Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen beschäftigt sich die junge Fachdisziplin „Musikgeragogik“ erfolgreich mit musikalischer Bildung im Alter sowie mit musikbezogenen Vermittlungs- und Aneignungsprozessen. Zum Musizieren älterer Laien in kleineren Besetzungen liegen jedoch noch wenige Erkenntnisse vor. Um diese Lücke zu schließen, konzipierte die Abteilung Instrumental- und Gesangspädagogik der Hochschule für Musik Detmold unter Leitung von Prof. Reinhild Spiekermann vom 6. bis 8. November 2015 deshalb ein mehrteiliges Projekt, das der Fragestellung nachgehen sollte, wie kammermusikalisches Musizieren von Amateuren im Alter von 55 Jahren und älter („55+“) praktiziert wird.
Eingebettet war das Vorhaben in eine wissenschaftliche Studie. Neben wissenschaftlichem Forschungsinteresse sollte es eine Chance sein, IGP-Studierenden praktische Erfahrungen in einem musikgeragogischen Tätigkeitsfeld zu ermöglichen. Zwei Leitgedanken sollten im bundesweit beworbenen Begegnungswochenende verwirklicht werden: „Ältere treffen Jüngere“ bzw. „Laien treffen Profis“. Konzeptionelle Idee war, in den sich ergebenden kammermusikalischen Formationen jeweils Laienmusizierende und Profis zusammenspielen zu lassen, den Profis dabei zusätzlich zur Rolle des Spielpartners auch die musikalische Anleitung zu übertragen. So sollte am Ende eines zeitlich eng begrenzten Wochenendes ein Produkt der gemeinsamen Arbeit, eine Aufführung, stehen.
Das Musizier- und Begegnungswochenende wandte sich an Klavierspieler, Musizierende mit Melodieinstrumenten und Sänger. Die begleitende Studie umfasste sowohl eine Erhebung per Fragebogen als auch leitfadengestützte Interviews. Das Ausfüllen des Fragenbogens wurde als verpflichtender Bestandteil des Wochenendes vorgegeben, die Mitwirkung an einem Interview freigestellt. Der praktische Bereich offerierte, modular kombinierbar, folgende Bestandteile: Duoproben Melodieins-trument, Duoproben Gesang, Vierhändigproben Klavier, „Klavierorchester“ sowie Workshops zur Improvisation und Bodypercussion. Hierzu gab es im Werbeflyer Kurztexte, um die Inhalte der Teilmodule zu umreißen.
In Reaktion auf die höchst unterschiedliche Modulwahl der Teilnehmenden wurde das Angebot nachträglich ergänzt um die Workshops „Bühnenpräsenz und Auftrittstraining” bzw. „Umgang mit der Stimme“. Diese Workshops standen Sängern und Instrumentalisten gleichermaßen offen. Somit konnte erreicht werden, dass für bestimmte Teilnehmer nicht zu viele Pausen entstanden und die zur Verfügung stehende Zeit optimal genutzt werden konnte. Auch wenn größere kammermusikalische Besetzungen aus Gründen der Praktikabilität nicht vorgesehen waren, fragten einzelne Teilnehmer danach. Nachdem der Teilnehmerkreis endgültig festlag, wurden auch Trio-Besetzungen im Vorfeld organisiert, die betroffenen Amateure kamen somit vorab schon in Kontakt. Spontan ergaben sich vor Ort weitere Formationen.
In der Werbephase stellte sich heraus, dass viele Interessierte nicht in das konkrete Projektformat passten. Viele Musikliebhaber suchten nach Schnupperangeboten, andere nach Instrumenten, die nicht vorgesehen waren. Überdurchschnittlich viele Laien kamen aus der Chorszene und suchten ausschließlich nach Stimmbildungsunterricht. Die hohe Gesamtzahl an Bewerbern aus dem Bereich Gesang führte zu einer langen Warteliste für Sänger, da eine ausgewogene Verteilung der Instrumente untereinander für alle Projektbestandteile Voraussetzung war. Andere reagierten so spontan auf das Angebot, dass ihr Anliegen erst in einem Telefonat klarer wurde. Hierbei gab es etliche Autodidakten, von denen manche auf andere Bildungsangebote verwiesen werden mussten. Auffällig war ein hohes Informationsdefizit, welche Bildungsangebote überhaupt existieren.
Insgesamt 25 Amateuren mit sehr unterschiedlichen instrumentalen Biografien (kontinuierlich Spielende, Wiedereinsteiger, Anfänger oder Instrumentenwechsler) konnte eine Teilnahme bestätigt werden. Vertreten waren die Instrumente Violine, Viola, Trompete, Querflöte, Klarinette, Fagott, Blockflöte, Gambe, Klavier und Gesang. Mehrere Teilnehmer gaben sogar weitere Zweit- bis Viertinstrumente an. Mit einem Team aus 19 Studierenden und 3 Kollegen wurden am Freitag und Samstag 85 (!) Unterrichts- bzw. Workshopeinheiten und 20 leitfadengestützte Interviews in einem hochkomplexen Muster von Raum-, Konstellations- und Lehrpersonenwechsel durchgeführt. Der Sonntag bestand aus Generalproben und einem zweieinhalbstündigen Abschlusskonzert, weil überraschenderweise 23 Mitwirkende auftreten wollten.
Da alle Mitwirkenden mit der angekündigten Medienpräsenz einverstanden waren, konnte zwei Journalistinnen erlaubt werden, für ihre Reportagen Material zu sammeln. Um möglichst wenig Störungen im Workshopablauf zu produzieren, wurden einzelne Teilnehmer vorab bestimmt und informiert, dass in ihrem Unterricht gefilmt wird. Zusätzlich stellten sich einige Teilnehmer den Medienvertretern auch für ein kurzes Interview zur Verfügung. So entstand für WDR 3 „Tonart“ ein Radiofeature über das Gesamtprojekt. Eine Fernsehjournalistin des WDR erarbeitete ein Skript mit anderem Schwerpunkt, indem sie eine Anfängerin im Instrumentalspiel als Protagonistin festlegte und ihren Weg durch das Projektwochenende nachzeichnete. Dieser Beitrag wurde in der Sendung „Lokalzeit“, Studio Bielefeld, ausgestrahlt. Eine hochschuleigene Dokumentation findet sich unter bit.ly/1ZhMXWs
Während die zeitintensive Auswertung der Interviews noch einige Wochen in Anspruch nehmen wird, liegen zur Erhebung per Fragebogen erste Erkenntnisse vor. Der Fragebogen umfasste acht Themenkomplexe. Nach Angaben zum Verlauf des eigenen Instrumentalspiels (Beginn, Dauer, Ins-trumentenwechsel, Unterbrechungen etc.) wurde gefragt, ob die Teilnehmenden aktuell Instrumentalunterricht haben und welche Rolle bei ausgeprägtem Kammermusizieren der Instrumentalunterricht überhaupt spielt. Ferner ging es um die Bedeutung des gemeinsamen Musizierens in kleineren Formationen, auch in Abgrenzung zur Bedeutung des Mitwirkens in Chören oder Orchestern. Wie kammermusikalische Formen im Unterricht behandelt werden, welche inhaltliche Vernetzung hinsichtlich der Literatur existiert, ob Improvisation, Bodypercussion und Vom-Blatt-Spiel im Unterricht von Bedeutung sind, wurde ebenfalls erforscht. Im Hinblick auf das Alter der Probanden wurde das Spannungsverhältnis zwischen Entwicklungsmöglichkeiten und wahrgenommenen Hindernissen thematisiert.
Die Ergebnisse zeigen, dass Kammermusizieren als außerordentlich wichtig empfunden wird. Während einzelne Befragte diesbezüglich von ausgeprägter Praxis berichteten, fanden andere – trotz vielfacher Bemühungen – keine adäquaten oder gar keine Spielpartner. Die Vernetzung von Instrumentalunterricht und Kammermusik wurde als defizitär empfunden. Bodypercussion und Improvisation spielten im Gegensatz zum Vom-Blatt-Spiel im individuellen Unterricht keine Rolle; die Rückmeldungen aus den Wochenendworkshops verwiesen jedoch auf das positive Potential solcher Angebote. Ein Instrumentenwechsel könnte möglicherweise ein Merkmal des Musizierens in der Lebensspanne sein.
Das Gesamtprojekt kann als sehr gelungen bewertet werden. Eine spätere, schriftliche Feedbackrunde zeigte eine überaus hohe Zufriedenheit der Teilnehmenden mit allen Bestandteilen des Wochenendes. Obwohl viele Teilnehmer noch nie in einem vergleichbaren Rahmen musiziert hatten, wurde es von allen als sehr schlüssig empfunden, am Ende auch ein „Produkt“ der gemeinsamen, generationenübergreifenden Arbeit zu präsentieren. Eine Teilnehmerin formulierte treffend: „Gefreut hat mich, wie respektvoll die jungen Leute mit den ,Alten’ umgingen. Das reicht von angemessener Kleidung bis hin zum gemeinsamen Auf- und Abtreten. Man wurde ja ,abgeholt’ zum Auftritt. Gute Umgangsformen! (...) Für mich hat sich meine Erfahrung bestätigt: Musik ist die wundervolle Möglichkeit zum gemeinsamen Agieren von Menschen aller Lebensalter.“
Eine umfassende Projektbeschreibung samt Forschungsergebnissen wird im nächsten Jahr veröffentlicht.