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Utensilien für das digitale Unterrichten: Mikrofonstativ, Audiointerface, Mikrofon, XLR-Kabel, Laptop mit Webacm

Foto: MUK

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Ausweitung der Anwendungszonen

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Digitales Unterrichten immer noch unübersichtlich
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Ein Ende der Findungsphase für Online-Meetings mit Ensemble-Proben, Performances und Unterricht ist nicht in Sicht. Erste Software-Entwicklungen für solistisches, chorisches und instrumentales Musizieren starteten um 2000. Seitdem ist viel passiert. Schritt für Schritt vollzog sich die Optimierung der medialen Qualität und Vereinfachung der Anwendung. Dann entstand durch die Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 eine globale Bedarfsexplosion. Viele Institutionen erhofften sich nach dem unfreiwilligen Zellendasein durch COVID langfristigen Anschub für das digitale Musizieren, selbst wenn es nicht zu einem derartigen Flow an performativer Vielfalt kam wie im Sprech- und Figurentheater, wo das Publikum im Digitalen mehr interaktiv gefordert, herausgefordert und zur Partizipation gedrängt werden konnte als in physischen Kommunikationsmustern.

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Wohin sollte es nach dem Wiedererstarken eines physischen Konzertlebens und Unterrichtens gehen? Der Teufel steckt im Detail akademischer Aufgaben und Bereichsübergänge. Denn das digitale Musizieren ist keineswegs der dualistische Gegensatz zum physischen Musizieren, sondern vollzieht sich in einem parallelen Event- und Produktuniversum mit unverzichtbaren Mitteln wie Elektrizität oder Elektronik, Digitalität und Software. Das triadische Modell von Werk / Improvisation, Interpretation / Darbietung und Publikum / Öffentlichkeit ist in der medialen Verkapselung ebenso gültig wie in der physischen Realität. Also sind auch die spieltechnischen Voraussetzungen für das Musizieren im und über Internet fast die gleichen wie in Räumen mit Publikum oder bei physischen Treffen von Lehrenden und Lernenden. Aber die akustischen Bedingungen sind anders. Für das „normale“ Publikum besteht allerdings kein Unterschied zwischen dem totalen Hören an einem physischen Ort oder aus einem Medium, das möglicherweise Raumklänge oft besser strukturieren kann als die Akustik eines Aufführungsortes.

Anders verhält es sich bei Kompositionen und erweiterten Mitteln der Musikschöpfung als unmittelbares Ereignis oder für Aufzeichnungen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts nimmt der Anteil nichtmenschlicher Tonproduktion zu – in Form von Verfremdungen, Zuspielaufnahmen, Loops und in absehbarer Zukunft auch durch KI. „Oper als virtuelle Realität“ lautete bereits das Motto der 8. Münchener Biennale für neues Musiktheater 2002. Für Manfred Stahnkes Oper „Orpheus Kristall“ hatte die Regisseurin Bettina Wackernagel neue Medien in ihr Konzept integriert. Musiker aus verschiedenen Erdteilen wurden auf der Suche nach durch die technische Entwicklung mögliche Formen „jenseits der Oper“, also via Internet, in der Aufführung zusammengebracht. Bewusst hatte man als Sujet den antiken Orpheus-Stoff gewählt, der im Musiktheater von Monteverdi bis Krenek und Glass immer wieder Anlass und Spielwiese für ästhetische, musikalische, dramaturgische, technische Innovationen und daraus entstehende Reformen wurde.

Nicht nur solche Nischenanforderungen wirken im Idealfall auf die Inhalte des akademischen Lehrbetriebs, sondern auch die Reaktion auf stetigen Wandel durch Technik und Themen. Die Innovationen von einst kommen naturgemäß selbst in die Jahre, aus Überwältigung wird Nostalgie und Historie. So zu merken in der Neuproduktion von Roman Haubenstock-Ramatis 1966 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführtem Musiktheater „Amerika“ an der Oper Zürich im März 2024. Das Ton- und Sound­equipment des Opernhauses Zürich ist auf Höhe der Gegenwart, also eine technische Ewigkeit weiter als noch die früheren Vorstellungen in Bielefeld (2004) und Graz (1992). In Zürich verwendete man zwar die Einspielung des Chors aus Bielefeld, unterzog diese allerdings für heutige Hörgewohnheiten einer technisch-ästhetischen Innovation – natürlich mit digitalen Mitteln, die für alle Aufgaben als Instrument und Kommunikationskanal immer höhere Bedeutung erlangen.

Anlass für diesen Text war eine Ankündigung Anfang März 2024: „Dresdner Musikhochschule für Musik Carl Maria von Weber hilft beim Musizieren übers Internet“. Am Ende stand ein Hinweis zur kostenlosen PDF-Handreichung „Und jetzt zus@mmen! Dein Einstieg ins Echtzeit-Musizieren über das Internet …“. Von März 2022 bis Januar 2024 wurden im vom Arbeitskreis E-Learning der Landesrektorenkonferenz Sachsen geförderten Projekt „Online Musizieren und Unterrichten im digitalen Hochschulraum“ Möglichkeiten erprobt und erforscht. Es entstanden Videos, „in denen wir Schritt für Schritt erklären, wie man ohne störende Verzögerungen gleichzeitig und gemeinsam mit anderen Musik machen kann“. Im Seminar „Utopien des Online-Musizierens entwickeln und erproben“ des Studienjahrs 2022/23 produzierte man „sechs Beispielvideos für Online-Gesangsunterricht, Gruppenproben, Einsingen etc.“ Zielführend für die Software FarPlay, damit aber auch für die Anwendung der erworbenen Kenntnisse bei anderen Anbietern.

Aktuell stehen zwei Optimierungsbedürfnisse der Software-Entwicklung im Vordergrund: die möglichst einfache Anwendung für physische Tonerzeugung sowie das Ausgleichen von Schwankungen, vor allem aber der Übertragungsprobleme durch den Prozess des Musizierens sowie dessen Beeinträchtigung durch Schwankungen in der technischen Anwendung. Die Dresdner PDF-Handreichung erwähnt mit enzyklopädischem Anspruch alle Potenziale und potenziellen Handikaps zum digitalen Musizieren auf dem Stand der letzten zwei Jahre. Zum Team gehörten mit der Projektkoordination von Anselm Vollprecht in leitender Funktion Prof. Dr. Katharina Bradler (Künstlerisch-pädagogische Ausbildung), Prof. Dr. Christin Werner und Dr. Daniel Prantl (beide Lehramt Musik). Als studentische Hilfskräfte waren Robin Klopfer und Alexander Vinnen beteiligt.
Den gleichen Phänomenen, Herausforderungen und Optimierungsideen widmet sich Prof. Alexander Carôt an der Hochschule Anhalt in Köthen als Entwickler und Optimierer der Software Soundjack – allerdings nicht aus der Hauptperspektive der Pädagogik wie das Dresdner Projekt, sondern als Produzent aus der Medieninformatik im Fachbereich Informatik und Sprachen. Das letzte Software-Update erfolgte 2023. „Weltweit ist Soundjack bereits in den Alltag bedeutender Künstler und Institutionen eingebettet worden“, wirbt die Website und verweist auf die akademische Würdigung im Campus Magazin der US-amerikanischen Butler University. Wie in der freien Wirtschaft geht es auch hier um die Eroberung von Marktanteilen bei Studierenden, Professionellen und Laien.

„Leider stockt die technische Entwicklung mit dem seit Ende der Pandemie rückläufigen Bedarf“, sagt Carôt mit hörbaren Bedauern in der Stimme im Telefongespräch am 26. April. Ganz klar. Mit dem Wiederaufleben eines physischen Musiklebens und dessen unbestreitbarer Priorität reduzierte sich der Bedarf an einer Software für das aktive Musizieren. Streaming wird für Musikeinrichtungen immer häufiger zum von Sendeanstalten und Produktionsgesellschaften unabhängigen Mittel der Direktübertragung und Dokumentation. Aber das Proben, Performen und Konzertieren in „Kacheln“ – also von akustischen und visuellen Teilnehmenden eines (musikalischen) Online-Meetings – hätte analog zum in vielen Bereichen selbstverständlich gewordenen Homeoffice Chancen vor allem in der Lehre. Auch das digitale Proben verlor gegenüber den physischen Treffen in den eigenen vier Wänden, in Konzertorten und Ausbildungsstätten an Bedeutung. Selbst wenn die Software-Entwicklung zielstrebig für die Übereinstimmung von digitalen und physischen Echtzeit-Bedingungen arbeitet, ist Homeoffice bei Orchesterproben noch Utopie. Unterricht mit eher wenigen Instrumenten und das Proben einzelner Chormitglieder in Online-Ensembleproben haben dagegen Zukunft.
Seit 2021 ist Christian Kuzio an der Hochschule für Musik und Theater Rostock mit der Konzeption und Realisation des neuen Hauptfaches „Digitale Musikpraxis“ im Musiklehramtsstudium betraut. Die Lehrenden sind unter der Rubrik „Schulpraktisches und Digitales Musizieren“ gelistet. Kuzio reflektiert über Lehr- und Lerninhalte aus der Perspektive eines Gitarristen, also nicht eines „klassischen“ Orchesterinstruments mit Möglichkeiten in fast allen Musikgenres. Kuzio geht – neben der Vermittlung des technischen und didaktischen Knowhows – von einem stetigen Wandel digitaler Herausforderungen aus, er betrachtet den Einsatz digitaler Techniken als Medium oder künstlerisches Mittel in ständigem Fluss. Noch immer geht es auch um den Abbau von „Ängsten und Zweifeln“, weil trotz umfangreicher Anleitungen, medialer Tutorials und offener Zugangsmöglichkeiten parzielle Hürden zwischen „physisch“, „analog“ und „digital“ bestehen.

In Rostock hatte man zum bisher internen Gebrauch eine Liste von Lehrstühlen, Fachbereichen und Instituten mit digitalen Angeboten zum Studium von Verwendung und Gestaltung digitaler Mittel erstellt. Es besagt viel, dass diese Liste aufgrund ungewisser Vollständigkeit (noch) nicht nach außen gegeben u wurde. Denn anders als bei tradierten musikalischen Studienfächern ist die inhaltliche, thematische und praktikable Fixierung zur Anwendung digitaler Mittel als Unterrichts-, Übertragungs-, Dokumentations- und Kompositionsmittel noch lange nicht abgeschlossen. Die Trennung in künstlerische und pädagogische Master-Studiengänge wird aufrecht erhalten, dazu kommen die Segmente „Hauptfach im Lehramt“ und „Sonstige Wahl- und Projektmodule“.

Was zum Teil immer einfacher geht oder aber komplizierter wird, umreißt Kuzio mit der Nennung einfacher Lernmethoden über das schlichte Aufnehmen eigenen Musizierens mit dem Smartphone, über die Nutzung digitaler Lernplattformen und den Einsatz von Cyberinstrumenten. Die große Herausforderung bei der Definition von Zweck und Effizienz der Lehrinhalte wird sein, dass Digitalität Möglichkeiten erweitert und ältere Konventionen durch stetig wachsende Potenziale des Mediums überformt werden.

Abschließend ein Perspektivenwechsel zurück in die avancierte Kunst: Bei der 19. Münchener Biennale für neues Musiktheater 2024, also 22 Jahre nach dem eingangs erwähnten Projekt „Orpheus Kristall“ mit linear als technisches Mittel angewandtem Internet, kommen weitaus komplexere Mittel der Digitalität, des Internets und der Elektronik wie selbstverständlich zum Einsatz. Unter dem Motto „On the Way“ geht es in den Auftragskompositionen um Mobilität und das Leben bestimmende Kreisläufe wie die Nahrungskette oder die Suche nach dem Glück. Dabei transformieren bisher abstrakte Begriffe wie Mobilität und das hypothetische Spiel mit künstlerisch-technischen Potenzialen zu physischen Wertigkeiten, etwa wenn Fahrzeuge und Steuerungszentren für Mobilität zum Schauplatz und Aufführungsort werden. Während die Hochschulen noch immer an einem Optimum einfacher Zuschaltungen zwischen stabilen Aufenthaltszellen arbeiten, ist die Kunst schon mindestens einen realen und einen spekulativen Schritt weiter. Das bedeutet nichts anderes, als dass man bei synchronem Musizieren dringlichst Richtung multiple Mobilität weiterdenken muss.

Ansätze sind vorhanden. Die Namen von Hochschul-Lehrangeboten erweisen sich als kreativ, facettenreich und präzisierend. Sie reichen zum Beispiel von „Contemporary Performance and Composition (CoPeCo)“ an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg über „Audiovisuelle Medien“ an der Hochschule der Medien Stuttgart bis zu „Professional Media Creation“ an der Folkwang Universität der Künste in Kooperation mit dem SAE Institute Bochum. Online-Musikpädagogik und Online-Musizieren bewegen sich also langsam, aber sicher aus dem solitären Verantwortungs- und Gestaltungsbereich der Musik heraus.

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