Hannover - Musik kann möglicherweise auch bei der Therapie von Patienten mit Schlaganfällen eine heilsame Wirkung entfalten. Wissenschaftler des Institutes für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover um Professor Eckart Altenmüller bringen Betroffenen bei, mit kleinsten Armbewegungen Melodien zu erzeugen. «Mit neurologischer Musiktherapie wollen wir die Rehabilitation motivieren und erleichtern», sagt Altenmüller im Interview der Deutschen Presse- Agentur. Darin spricht er auch über musikalische Gänsehautgefühle und den Sinn von Klassik-CDs für Ungeborene.
Interview: Jörg Schurig
Frage: Wie wichtig ist Musik als emotionale Komponente im Leben?
Antwort: Musik ist eine der großen Möglichkeiten, Bindungen und Verbindungen mit Menschen herzustellen. Das gehört mit zu unserer genetischen Ausstattung. Musik ist so ein untrennbarer Teil des Menschen. Da muss man gar nicht groß argumentieren.
Frage: Warum kann Musik Gänsehaut verursachen?
Antwort: Das ist ein in der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Säugetiere herausgebildeter Reflex. Er hängt ursprünglich mit der Wärmeregulation zusammen - daraus folgt die Gänsehaut. Offensichtlich hat sich der Reflex auf das Akustische übertragen. Der Mensch will so innere Wärme herstellen, Nähe und Verbundenheit mit anderen programmieren. Um eine Gänsehaut zu bekommen, muss die Musik interessant sein, einen Strukturwechsel haben und Neues enthalten.
Frage: Stellt sich Gänsehaut nicht auch bei besonders vertrauten Klängen ein?
Antwort: Ja. Das ist mit individuellen Erfahrungen verbunden. Wenn ich in der Dresdner Kreuzkirche die Matthäus-Passion höre, habe ich eine völlig andere emotionale Bereitschaft zur Gänsehaut, als wenn ich diese Musik in irgendeinem Zweckbau erlebe. Das Musikerlebnis hängt mit Erwartungen zusammen, die bei mir programmiert sind. Häufig sorgt Musik, die man liebt, für Gänsehaut - auch die Musik eines Instrumentes, das man besonders mag, oder die menschliche Stimme. Sie ist wegen der Kommunikation das mächtigste emotionale Instrument.
Frage: Wie gut sind die mit Musik verbundenen Abläufe im Hirn ergründet?
Antwort: Die Verarbeitung der Musik ist relativ gut ermittelt. Wir wissen auch, wie komplizierte Bewegungen programmiert werden. Und wir haben Veränderungen, die durch das Musizieren im Gehirn entstehen, gut beschrieben. Eine Herausforderung ist und bleibt, dass jedes Hirn Musik anders hört und jedes Hirn Musik auch anders macht. Es gibt große individuelle Unterschiede, und das hängt ganz stark mit der eigenen Lebensgeschichte zusammen. Wenn ich als Flötist einen anderen Flötisten höre, dann funktioniert mein Gehirn anders als das eines Nicht-Flötisten beim Hören des gleichen Stückes.
Frage: Was lässt sich über unterschiedliche Musikalität sagen?
Antwort: Wir haben Strukturveränderungen des Gehirns im Zusammenhang mit dem Musizieren festgestellt. Zum Beispiel werden die Handregionen des Gehirns größer. Sie sind aber nur dann sichtbar, wenn man relativ spät mit dem Musizieren beginnt - so ab dem siebten Lebensjahr. Wer früher anfängt, hat gewissermaßen schon ein hochoptimiertes Gehirn, das mit der Vernetzung all das schafft, was man später erst durch Nervenmasse erreichen kann.
Frage: An welchen Themen forschen Sie gerade in Hannover?
Antwort: Wir möchten Musik in der neurologischen Rehabilitation einsetzen. Wir haben ein sogenanntes Verklanglichungsprojekt, das von der Hertie-Stiftung gefördert wird. Die Patienten bekommen Sensoren, die die Position des Armes in Klänge umsetzen. Geschwächte oder gelähmte Patienten können so mit Armbewegungen musizieren. Wir bringen ihnen bei, bestimmte Melodien mit dem Arm zu spielen. Mit neurologischer Musiktherapie wollen wir die Rehabilitation motivieren und erleichtern. Außerdem beschäftigt uns die Musikerdystonie, bei der Musiker ihre Bewegungen nicht mehr beherrschen können. Da haben wir mit dem Einsatz von Strom Erfolge erzielt. Wir können das Gehirn stimulieren, dass Bewegungen neu und schneller programmiert werden.
Frage: Was halten Sie von Klassik-CDs für noch ungeborene Kinder?
Antwort: Das sehe ich kritisch. Die Stimme der Mutter wird vom Kind ab der 21. Schwangerschaftswoche gehört und prägt das Gehirn mit. Das erklärt auch, dass Neugeborene auf die mütterliche Stimme von Anfang an mit Vorliebe reagieren. Aber Musik von Richard Wagner muss nicht sein. Denn wenn es zu laut wird, fängt das Kind zu strampeln an.
ZUR PERSON: Professor Eckart Altenmüller (58) gehört zu den führenden Vertretern der Musikmedizin in Deutschland. In Hannover baute er eine Spezialambulanz für Musiker-Erkrankungen auf. Altenmüller studierte in Tübingen und Paris Medizin, später in Freiburg auch Musik mit dem Hauptfach Querflöte.