Am 31. März 1869 erhielt der große Geiger Joseph Joachim vom preußischen Kulturminister die Aufforderung, in Berlin eine Schule für Instrumentalmusik zu gründen. Weitere Einladungen, hieß es, seien geplant. So sollten Julius Stockhausen für eine Gesangschule und Clara Schumann für eine Klavierschule gewonnen werden. Da beide Kandidaten jedoch nicht kommen wollten, wurde es dann Aufgabe Joseph Joachims, sich auch um die weiteren Zweige der Musikausbildung zu kümmern. Obwohl sein Freund Johannes Brahms die Einladung als Leiter der Klavierklasse ausschlug, konnte im Oktober 1869 für 19 Studenten, darunter Eugenie Schumann, die Tochter Roberts und Claras, der Unterricht beginnen.
Aus bescheidenen Anfängen erwuchs schließlich die Königliche akademische Hochschule für Musik Berlin. Für diese erste Musikhochschule Deutschlands stand das 1843 von Felix Mendelssohn Bartholdy gegründete Leipziger Konservatorium als Vorbild im Hintergrund. Wie dort sollte auch in Berlin neben Spieltechnik ein tieferes Musikverständnis gelehrt werden. Joachim, den Mendelssohn zu Johann Sebastian Bach hingeführt hatte, engagierte deshalb den wegweisenden Bachforscher Philipp Spitta als Musikgeschichts-Dozenten an die Hochschule. Bis 1907 leitete Joachim diese Berliner Institution, die ein Ort gründlicher akademischer Ausbildung und ein Hort der Brahms-Tradition wurde.
Schreker, Flesch, Hindemith
Weltruhm erlangte sie allerdings erst unter Franz Schreker, der sie ab 1920 den modernen Strömungen öffnete und Künstler wie Carl Flesch, Paul Hindemith, Artur Schnabel und Emanuel Feuermann als Lehrkräfte gewann. Viele der besten Dozenten mussten 1933 gehen, auch die Büste von Joseph Joachim wurde damals beseitigt. Der international bekannte Name „Hochschule für Musik Berlin“ verschwand 1975, als die Hochschule gegen den Widerstand der Musiker mit der benachbarten Hochschule für bildende Künste vereint wurde. Heute ist die ursprüngliche Hochschule für Musik eine Fakultät der Universität der Künste (UdK) Berlin, der größten Kunsthochschule Europas, die 2001 aus der damaligen Hochschule der Künste hervorging.
Diese Musikfakultät erinnerte in ihrem diesjährigen Crescendo-Festival an die Gründung der Hochschule vor einhundertfünfzig Jahren. Um 1900 hatte sie in dem damals noch nicht zu Berlin gehörenden Charlottenburg ein neues Gebäude mit Konzertsaal bezogen. Beide Bauten wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und erstanden danach neu. In dem großen Konzertsaal, der bis zur Errichtung der Philharmonie auch die Heimat der Berliner Philharmoniker war, wurde das Festival mit einem von Stefan Sanderling dirigierten Konzert des UdK-Symphonieorchesters eröffnet. Unter dem eigenartigen Titel „150 Jahre Fakultät Musik“ waren nach zwei Grußworten Kompositionen der einstigen Direktoren Joseph Joachim und Franz Schreker sowie eine Brahms-Sinfonie zu hören. Dabei hinterließ Schrekers „Vorspiel zu einem Drama ‚Die Gezeichneten‘“ mit enormem Farbreichtum und wogenden Harmonien stärkeren Eindruck als Joachims noch in der Mendelssohn-Tradition verhaftete Ouvertüre „In memoriam Heinrich von Kleist“.
Die weiteren Veranstaltungen des Festivals fanden im Joseph-Joachim-Konzertsaal in der Bundesallee statt, wo die Universität der Künste über das imposante ehemalige Joachimsthalsche Gymnasium verfügt. In einer „Hommage an Joseph Joachim“ spielten Studenten hier Kammermusik aus dem Umkreis des Hochschulgründers, etwa seiner Professorenkollegen Heinrich von Herzogenberg und Woldemar Bargiel. Ebenso wie Joachims eigene Kompositionen sind diese Werke solide und ansprechend gearbeitet, verfügen aber nicht über einen eigenen Ton wie Clara Schumanns Klaviertrio g-Moll op. 17, das sehr leidenschaftlich und überzeugend musiziert wurde. Eingebettet in die Musik war ein Gespräch über das Pamphlet „Das Judentum in der Musik“, das Richard Wagner in jenem Jahr 1869 erstmals unter dem eigenen Namen veröffentlicht hatte. Mit dieser Polemik, die dann als Sachtext gelesen wurde, wollte Wagner die Juden, die eben in diesem Jahr in Preußen volle Bürgerrechte erhielten, aus der deutschen Kultur ausschließen, eine künstliche Distanz zu ihnen erzeugen. Der 1831 in der Nähe von Bratislava geborene und aus jüdischer Familie stammende Joseph Joachim reagierte nicht auf diese antisemitischen Angriffe. Die von ihm begründete Hochschule machte er vielmehr zur Hüterin deutscher Musiktraditionen, zum Bollwerk gegen die Neudeutschen um Wagner.
Die älteste musikalische Einrichtung Berlins ist der Staats- und Domchor, ein Knabenchor mit 550-jähriger Geschichte, der seit 1923 zur Hochschule gehört. Unter Leitung von Kai-Uwe Jirka erinnerte er in einem interessanten Programm an den Komponisten Carl Loewe, der im Gründungsjahr 1869 gestorben war. Neben 500 Balladen hat Loewe auch geistliche Chormusik geschrieben, die nun mit schöner Klangkultur und gut deklamiert gesungen wurde. Besonders aufschlussreich war die Gegenüberstellung des biederen Orientalismus in Loewes Liedzyklus „Bilder des Orients“, von Chorsolisten gesungen, mit authentischer arabischer Musik, gespielt von dem Oud-Meister Faleh Khaless. Bei der „Himmelfahrt“ aus Loewes Oratorium „Die Festzeiten“ durfte man schließlich neben langen Koloraturen die glasklaren Spitzentöne der Knabensoprane bestaunen.
Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart
Neben Studenten beteiligten sich auch die Professoren der Musikfakultät am Crescendo-Festival, so die Cellisten Jens Peter Maintz und Danjulo Ishizaka, der Trompeter Gábor Tarkövi und nicht zuletzt die beiden künstlerischen Leiter, der Pianist Markus Groh und der Cellist Konstantin Heidrich. Groh führte durch ein Programm „Bewegte Zeiten“, das verschiedene Phasen der Hochschulgeschichte beleuchtete. So fiel die Hundertjahrfeier 1969 in die Zeit der Studentenproteste, die auch in der Hochschule Widerhall fanden. Viel Aufmerksamkeit erhielt damals Luigi Nono, der in einem überfüllten Hochschulsaal seine elektronische Komposition „Musica Manifesto N. 1“ vorführte. Solche Werke, die auch Geräusche einbeziehen, waren zu dieser Zeit noch exotische Fremdkörper in der Hochschule. Inzwischen hat sich das geändert. So gehörte zu den 28 Veranstaltungen des Festivals auch ein von Kirsten Reese und Martin Supper geleitetes Programm mit neuen elektronischen Stücken. Die Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart schlug ein Abend, der Kompositionen Robert Schumanns und Richard Wagners die „Re-Visionen“ und „Wagner-Varianten“ Dieter Schnebels gegenüberstellte, jenes vor einem Jahr verstorbenen Komponisten also, der als Professor für experimentelle Musik an der Berliner Musikfakultät das Fenster zur zeitgenössischen Musik weit geöffnet hatte.