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Originale Klaviatur (oben) und  6.0-Klaviatur (unten). Foto: Steingraeber
Originale Klaviatur (oben) und 6.0-Klaviatur (unten). Foto: Steingraeber
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Ein Flügel, der Hände wachsen lässt

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Nürnberger Musikhochschule hat jetzt Steinway mit Sirius 6.0-Klaviatur
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Seit Anfang Februar verfügt die Hochschule für Musik Nürnberg über einen Flügel mit einer Klaviatur mit verkleinerter Mensur. Oktaven sind im Vergleich zur Norm zirka eine halbe Taste schmaler. Pianist*innen mit kleineren Händen dürfen sich freuen, dass auf diesem Instrument Literatur spielbar wird, die ihnen auf der Normklaviatur verwehrt bleibt oder nur unter Anstrengungen gelingt.

Ulrich Hench, Professor für Klavierpädagogik an der Hochschule für Musik Nürnberg, ist das Thema schon seit vielen Jahren ein Anliegen, und so freute er sich, als es auch bei der Hochschulleitung auf offene Ohren stieß: „Mit der Bereitstellung eines Flügels mit 6.0-Klaviatur leistet die Hochschule für Musik Nürnberg einen wichtigen und wegweisenden Beitrag zur Chancengleichheit und zur Musiker*innen-Gesundheit“.

„Das 19. Jahrhundert kann man auch als Klavierjahrhundert ansehen. Es gab immer mehr Virtuosen, immer mehr Reisetätigkeit und damit auch den Bedarf, uniformer zu werden. Es wurde beispielsweise die Anzahl der Pedale von sechs auf drei reduziert und die Anzahl der Tasten zunächst auf 85 und dann auf 88 vergrößert. All das war dem Erfolg geschuldet, dass die großen Konzertsäle etwa gleich ausgestattet waren“, erläutert Udo Schmidt-Steingraeber, Leiter der Klaviermanufaktur Steingraeber in Bayreuth.

Normierung nicht ideal

Während wir nun seit ungefähr 1880 auf Klavieren und Flügeln eine genormte Tastaturgröße vorfinden, hatte in der Zeit davor jeder Klavierhersteller durchaus eigene Klaviaturmensuren. Mal ein bisschen breiter, mal ein bisschen schmaler. Für Pianist*innen war es selbstverständlich, sich neben den klanglichen Unterschieden immer auch auf verschiedene Tastengrößen einstellen zu müssen. Eines war allerdings den meisten historischen Instrumenten gemeinsam: Im Allgemeinen waren die Tasten etwas schmaler als auf der heutigen Normklaviatur. Das heißt, dass Beethoven, Schumann, Chopin, der junge Liszt und viele andere ihre Werke an einer kleineren Tastatur komponiert haben. Viele Faktoren führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich zu einer Normierung. Man kann nicht mit Gewissheit sagen, warum gerade auf die heutige Größe von 6.5 Zoll (ca. 16,5 cm) pro Oktave.

Was sich über die Dauer fast eines ganzen Jahrhunderts zunächst als äußerst praktisch bewährte, gerät heute zunehmend in die Kritik. Längst ist statistisch belegt, dass die Normklaviatur für viele Pianist*innen zu groß ist, um das gesamte Repertoire, das sie gerne spielen würden, nach bestem musikalischem Können auszuführen. Frauen haben im Durchschnitt kleinere Hände als Männer, Menschen asiatischer Herkunft im Schnitt eine geringere Spannweite, hochbegabte Kinder und Jugendliche kleinere Hände als Erwachsene, aber auch viele Männer haben kleinere Hände. Daniel Barenboim ist nicht der erste, der einen Flügel spielt, bei dem Oktaven um ca. 7 mm schmaler sind. Schon Josef Hofmann ließ sich seiner Zeit (1911) einen Flügel mit einer 5mm pro Oktave kleineren Mensur bauen. Zwar gibt es zahlreiche professionelle Möglichkeiten, auch mit kleineren Händen auf der Normklaviatur zurecht zu kommen, trotzdem sind häufig Einschränkungen im Repertoire oder gar Überlastungssyndrome die Folge.

Wunsch nach kleineren Klaviaturen

Was in den USA vor über zwanzig Jahren mit den Bemühungen von Christopher Donison und David Steinbuhler begann, hat sich in der Zwischenzeit weltweit verbreitet: Der Wunsch nach Verfügbarkeit kleinerer Tastaturen, und zwar auf allen Ebenen, in Konzertsälen, bei internationalen Wettbewerben, in der Ausbildung an Hochschulen, in Musikschulen und zu Hause. Steinbuhler-Klaviaturen mit 6.0- und 5.5-Mensuren (entspricht ca. 15,2 cm bzw. 14 cm pro Oktave) sind an etlichen amerikanischen Universitäten bereits vorhanden. In Europa war die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart das erste Ausbildungsinstitut, das über einen Flügel mit einer Oktavbreite von 6.0 Zoll verfügte. Seit 2020 widmet sich die „Zukunftsinitiative Sirius 6.0“ der HMDK Stuttgart der Verbreitung und Weiterentwicklung von Klaviaturen mit verkleinerter Mensur. Leiterin der Stuttgarter Initiative ist Prof. Ulrike Wohlwender: „Es ist großartig, wie sich die HfM Nürnberg unter der Leitung von Prof. Ulrich Hench so beherzt unserer Zukunftsinitiative Sirius 6.0 angeschlossen hat. Wir freuen uns sehr, dass die Mensur des Stuttgarter Prototyps Sirius 6.0 exakt übernommen wurde und dass Pianist*innen nun auch in Nürnberg erleben können, wie ihre Hände um 12 mm pro Oktave ‚wachsen‘.“

Erste Erfahrungen zeigen, dass nicht nur Pia­nist*innen mit kleineren Händen profitieren. Auch Musiker*innen mit mittleren und größeren Händen berichten von angenehm entspanntem Spiel, kleineren Bewegungen und leichterer Klanggestaltung bei großen Griffen. „I realized that my sound had changed because there was no tension in my hand anymore”, erläutert Prof. Dr. Aurelia Visovan, Professorin für Klavier an der Hochschule für Musik Nürnberg, nachdem sie eine halbe Stunde auf dem Stuttgarter Sirius 6.0 gespielt hatte.

Ganz im Sinne eines differenziellen Lernens und Übens kann man von solchen neuen Erfahrungen nur profitieren. Die Umstellung von einer Tastaturgröße auf eine andere dauert nur wenige Minuten. Niemand braucht sich sorgen, Stücke auf einer Normklaviatur nicht mehr gut spielen zu können, wenn sie erfolgreich an einer 6.0-Klaviatur geübt wurden. Im Gegenteil: Viele Pianist*innen berichten, dass sie auf der Normklaviatur besser spielen, nachdem sie auf der Sirius 6.0-Klaviatur geübt haben.

Der Flügel in Nürnberg steht allen Lehrenden und Studierenden zur Verfügung. „Schon in den ersten Wochen zeigte sich, dass das Interesse an der Sirius 6.0 Klaviatur unter den Hochschulangehörigen sehr groß ist. Jetzt bin ich sehr gespannt, wie die Evaluation der Klaviatur ausfallen wird.“, so Prof. Hench, der mittels Online-Fragebogen die Spielerfahrungen abfragt.

Die Hochschule für Musik Nürnberg traf im vergangenen Jahr die Entscheidung, dass ein Steinway-Flügel aus den 60er Jahren, bei dem ohnehin eine Generalüberholung anstand, eine schmalere Tastatur erhalten sollte. Die Klaviermanufaktur Steingraeber in Bayreuth übernahm diese Arbeiten, bei der die neue Klaviatur an die bestehende Mechanik aufwändig angepasst werden musste. Die Umbauzeit nahm etwa neun Monate in Anspruch.

Prof. Ulrich Hench, Katja Kries

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