Aspekte.
Audate audire – Trau Dich zuzuhören
Erkenntnisinteresse
Übergänge von natürlichen oder synthetischen Geräuschen zu traditionell geformten tonhaften Klängen, seien sie komponiert oder improvisiert, sind fließend: deren Unterscheidung und Verständnis hängt von bewusstem Hören als Kulturtechnik ab. „Geräusche haben etwas Anarchisches, Subversives, Unberechenbares, Irrationales, Wildes“, meinte MHL-Präsident Prof. Dr. Bernd Redmann in seinem Grußwort. Er verlieh seinem Wunsch Ausdruck, dass die zahlreichen Veranstaltungen des Symposiums dazu beitragen, den Sinn von Klangkunst und Geräuschmusik zu enträtseln. Diversen Facetten dieser Thematik, „die von großer Aktualität im musikalischen Material- und Ästhetikdiskurs sind“, so Dr. Oliver Korte, MHL-Vizepräsident und Professor für Musiktheorie, waren renommierte Experten und Aufführende theoretisch und praktisch auf der Spur.
Geräuschpraxis und Rezeption
Küchenutensilien wie Gabeln, Tassen oder Schüsseln werden im Alltag zweckentfremdet, denn eigentlich seien sie ja Klanggeräte, meinte augenzwinkernd Johannes Fischer, MHL-Professor für Schlagzeug. Er sprach über das „Geräusche sammeln als künstlerische Praxis“ und erläuterte, wie potenzielle Funktionen genannter und anderer Alltagsgegenstände durch subjektive Blickwinkel und reflektierte Erfahrungen für Konzertzwecke modifiziert werden können. Der Komponist, Forscher und Tüftler Michael Maierhof aus Hamburg und das Ensemble „Klangrauschen“ führten sein „Quartett auf Objekten mit Motoren und Mikrofonen“ auf – Motoren als charakteristische Ikonen unserer urbanen Umgebung. Es handelt sich um eine streng komponierte Geräuschfolge mit manipulierten elektrischen Zahnbürsten, die aufgrund ihrer druckempfindlichen Motoren als Instrumente besonders geeignet sind. Sie wurden eingeschaltet an ein Set mit verschiedenen weichen und harten Materialien wie Papier und Plastik direkt vor ein Mikrofon gehalten: zunächst monochrome, dann zunehmend vielfarbige Geräusche waren da zu hören, die sich zu vielfältigen Klangkomplexen formten. Während für Präsentationen mit ausschließlich Geräuschhaftem nur schwierig eine interessierte Öffentlichkeit zu mobilisieren sei, wie Michael Maierhof feststellte, stört sich kaum jemand an unkonventionell-artifiziellen Geräusch-Sequenzen wie sie in Filmen, insbesondere Cartoons und Krimis oft verwendet werden. Die Rezeption von Geräuschen ist in bestimmten musikalischen Kontexten also noch ambivalent.
Interferenzen von Geräusch und Klang
Eine kleine Auswahl seiner Kollektion akustischer Fundstücke, etwa auf ein Zeltdach trommelnde Regentropfen, präsentierte Sven Lütgen, Dozent für Sound Studies und Intermedia an der Muthesius Kunsthochschule Kiel. Wie auch andere Referierende wies er darauf hin, dass es keinen Kanon eindeutig identifizierbarer Geräusche gibt, vielmehr eine Dichotomie der Extreme: Ein reines Tonspektrum tendiert zur Monotonie und reines Geräusch zur Überreizung der Wahrnehmung. Die Grenze zwischen Ton und Geräusch ist fließend: Geräusche können ebenso Musik sein wie Töne; beide sind untrennbar mit ihr verbunden: nicht die reine Intonation macht den typischen Instrumentenklang aus, sondern erst die geräuschhaften Ein- und Ausschwingvorgänge, wie Johannes Fischer erläuterte.
Eine Mischung aus Geräusch und Klang ist auch „The 1987 Max Headroom Incident“, ein Streichquartett des italienischen Komponisten Mauro Lanza, das Sascha Lemke, MHL-Professor für Musiktheorie, Organisator und Moderator des Symposions, analytisch kommentierte: Das Werk bezieht sich auf TV-Serien wie Dr. Who und den anarchischen Max Headroom, eine vorgeblich digitale Kunstfigur aus den 1980er Jahren, die bekannte Sujets aus dem US-amerikanischen Unterhaltungssektor elektronisch gefiltert und verfremdet hat.
Im Werk ergeben sich bizarre Interferenzen von Samples und notierter Musik für Streichquartett, die wie bei einem nostalgischen Röhrenradio oder Tonbandgerät hörbar ein- und ausgeschaltet werden. In Juxtaposition dazu berichtete Helga de la Motte-Haber, emeritierte Professorin der TU Berlin, von „Geräuschen“ in der Musik der klassischen Moderne und der Avantgarde: so die Erfindung und Etablierung des präparierten Klaviers (um 1940) von John Cage, Klangmontagen wie bei „Ionisation“ für Perkussion-Ensemble mit Sirenen (1933) von Edgar Varèse, oder „Mouvement − vor der Erstarrung“ (um 1984) von Helmut Lachenmann. Dessen radikale Position steht weiterhin in der Diskussion, weil seine Werke sich mit erweiterten Spieltechniken auf konventionellen Instrumenten weitestgehend vom Ton verabschieden. Diese und zahlreiche andere, auch zeitgenössische Kompositionen, wurden während des Festivals in der MHL von Dozierenden und Studierenden aufgeführt.
Resonanzen und Akzeptanz
Mit einer anthropologisch-holistischen Betrachtung zirkelte Dr. Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena und Erfurt, das Erkenntnis-Terrain „Was Geräusche zu Musik macht“ ab. Sein zentraler Begriff ist „Resonanz“, nicht synonym zur musikalischen Konsonanz oder Dissonanz zu verstehen, sondern als eine spezifische Beziehung zur sinnlich wahrnehmbaren Welt, welche die vier Faktoren Berührung, Selbstwirksamkeit, Transformation und Unverfügbarkeit umfasst. Wenn Ton oder auch Geräusch dort andocken können, ist partielle oder situative Aufhebung der Entfremdung zur Umgebung möglich: jegliche auditive Wahrnehmung wie ein Konzert, fließendes Wasser, periodische Motorentouren oder Vogelgesang hat Potenzial, das sich von Hörenden als Musik anverwandeln und zueigen machen lässt. Sensuelle und kognitive Antennen für Differenzierungen in der Hör-Wahrnehmung können also durch Neugier und Erfahrung so justiert werden, dass anachronistische Gewohnheiten überwunden und ein erweitertes Klang-Spektrum akzeptiert werden kann.
Fazit
Das Symposion „Geräusch – Musik – Geräuschmusik“ gehört zu einer Serie von drei Symposien unter dem Obertitel „Sinne | Sinn“, einem Netzwerkprojekt der MHL, der Christian-Albrechts-Universität und der Muthesius Kunsthochschule zu Kiel und dem Kieler Forum für zeitgenössische Musik e.V.
Sascha Lemke lobte die optimale Kooperation innerhalb der MHL: „Mich hat sehr gefreut, dass viele Kolleg*innen und Studierende unserer Hochschule das Wagnis auf sich genommen haben, dieses organisatorisch und musikalisch komplexe Programm umzusetzen und sich einzubringen, sei dies bei der Einstudierung, dem Erlernen neuer Werke, dem Beisteuern eigener Kompositionen, Installationen oder Improvisationen oder bei einem Vortrag. Ein großer Dank geht auch an das künstlerische Betriebsbüro, die Bühnentechnik und das elektronische Studio. So ist das Symposium über sich hinausgewachsen.“ Eine Publikation der Vorträge ist in Vorbereitung.
Mit seiner großen thematischen Bandbreite in den Referaten, Präsentationen und Konzerten war das Symposion in Lübeck ein bemerkenswertes Ereignis. Das philosophische Sinn-Geheimnis „unzivilisierter“ Geräusche für die menschliche Existenz konnte während dieser Tage nicht vollständig enthüllt werden. Dennoch war man sich über die Faszination und Berechtigung von Geräuschen in der Klangästhetik einig, die man in beeindruckend breiter Palette kennenlernen konnte.
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