In Birmingham lernt Amy Harman das Fliegen. Vor und zurück, hin und her, hinauf und hinunter – quer durch eine Industriehalle. Um sie herum schweben elf Kolleginnen mit ihren Instrumenten. Für Karlheinz Stockhausen, den 2007 verstorbenen Visionär des Musiktheaters, sind es „Finalisten“, die sich um eine Orchesterstelle bewerben. In seiner Oper „Mittwoch aus Licht“ spielt das Element Luft eine zentrale Rolle. Erst 2012 wird dieses Werk uraufgeführt, schwer zu finanzieren, da auch der Einsatz von vier Helikoptern nötig ist. Amy Harman ist damals dabei. „Manchmal erinnere ich mich und denke, habe ich das nur geträumt?“, sagt sie perplex. „Haben wir wirklich in 50 Metern Höhe gespielt? Da war nur ein schmaler Metallbalken mit Ketten, die an meinem Instrument befestigt waren. Und wir mussten 45 Minuten aus dem Gedächtnis spielen. Das hat Monate gedauert, mich darauf vorzubereiten. Aber ich habe es geliebt.“
Ein Faible für Höhenflüge
Die neue Professorin für Fagott an der Robert Schumann Hochschule ist eine waschechte Londonerin aus Crystal Palace, einem Stadtteil im Süden, bekannt für einen Fußballverein. Ihre Eltern, Politiker, waren nie besonders interessiert an den Künsten. Doch Amy war anders. „Schon als Kind war ich sicher, dass ich Musik liebe. Da war ich drei oder vier Jahre alt. Meine Eltern waren irritiert, aber sie ließen mich machen und vertrauten mir.“ Ihre Liebe zur Musik sprudelt aus ihr heraus, und sie hat eine Vorliebe für Instrumente mit tiefen Tönen. Zunächst ist sie von der Bassklarinette fasziniert. Doch die kann man nur lernen, wenn man alle anderen Klarinetteninstrumente gleich mit dazu nimmt. Über den Kontrabass (für den sie am Ende doch zu schmale Hände hat) kommt sie zum Cello, das ihr Hauptinstrument wird, bis sie 18 Jahre alt ist. „Du brauchst Menschen, die dir helfen. Ich wollte alles kennenlernen.“ Nach dem Studium an der Royal Academy of Music wird Harman 2011 erste Fagottistin beim renommierten Philharmonia Orchestra.
Harman kennt das Klischee um das Fagott, das oft als komisch und grummelig wahrgenommen wird, etwa wie der Großvater in Prokofjews „Peter und der Wolf“. Sie hat das Instrument jedoch anders erlebt. „Wenn man sieht, was Mozart für das Fagott geschrieben hat, fühle ich mich wie eine Solistin.“ Lyrische Passagen in Mozarts Opern oder melancholische Soli bei Tschaikowsky bestärken dieses Gefühl. Bei Schostakowitsch hat das Fagott fast schon irritierend melodische Kompositionen hervorgebracht. „Das Fagott ist der Poet im Orchester, nicht der Komiker. Wenn wir es lernen, wie ein Poet zu spielen, verfeinern wir den Klang und zeigen den wahren Charakter dieses Instruments.“ Solokonzerte für Fagott sind rar, außer den Werken von Vivaldi. Von Mozarts drei Fagottkonzerten hat nur eines überdauert. Im 20. und 21. Jahrhundert schreiben Komponisten wieder vermehrt für das Fagott, oft zugeschnitten auf die Ausführenden, wie bei dem Konzert, das Roxanna Panufnik für Harman schrieb.
Im Bereich Kammermusik gibt es mehr Fagott-Repertoire. Harman war zehn Jahre Mitglied beim britischen Ensemble 360, wo man in kleiner Besetzung diverse Werke realisieren kann. „Kammermusik lehrt dich, eine gute Kollegin zu sein, zuzuhören und immer präsent zu sein. Dieses Wissen ist auch im Orchester wichtig.“
Was das Unterrichten betrifft, entwickelt Harman ständig neue Ideen. Nach elf Jahren an der Royal Academy of Music erfüllt sich jetzt ihr Traum. Sie wird zur fliegenden Fagottistin im Auftrag der Robert Schumann Hochschule. Jedes Semester reist sie nach Düsseldorf. Während sie weg ist, kümmern sich Verwandte in London um ihre drei Kinder. Ihr Ziel ist es, zur Schlafenszeit zurück zu sein. Ihr Jonglieren mit Familie und Unterricht ist ein Drahtseilakt, den sie jedoch meistern möchte. „Deutschland ist ein Mekka für Fagottisten. Hier werden die besten Instrumente gebaut und die besten Musiker arbeiten.“
Harman reißt alle mit ihrer Begeisterung für Musik mit. Sie plant Aktivitäten über den normalen Unterricht hinaus, etwa Probespielabende, bei denen alle vorspielen müssen. „So etwas liebe ich. Wir lernen so viel voneinander.“ Eine weitere Idee sind Tonleitern auf ihrem Handy, die per Zufall ausgewählt werden. „Am Ende müssen meine Studierenden alles können und lieben, was ihr Instrument bietet. Ich will, dass sie selbstbewusst zu Vorspielen gehen und gewinnen.“
Amy Harman ist damit am Ziel ihrer Wünsche. Auf das Nach-Brexit-England ist sie nicht mehr angewiesen. Hier streicht man öffentliche Gelder, lässt Orchester zugrunde gehen und Musiker:innen am langen Arm verhungern, erzählt sie. Amy Harman hat Glück, sie ist halbe Irin, Bürgerin der EU und kann im Ausland dauerhaft arbeiten. „In Deutschland herrscht eine ganz andere Kultur. Wenn ich am Flughafen Düsseldorf bin, scannen sie meinen Instrumentenkoffer. Sie fragen mich, was da drin ist, und ich sage es ihnen. Und sie wissen, was das ist, ein Fagott! Die Künste sind eben hier sehr lebendig.“
- Share by mail
Share on