Die bedrohlicher werdende Präsenz von Krieg und bewaffneten Auseinandersetzungen in der Welt führt zur großen Herausforderung, ob und wie mit Musik dazu Position bezogen werden kann. Als betont internationale Ausbildungsstätten, an welchen auch junge Menschen aus verfeindeten Konfliktparteien Aufnahme finden, sind Musikhochschulen zunehmend gefordert, Handlungsstrategien zu entwickeln, die außer multiethnische Gegebenheiten anzuerkennen auch eine multiperspektivische Haltung einnehmen. Wenn im Heimatland Konflikt und Gewalt herrschen, durchdringen neue Sensibilitäten das Studium. Diese schließen die persönlichen Befindlichkeiten junger Menschen, mithin ihre Verletzlichkeiten ein. Gemeinsames Musizieren ist alleine schon ein Moment, der Raum für solch notwendige und vielfältige Perspektiven bietet.
Auf der Suche nach Verständigung
Mit dem am 7.10.2023 von Hamas-Anhängern verübten Massaker an der israelischen Bevölkerung und der sich daran anschließenden Kriegshandlungen vermehrten sich Antisemitismus, ebenso wie anti-arabische Manifestationen schlagartig. Sie haben weltweit auch in Universitäten Einzug gehalten, selbst in Musikhochschulen.[i] Zugleich zeigt sich, dass allein mit Worten die Gemütslage nicht zu beschwichtigen, eine umfassende Lösung einzig argumentativ nicht zu erreichen ist.
Kaum ein anderes aktuelles Musikprojekt dürfte deutlicher zeigen, dass der Mangel an objektiver Sprachfähigkeit und Kommunikation in Situationen des Konflikts, wie dem derzeitigen in Israel, durchaus von Musik überbrückt werden kann, als das seit 2017 von der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und dem Music Department der Universität Haifa im Rahmen des Festivals Yiddish Summer Weimar[ii] organisierte Caravan Orchestra & Choir. Zum Caravan Projektensemble formiert sich jedes Jahr ein neues 30- bis 40-köpfiges Ensemble von Instrumentalisten und Sängern beider Hochschulen, in Haifa und in Weimar. Zusammengestellt wird ein gemeinsames jiddisch-arabisches, in diesem Jahr auch griechisch und türkisches Musikprogramm, bei dem nach einer intensiven Probephase in Haifa und anschließenden Proben in Weimar Konzerte in Erfurt, Leipzig, Eisenach und Weimar auf die Bühne kommen.[iii]
Brücken bauen
Wegen des verschärften Konflikts in Israel konnte in diesem Jahr die Arbeit nur in Weimar stattfinden. Die Gruppe aus Israel reiste dazu direkt an. Das Caravan-Ensemble setzt sich aus Studierenden der künstlerischen und wissenschaftlichen Fächer, einschließlich Pädagogik, beider Hochschulen zusammen. Das gemeinsam erarbeitete Konzertprogramm besteht aus osteuropäisch-jiddischer, beziehungsweise jüdischer und arabischer Musik. Für die Studierenden beider Hochschulen ist dies die Gelegenheit, gemeinsam ein stets neues, zuvor meist unbekanntes Konzertprogramm auf die Beine zu stellen – ein künstlerisch-wissenschaftliches Musikprojekt, das im wahrsten Sinne Brücken baut, zwischen Studierenden aus beiden Ländern, insbesondere auch zwischen jüdischen und arabischen jungen Musikerinnen und Musiker. Dies geschieht gezielt in der kreativen Auseinandersetzung mit jüdischem und arabischem Musikrepertoire, anders also als bei einem anderen Orchester mit ähnlichem Anspruch, dem von Daniel Barenboim geleiteten West-Eastern Divan Orchestra. Letzteres besteht zwar aus jungen jüdischen und arabischen Musikern, widmet sich aber ausschließlich dem klassischen Konzertrepertoire.
Bei Caravan Orchestra & Choir erhalten die Studierenden die Gelegenheit, den kreativen Austausch mit Kulturen, die ihnen zumeist weniger vertraut sind, der jüdischen, griechischen, türkischen und arabischen Musik, über das praktische Musizieren zu erleben. Dabei kommen nur selten Notenmaterial oder schriftlich festgelegte Arrangements zum Tragen, denn das Konzertprogramm geht auf die Probenarbeit mit musikalischer Improvisation zurück. Dazu können die Mitwirkenden mit eigenen improvisierten Einlagen beitragen. Dies geschieht im Rahmen eines musikalischen Lernprozesses, bei dem diese improvisierten Einschübe im jeweiligen arabischen oder jiddischen Ton gehalten werden. Die entsprechenden modalen Melodieabschnitte, wie Anklänge von osteuropäischem Klezmer und von maqam (arabisches Modalsystem) basierter Themenfindung durchziehen das Programm. Dabei überrascht immer wieder, mit welcher Kunstfertigkeit diese unterschiedlichen musikalischen Welten nahtlos ineinander übergehen. Es überzeugt auch der Wechsel der gesungenen Sprache, vom jiddischen Gesang über das virtuose arabische Tanzstück mit seinen polymetrischen Wendungen bis hin zum griechischen Wiegenlied. Letzteres war als mikro-intervallische Vokalpolyphonie geradezu atemberaubend und hat den Ausführenden, denen solch polyphone Strukturen bisher fremd waren, ein außergewöhnliches Maß an Umsetzungsvermögen abverlangt. Dies alles zusammengefasst offenbart, dass unterschiedliche Sprachen nicht zugleich Sprachlosigkeit im Umgang miteinander bedeuten müssen.
Die am Projekt beteiligten Lehrenden wirken und leben in Griechenland, in der Türkei, in England und Deutschland. Die künstlerische Gesamtleitung von Caravan Orchestra & Choir oblag Polina Shepherd (GB), das künstlerische Co-Leitungsteam bestand aus Mehmet Ali Orman, Klarinette (Türkei), Zoë Aqua, Violine (USA) und Eftychia Mitritsa, Gesang (Griechenland).
Menschliche Erfahrung und Humanität
Didaktisch aufbereitete Ansätze der Musikvermittlung sind bei Caravan nicht ausschlaggebend. Auch psychologische Unterstützung war im Vorhinein nicht vorgesehen. Die künstlerischen Leiter gingen in erster Linie künstlerisch mit der Gruppe um. Vor dem traumatisierenden Hintergrund des Kriegsgeschehens im eigenen Land sollten sich die Musizierenden vor allem als das behandelt fühlen, was sie sind: als Menschen. Gemeinsames Menschsein kann sich im gemeinsamen Musizieren verwirklichen. Musik bietet Humanität eine Chance, indem sie geradezu eine unmittelbare Möglichkeit darstellt, an sie heran zu kommen. Humanität durch Musik gestattet aber auch die Konsequenzen dieses Konflikts außerhalb Israels auf einer anderen Ebene zumindest nachzuempfinden. Angesichts dieser Erwartung hatten die Studierenden aus Haifa explizit darauf bestanden, dass es in Weimar nur darum gehen sollte, gemeinsam Musik zu machen. Die kollektive musikalische Erfahrung führte dann dazu, dass es in den fast drei Wochen des Projekts zu keinen offenen verbalen Auseinandersetzungen kam. Es war bemerkenswert, wie sich die Gruppe aus Israel in die übrige Gruppe einfügte und offen Aufnahme fand. Notwendige Diskussionen spielten sich im geschützten Raum der Mitwirkenden ab. Neben den neuen musikalischen, ist dies sicher eine der großen menschlichen Erfahrungen für die Ensemblemitglieder aus Weimar, die außer aus Deutschland auch aus anderen Ländern stammen, wie unter anderem aus Vietnam oder Peru.
Das in der Musik zustande kommende gegenseitige Hören beförderte auch ein besseres, zugleich toleranteres Zuhören in der Gemeinschaft. Zwar erschien in diesem Jahr die Konzentration der Gruppe aus Israel etwas eingeschränkter als sonst, vor allem in der beginnenden Arbeitsphase. Dies änderte sich jedoch zunehmend bei Vertiefung der Ensemblearbeit und im Augenblick, wo das gemeinsam erarbeitete Ergebnis immer klarer zum Vorschein kam. Die anschließenden fünf Konzerte gerieten dann zur schrittweisen Steigerung einer kollektiven musikalischen Leistung, die das Publikum einerseits musikalisch, dann aber vor allem dadurch in ihren Bann zog, dass eine Bühnenpräsentation geboten wurde, die an Lebendigkeit und an begeistertem, zugleich auch präzisem Musizieren kaum überzeugender sein konnte.[iv] Der Funke sprang wortwörtlich über, auch hinter der Bühne, nachdem sich das gesamte Ensemble singend für die Ovationen des Publikums bedankt und von ihm verabschiedet hatte. Gesang und spontane Instrumentaleinwürfe setzten sich einfach fort. Es schien als ob eine Hoffnung aufgekommen war, die nun aber nicht zum Ende kommen wollte. Caravan Orchestra & Choir belegen, dass es der Musik gelingt, was der Politik oft versagt bleibt: gegenseitiges Vertrauen zu schaffen und durch gemeinsames Musizieren einander wirklich zuzuhören.
Vorbild für Musikhochschulen
Was lässt sich daraus ganz praktisch für die Arbeit an Musikhochschulen schließen? Der Umgang mit Musik muss regelmäßig überdacht werden, so fraglich dies für die etablierte Musikausbildung zunächst anmutet. Veranstalter wissen das, wenn sie nach neuen Konzertformaten suchen. Diese alleine könnten jedoch an musikalischen Ausbildungs- und Forschungsstätten keine nachhaltigen Lösungen bieten. Zu hinterfragen ist das festgefahrene Prozedere im Zusammenhang mit dem für sich stehend Etablierten. Letztendlich wird jenes Verhalten zum Problem, das so tut, als ob es nichts weiter gäbe, als gingen gesellschaftliche Prozesse und Fragen der Jetztzeit die Arbeit an einer Musikhochschule nichts an. Ein dadurch entstehendes Altern des Überkommenen betrifft das Popmusikgenre an den Musikhochschulen genauso wie das allgemein klassisch-zeitgenössische Repertoire. Hier setzt Caravan an, denn mit einem erneuerten Umgang mit Musik – und sei sie noch so traditionell oder historisch – kann jede Sparte aktualisiert werden und damit auch gesellschaftliche Bedeutsamkeit erlangen. Bei Caravan alterniert nicht nur jüdisches/jiddisches und arabisches Material, es wird neu eingekleidet, gelegentlich mit einer popmusikalischen Note versehen, bleibt aber frisch, wohlgelaunt, auch nachdenklich, nie jedoch konventionell oder nachahmend. Die Musik bewegt sich wie ein ständig erneuernder Fluss fort.
Bei Caravan geht es schließlich weder um Repertoire gegen Repertoire, noch um Stil gegen Stil, was in Richtung Kulturkampf und nicht Austausch ginge. Statt Differenzen hervorzuheben, werden Gemeinsamkeiten erkannt, was auch dem gemeinsamen Umgang mit den unterschiedlichen Stilen dient. Es werden Affinitäten aufgespürt, die es zwischen dem jüdischen und arabischen Repertoire ausreichend gibt und die zur Schaffung neuer Formen des musikalischen Ausdrucks und der damit in Verbindung stehenden Gedankenwelt führt.[v]
Caravan ist ein musikalisches Projekt der Addition. Es bringt scheinbar Unvereinbares zusammen, belehrt die anderslautende öffentliche Meinung damit, dass ein Dialog möglich ist. Es darf bei diesem Dialog keine Ausgrenzung geben, keine Subtraktion und damit die Eliminierung einer Stimme, eines bestimmten Stils. Damit kann Caravan zu einem Vorbild für die musikalische Ausbildung werden.
Musik und Friedensarbeit
Es macht besonders betroffen, dass die verheerendsten Terroranschläge in den letzten Jahren auch der Musik galten: der Anschlag vom 7.10.2023 unterbrach unsagbar brutal ein friedliches Musikfestival in Israel. Aber auch beim Anschlag auf das Pariser „Bataclan“ vom 13.11.2015, oder dem Überfall auf das „Crocus City Hall“ nördlich von Moskau am 22.3.2024, wo es jeweils über 130 Tote und viele Verletzte gab, wurden Konzerte durch Terrorakte abrupt und auf grausame Weise verstummt. Die unlängst in Wien geplanten Konzerte von Taylor Swift mussten wegen Terrorwarnungen ganz ausfallen. Zeitgleich mit einem der Konzerte von Caravan Orchestra & Choir in Thüringen, am Sonntag, 11.8.2024, wurde ein „Konzert für den Frieden“ des israelischen Galilee Chamber Orchestra bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern wegen Sicherheitsbedenken kurzfristig abgesagt.[vi] Dieses Kammerorchester setzt sich ähnlich wie das West-Eastern Divan Orchestra aus jüdischen und arabischen Mitgliedern zusammen, hat seinen Stammsitz jedoch in Israel.[vii] Diesmal konnte es das Land für Auftritte in Europa gar nicht erst verlassen.
Angesichts dieser düsteren Stimmungslage ist es umso beachtenswerter, dass das Caravan Orchestra & Choir so historisch bedeutsame Orte wie den Herderplatz in Weimar, oder den Platz vor der Alten Synagoge in Erfurt jeweils in eine Insel des Friedens und des Glücks verwandeln konnte.[viii] Diese letzten beiden Freiluftkonzerte boten dem Publikum ganz außergewöhnliche Momente, die für den jeweiligen Abend eine von Krisen gebeutelte Welt vollkommen vergessen ließen.
Die Hoffnung darf nicht ruhen
Die gelungene Umsetzung von Caravan Orchestra & Choir ist also in unseren Tagen keineswegs selbstverständlich. Mag sie auf ihre Art neu sein, die ihr zugrunde liegende friedensstiftende Idee ist es nicht, auch wenn sie in Vergessenheit geriet. So sind es die Gedanken des in Haifa tätigen Geigers und Pazifisten Joseph Abileah (1915–1994), der das Sinfonische Orchester der Stadt mit begründet und dort 20 Jahre gespielt hatte, an die das Ensemble aus Haifa und Weimar nun anknüpfen kann: „Die Brücke zum Frieden ruht auf vier Säulen: 1. die Verschwisterung der Menschheit; 2. die Heiligkeit des Lebens; 3. die gewaltlose Wahrheit; 4. nur gute Wege führen zu einem guten Ende. Diese vier Säulen müssen auf den beiden Grundsätzen von Glaube und Hoffnung stehen .“(1981)[ix]
Anders als der Glaube, der unerschütterlich bleibt, darf die Hoffnung nicht ruhen. Das hatte Joseph Abileah bekräftigt. Wenn an der Hoffnung ständig gearbeitet werden muss, dann stellt dafür Musik ein geeignetes Mittel dar. Die Erfahrungen und die Ergebnisse der Arbeit mit dem Caravan Orchestra & Choir haben dies in den letzten acht Jahren bestätigt. Einige Mitglieder aus Haifa haben diesmal den festen Wunsch geäußert, Caravan in Israel fortführen zu wollen. Wenn dies gelingt, wäre ein großes Stück Hoffnung geleistet und damit auch ein möglicher Weg der Verständigung bereitet – durch Musik.
- Tiago de Oliveira Pinto, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
Anmerkungen
[i] U.a. am Music Department der Indiana University im Sommersemester 2024, wo ein Dozent dieses Departments, der eine studentische Pro-Palästina-Besetzung des Campus unterstützt hatte, der Hochschule verwiesen wurde.
[ii] Yiddish Summer Weimar: https://yiddishsummer.eu/de/. Zum Festival in diesem Jahr: https://www.n-tv.de/regionales/thueringen/12-000-Besucher-beim-Yiddish-…. Organisiert wird das Festival von der Other Music Academy e.V. in Weimar, die auch die Produktion der Proben und Konzerte des Caravan Orchestra & Choir in Kooperation mit der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar verantwortet. Dazu auch: https://caravanorchestra.eu/about/
[iii] In diesem Jahr fand erstmals ein zusätzliches Konzert in Essen statt.
[iv] Dieser Aspekt wird in einer Studie zum Caravan Projekt aufgegriffen – Abigail Wood: „From Klezmer to Dabkah in Haifa and Weimar. Revisiting Disrupted Histories in the Key of D.“, in: The World of Music 7 (2018) 1+2, S. 61–79.
[v] Dieses Vorgehen entspricht dem transkulturellen Ansatz in der angewandten Musikforschung, wie er am UNESCO Chair on Transcultural Music Studies der Weimarer Hochschule vertreten wird. Caravan Orchestra & Choir wurde 2017 von diesem Lehrstuhl an die Weimarer Hochschule geholt und seither hier betreut.
[vii] In der Selbstdarstellung des Galilee Chamber Orchestra heißt es u.a.: „Die Musiker:innen repräsentieren keine politischen Gruppierungen und haben bislang versucht, ihre künstlerische Verständigungsarbeit der katastrophalen Lage zum Trotz fortzusetzen.“
[viii] Am 11.8.2024 fand die Urkundenübergabe des Eintrags der Erfurter Alten Synagoge in das UNESCO Welterbe-Verzeichnis statt. So wurde an diesem Tag historisches Welterbe und das lebendige Kulturerbe der Musik gemeinsam gefeiert.
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