In der aktuellen Diskussion um Hochschulstandorte werden immer wieder die Statistiken frei werdender Orchesterstellen bemüht, um Kürzungen von Hochschuletats zu rechtfertigen (vgl. nmz 09/13). Den Bedarf und den Erfolg der musikalischen Ausbildung in festen Stelleneinheiten zu rechnen, entspricht ebenso wenig der vielfältigen Berufsrealität von Musikern, wie den Bedürfnissen der Gesellschaft.
Alles, was für die kulturelle Bildung getan wird, ist eine kluge und unverzichtbare Investition in die Zukunft unseres Gemeinwesens“, sagt Bernd Neumann am 17. September 2013 bei der Verleihung des Preises für kulturelle Bildung. „Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur sind für jeden Menschen von prägender Bedeutung“, heißt es auf der Homepage der Bundesregierung. Wenn die Frage nach dem „Wie viel“ in Bezug auf Musikhochschulen gestellt wird, muss daher die Frage lauten: Wie viele Musiker befähigen wir dazu, Musik in die Gesellschaft hineinzutragen?
Damit eine Begegnung und Auseinandersetzung mit Musik in der Gesellschaft stattfinden kann, ist eine neue Vielfalt im musikalischen Angebot erforderlich. Eine Vielfalt, die der Vielfalt innerhalb der Gesellschaft entspricht. Die deutsche Orchesterkultur ist eine Möglichkeit der Begegnung. Sie genießt Weltreputation, lockt zahlreiche große internationale Dirigenten- und Solistenpersönlichkeiten an und ist eine kulturelle Leistung, die über Jahrhunderte aufgebaut wurde. Dass diese Qualität eine „ausreichende Quantität in der musikalischen Ausübung benötigt“, ist bekannt, „je breiter die musikalische Basis, je solider das Fundament, desto stabiler auch die Spitze dieser kulturellen Pyramide“ (www.deutschland.de). Spitzenleistungen sind eine künstlerische Notwendigkeit.
Vielfalt fördern
Gesellschaftliche Vielfalt ist Realität, Pop & Klassik, Ethno & und Interkultur fächern das kulturelle Feld vielseitig auf. Neue Ideen sind gefragt, um eine Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zu ermöglichen. Eine der wichtigsten Aufgaben für zukünftige Musiker wird es sein, eine Vielfalt musikalischer Begegnungsformen zu schaffen. Die Fähigkeiten dazu können Musikhochschulen zusätzlich zur künstlerischen Exzellenz ihren Studierenden vermitteln, wenn sie selbst genügend Spielraum für das Umsetzen von Innovation in der Lehre haben.
Viele Spitzenbegabungen streben eine feste Stelle im Orchester gar nicht mehr an, sondern ziehen eine Karriere als selbstständige Musiker im Kontext Neuer Musikensembles oder Kammermusikensembles vor. Daneben gibt es zahlreiche weitere Möglichkeiten, Musik in die Gesellschaft hineinzutragen. Immer mehr Musikstudierende gehen neue Wege und verbinden die Themen künstlerische Exzellenz und kulturelle Bildung. Drei Beispiele seien in Stichpunkten genannt:
Der „TONALI Grand Prix“: Zwei Cellisten der HfMT Hamburg erfinden den Wettbewerb neu. Mit innovativen Audience-Delevopmentstrategien bringen sie ganze Schulklassen in die Konzertsäle zum Mitabstimmen und Mitfiebern. Ein Dokumentarfilm über den Wettbewerb zeigt im Kino, welchen Weg die jungen Wettbewerbsteilnehmer gehen. TONALI begeistert ein ganz neues Publikum für die klassische Musik.
Steven Walter, Cellist, erneuert zusammen mit Kommilitonen die Festivallandschaft mit dem PODIUM-Festival in Esslingen. Neue Konzertformate, innovative Organisationsstruktur, Nutzung der Sozialen Netzwerke – ein Festival, das von sich reden macht, neue Formen der Begegnung schafft, Konzertmöglichkeiten für Musiker generiert und bereits mehrere Auszeichnungen erhalten hat.
Das Projekt „Musiker ohne Grenzen“, von Schulmusikern der HfMT Hamburg gegründet, baut Musikschulen an sozialen Brennpunkten in- und außerhalb Deutschlands auf und schafft Begegnungsorte für kulturelle Teilhabe. „Spielend Perspektiven schaffen. Mit Musik“ ist der Slogan. Das Projekt wurde als Bundessieger des startsocial-Wettbewerbs im Mai 2013 ins Bundeskanzleramt eingeladen.
Potenziale erkennen
Was haben die drei Projekte gemeinsam? Sie werden von Musikerinnen und Musikern entwickelt und umgesetzt und tragen überdurchschnittlich viel Musik in die Gesellschaft. Neben dem fachlichen Knowhow bringen Künstler ein hohes Maß an intrinsischer Motivation und eine hohe Identifikation mit der Musik mit, die solch innovative Projekte entstehen lassen. Musikhochschulen berichten viel zu wenig über solche Projekte. Pressemitteilungen beinhalten fast ausschließlich die Nachricht über 1. Preise von Wettbewerbsteilnehmern, Aushängeschilder sind Solistenkarrieren. Sie definieren und prägen einen sehr klassischen Karrierebegriff und das klassische Exzellenzverständnis. Diese Fokussierung wird dem Potenzial, das Studierende mitbringen, nicht gerecht. Die Innovationen, die die Gesellschaft benötigt, werden von den jetzigen Studierenden kommen. Das „System Hochschule“ kann sie dabei unterstützen, wenn ihre Finanzierung nicht von „Orchesterstellen“ abhängig gemacht wird, sondern Möglichkeiten für Erneuerung geschaffen werden.
Neue Anerkennungskultur
Eine Enthierarchisierung des Karrierebegriffs ist erforderlich, bestehende Anerkennungssysteme innerhalb der Hochschulen müssen erneuert werden und neue Vorbilder können den Studierenden an den Hochschulen andere Wege aufzeigen. Auch können neue Kriterien für Wettbewerbe und Stipendien frische Akzente setzen: Das Career Center der HfMT Hamburg hat einen „Wettbewerb der Konzertideen“ konzipiert, in dem das Entwickeln und Umsetzen eines Konzertkonzeptes im Vordergrund steht. Nicht das reine Musizieren, sondern die konzeptionelle Entwicklung wird mitbeurteilt und in einer einsemestrigen Coachingphase von Gastreferenten, darunter Katrin Zagrosek und Steven Walter, begleitet. Ziel ist es, Schlüsselkompetenzen zu fördern, die im Berufsleben relevant sind, und Raum für neue Ideen zu geben. Drittmittel der Alfred Toepfer-Stiftung F.V.S. und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ermöglichen die Umsetzung des Wettbewerbs, der gleichzeitig ein Unterrichtsformat ist. Öffentliche Konzerte ermöglichen dann eine Auseinandersetzung mit den neuen Ideen.
Martina Kurth, Leitung Career Center der HFMT Hamburg