In der Welt der Musikausbildung ist in den vergangenen Jahren einiges in Bewegung geraten. Mit der Bologna-Reform und der damit verbundenen Umstellung auf das Bachelor-Master-System musste grundsätzlich neu über das Studium nachgedacht werden, nicht nur in Struktur und Ausrichtung, sondern genauso über seine Inhalte. Studierende haben seitdem vor allem mehr individuellen Auswahl- und Gestaltungsspielraum als je zuvor, mit dem umzugehen jedoch noch gelernt wird, und zwar auf beiden Seiten.
Ende März haben sich im Berliner Radialsystem 80 Vertreter von Musikhochschulen, aus der Musikindustrie, der Forschung und Lehre und junge Musiker getroffen, um eines der all-aktuellen Themen auf den Tisch zu hieven, die in dieser Konstellation lange Zeit nicht mehr diskutiert wurden – eine Frage, die vielleicht provokant wirken mag, dabei aber umso konstruktiver sein kann: „Was ist die Kunst an der Musik?“ Beziehungsweise: Wie lässt sich künstlerisches Potenzial im Musikstudium und im Musikbusiness bestmöglich entfalten? Wann ist ein Musiker ein Künstler, ein schöpferisches Individuum – und wann ist er es vielleicht nicht? Das Symposium war die Auftaktveranstaltung zum letzten Seminar des einjährigen Fachprogramms Musik des Bündnisses „Lehren“, bei dem Mitarbeiter von Hochschulen, Rektoren und künstlerisch Lehrende eigene Projekte entwickeln, um ihrer „Verantwortung für die Absolventen und deren veränderten beruflichen Perspektiven besser gerecht“ zu werden, wie es auf der Webseite heißt. Dieses Symposium war aber auch ein Anlass, in großer Runde mal über das ganz Grundsätzliche zu reden. Und das war an der Zeit.
Organisiert hatte den Kongress die Koordinatorin des Fachprogramms, Esther Bishop, die sich mit der Frage nach der „Kunst an der Musik“ in ihrer Forschung schon länger beschäftigt. Dabei geht es jedoch nicht darum – und das war auch in Berlin schnell klar –, der Interpretation in der Klassik ihren Kunstwert abzusprechen, sondern um ein anderes Problem mit ganz realen Folgen. Die Studierenden der ersten Bachelor-Master-Jahrgänge nämlich, diejenigen, die als erste, zweite und dritte dieses neu strukturierte Studium absolviert haben, stellen offenbar eine Diskrepanz fest zwischen dem, was sie im Studium gelernt haben, und den Kompetenzen, die sie danach gebraucht hätten und brauchen, um als Künstler in der Berufswelt Fuß zu fassen. Diese Kompetenzen sind vielfältig: Selbstmanagement gehört dazu, das führte Stefan Piendl, Geschäftsführer des Deutschen Musikrats, in seinem Vortrag aus, außerdem Kommunikations-Skills, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und vielleicht auch einfach die Wahrnehmung seiner selbst als „Künstlerpersönlichkeit“, die in der Welt eine Relevanz und einen Platz hat.
Tatsächlich sind Absolventinnen von Musikstudiengängen nach ihrem Studium nämlich bei weitem nicht nur musikalisch tätig, sondern – wie unter anderem Magdalena Bork schon bei der Jahrestagung des Netzwerks Musikhochschulen im Jahr 2017 herausstellte – „kreativ, arrangierend, komponierend, vielfältigst kommunizierend, improvisierend, lehrend, leitend und auch gründend“. Die Mehrheit der Absolventen arbeite mittlerweile nach ihrem Studium freiberuflich und brauche dort solche „Leadership“-Kompetenzen besonders.
Dazu, wie man diese Kompetenzen fördern könnte, gab es in Berlin von den Referenten Ideen, auch aus ihren Projekten. Dabei ging es unter anderem um eine neue Form des instrumentalen Übens (wie Andreas Burzik zeigte), um einen forschenden Blick auf die Didaktik der künstlerischen Hochschullehre (ein Projekt der spanischen Professorin Guadalupe López-Íniguez) oder auch um die gängigen Bewertungskriterien bei Aufnahmeprüfungen, Probespielen und Wettbewerben (die, wenig überraschend, zum Teil sehr unscharf sind, wie Dr. Rosa Reitsamer herausstellte). „Die Kunst an der Musik“ – das mögen manche ganz grundlegend-philosophisch auslegen. Doch das Berufsorientiert-Praktische ist am Ende der Bereich, in dem es um Konsequenzen geht, um strukturelles Umdenken und die Veränderung des eigenen Handelns, und zwar für alle: Hochschulen genau wie Musiker, Wissenschaftler genau wie Praktiker. Da beginnt es schnell zu knirschen.
In einem Punkt waren sich immerhin alle einig: An Musikhochschulen gezielt für einen bestimmten Beruf oder Berufszweig auszubilden, das würde in die falsche Richtung führen. „Musikhochschulen sind keine Berufsfachschulen“, sagte beispielsweise Susanne Rode-Breymann, Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, in ihrem Vortrag am Abend. Denn damit Kunst überhaupt existieren könne, brauche sie Freiraum „für die Entwicklung individuellen Potenzials“, der eben auch ermögliche, Wege einzuschlagen, die vorher niemand auf dem Schirm hatte.
Dieses Plädoyer fürs nicht geradlinige Studieren traf zunächst auf große Resonanz. Doch war eine zentrale Frage am Ende noch immer nicht beantwortet: „Was ist denn nun mit dem Übergang zwischen Studium und Berufsleben?“, fragte Toni Ming Geiger, einer der anwesenden jungen Musiker. Er finde, die Musikhochschulen müssten ihre Studierenden in diesem Punkt noch mehr unterstützen, „weil viele auch einfach zu jung und zu unerfahren sind, um zu bewältigen, was auf sie zukommt.“ Ein heikler Punkt.
Denn hier sprechen zwar die Erfahrungen einzelner und ihrer Bekannten, in bestimmten Szenen ist diese Perspektive unter jungen Musikern durchaus sehr verbreitet. Doch gibt es zu dem Thema nach wie vor keine Langzeitstudien, die das Problem konkreter abbilden könnten. Dass die Hochschulen die Kritik also nicht ohne Nachfrage eins zu eins übernehmen wollen, ist zunächst einmal nachvollziehbar, doch wird dadurch die Kritik nicht leiser. Immerhin konnten die Vortragenden den skeptischen Absolventinnen durch ihre Präsentationen versuchen zu vermitteln: Es wird dran gearbeitet. Man debattiert, entwickelt, gibt sich Mühe, und noch einmal: man debattiert. Doch, und das ist bei komplex organisierten Institutionen wie Hochschulen leider so, dauert es, bis wirkliche Veränderungen spürbar sind. Und das mitunter lange.
Nach und nach könnte durch Zusammentreffen wie diese vielleicht immerhin schon einmal das Eis zwischen Industrie und Hochschulleitung, zwischen Industrie und Alumni und zwischen Hochschulleitung und Studierenden zu brechen beginnen. Als ein erster kleiner Schritt. Der Prozess hat aber gerade erst angefangen.