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„Ich wollte wissen, was Menschen bewegt“

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Kultusministerin Angela Dorn im Gespräch mit Präsident Elmar Fulda
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Es ist das Spannungsfeld zwischen extremen Anforderungen und den kleinen Schritten, die nötig sind, sie zu bestehen, das Angela Dorn schon immer interessierte, als Studentin der Psychologie, später als Therapeutin in der forensischen Psychiatrie, in der Politik, bei der großen Menschheitsfrage Klimawandel und als hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst. Seit Januar 2019 ist die Grünen-Politikerin verantwortlich für die Hochschulen des Landes. Hochschulpräsident Prof. Elmar Fulda spricht mit ihr über Ausnahmesituationen in ihrem Leben, in Kunst und Gesellschaft.

Prof. Elmar Fulda: Frau Dorn, haben Sie Kunst schon einmal als emotionale Erschütterung wahrgenommen?

Angela Dorn: Ja, es war eine Ballettaufführung, die ich als 16-Jährige besucht habe. Ich weiß weder, was getanzt wurde, noch von wem, es war etwas Modernes und für mich der erste Zauber, den ich mit Kunst erlebt habe. Es ging um einen wahrhaften Aufbruch, das blieb emotional haften. Ich saß ohne sonderliche Erwartungen da, bis ich zum Ende gar nicht mehr wusste, was ich mit meinen starken Gefühlen machen sollte, die Tanz und Musik in mir auslösten. Ich traute mich kaum noch zu atmen, war völlig in den Bann gezogen und konnte vor Faszination noch nicht einmal applaudieren, ich fühlte mich jenseits dieser Welt. In Erinnerung bleibt mir auch eine „Salome“-Aufführung in Wiesbaden: Die moderne Inszenierung übersetzte sehr gelungen das, was früher als provokativ galt, in die heutige Zeit. Sie konfrontierte mich mit der Tatsache, dass viele schlimme Dinge in der Welt geschehen, die wir einfach hinnehmen – das menschenunwürdige Gefangenenlager Guantanamo kam damals als Beispiel. Das schuf bei mir eine Beklommenheit, machte mich persönlich betroffen.

Fulda: Kunst also in der Funktion von Stachel oder Widerhaken?

Dorn: Definitiv, ja.

Fulda: In der Oper – kleiner Exkurs in mein früheres Leben als Opernregisseur – geht es immer um extreme emotionale Momente. Die meisten Opern konfrontieren die Protagonisten mit existenziellen Gefühlsmomenten wie Schmerz, Tod, Leid, Euphorie, Raserei, große Liebe, großes Glück. Die Lust des Publikums, an derlei Extremen teilzuhaben, ist ein großer Antrieb, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Geht es Ihnen auch so?

Dorn: Menschen erleben vieles in ihrer eigenen Gefühlswelt als sehr extrem, können es ihrem Gegenüber aber oft nicht adäquat vermitteln. Vielleicht sind extreme Zustände in der Kunst eine Möglichkeit, eigene Emotionen zu verarbeiten, auf einer anderen Ebene nochmals zu durchleben. Jeder, der eine Oper sieht, erlebt sie anders und entwickelt Assoziationen, die zu seinem eigenen Leben passen. Und das Schöne an Kunst ist ja, dass sie Interpretationen nicht vorwegnimmt, sondern eine eigene Deutung zulässt.

Fulda: Für die ausübenden Künstler ist es manchmal schwer, die Deutungshoheit ans Publikum abzugeben. Nach meinen eigenen Inszenierungen erzählten mir Menschen oft, wie sie die Bühnengeschichte erlebten, was sie berührte. Mitunter war mein Regieantrieb aber ein ganz anderer gewesen. Diese Diskrepanz muss man als Künstler aushalten. Haben Sie in der Kunst bestimmte Präferenzen jenseits Ihrer Verantwortung als Ministerin für Wissenschaft und Kunst?

Dorn: Diese Verantwortung ist mir sehr wichtig, weil es dazu gehört, die Freiheit der Kunst zu schützen und zu fördern. Gerade in Zeiten, in denen Extremisten und Populisten unsere vielfältigen Gesellschaften auseinandertreiben und Freiheiten einschränken wollen. Demokratie und gelebte Freiheit sind nicht denkbar ohne die Freiheit der Kunst. Deshalb sehe ich es als Aufgabe, Freiräume für Kunst zu erhalten und zu erweitern. Und das macht mir großen Spaß; ich empfinde es als Privileg, so viele sehr unterschiedliche Termine rund um die Kunst wahrnehmen zu dürfen, bei denen ich Neues entdecke. Ich kann zu vielem einen Zugang finden, weil ich neugierig bin und akzeptiere, dass mir auch mal etwas nicht gefallen darf. Meistens aber werde ich positiv überrascht.
Fulda: Ich selbst bin ein berüchtigter „Pausengänger“, wenn mir eine Aufführung nichts erzählt. Künstler müssen akzeptieren, dass jemand eine Aufführung verlässt.

Dorn: Diese Freiheit können Sie sich als Fachmann ja auch nehmen, weil Sie sich keine Gedanken darüber zu machen brauchen, ob Sie der Kunst gewachsen sind. Viele Menschen haben indes Sorge, dass sie „noch nicht gebildet genug“ seien, um Kunst zu verstehen. Ich möchte den Menschen diese Sorge gerne nehmen. Sie sollen wissen, dass es in der Kunst kein Richtig oder Falsch gibt. Man muss nicht jeden Feuilleton-Artikel verstehen, um Kunst intensiv erleben zu können.

Fulda: Ich vergleiche Kunst gerne mit Fußball: Man kann ihn als Zuschauer ohne jegliche Regelkenntnisse genießen. Doch wenn man die Abseitsregel kennt, genießt man intensiver. Mit Kunst und Kultur ist es ähnlich. Kunst kann gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen – das interessiert mich sehr. Genau dieses Potenzial von Kunst – Identität zu stiften und den gesellschaftlichen Diskurs zu stärken – will ich weiter ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Wir sprachen von extremen Emotionen, die Kunst hervorruft. Vor Ihrer politischen Karriere haben Sie als Psychologin Gebiete des menschlichen Seins in den Blick genommen, die jenseits der Vernunft liegen. Was hat Sie daran interessiert?

Dorn: Ich wollte wissen, was Menschen bewegt und warum. Im Rahmen meines Freiwilligen Sozialen Jahres in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche fühlte ich mich recht hilflos darin, kompetent mit Menschen in Kontakt zu kommen, die viel Schwieriges in ihrem Leben erfahren haben. Erlebt habe ich jedoch, wie ein Kind anfing Schlagzeug zu spielen, sich dadurch öffnete und zu einem neuen Selbstbewusstsein fand. So fand ich Zugang zu dem Kind und habe gemerkt, was Musik für einen Einfluss auf Menschen haben kann.

Extreme Herausforderungen

Fulda: Was Sie schildern, ist ein Paradebeispiel dafür, dass mit Musik Bereiche des Menschseins angesprochen werden, die nicht über die Ratio gesteuert werden. Während Ihrer Arbeit in der forensischen Psychiatrie sind Sie mit psychisch kranken Menschen in Kontakt gekommen, die straffällig geworden sind. Waren das extreme Herausforderungen jenseits einer einfachen Normalität?

Dorn: Ich erinnere mich an einen männlichen Insassen mit einer chronischen Schizophrenie. Das Tötungsdelikt, dessentwegen er einsaß, war eines der brutalsten, von denen ich je gelesen hatte. Ich befand mich zur Therapie mit ihm in einem Raum und arbeitete mit ihm in aller Deutlichkeit und Direktheit. Dabei wurde der stämmige Zwei-Meter-Mann wütend und baute sich vor mir auf. Ich konnte ihn schließlich beruhigen und dann unbeschadet den Raum verlassen. Meine Oberärztin wies mich daraufhin streng zurecht, weil ich mich in Gefahr begeben hatte, statt den Notfallknopf zu drücken, um mir Hilfe zu holen.

Fulda: Unsere Demokratie sucht Kompromisse, um in Abstimmungen auch die Unterlegenen mitzunehmen. Wir leben in einer Gesellschaft, die ihre Stabilität bislang sehr aus Vermittlung und Ausgleich von Extremen bezogen hat. Mein Eindruck ist, dass diese Kompromissfähigkeit immer öfter diffamiert wird. Erleben Sie das auch so?

Dorn: Leider ja. Es beschäftigt mich, dass dabei das Bewusstsein für den Mehrwert eines Kompromisses verlorengeht. Meine Aufgabe als Politikerin ist ja nicht, maximal für eine Gruppierung alles durchzusetzen, sondern Lösungen zu schaffen, die möglichst vielen Menschen helfen. In Fragen des Klimaschutzes bin ich beispielsweise kompromissbereit, über verschiedene Wege nachzudenken, allerdings nicht über das Ziel an sich.

Fulda: Die Jugend, die in den letzten Jahren als konsumorientiert und unpolitisch galt, treibt aktuell die Erwachsenen mit „Fridays for Future“ vor sich her, und das mit vielen guten Argumenten. Leben wir in einer extremen Welt?

Dorn: Was das Klima anbelangt, absolut. Die Jugend hat ein Anrecht, auf eine ganz wesentliche Überlebensfrage der Menschheit eine Antwort zu bekommen. Klimaschutz ist ja auch eines der Themen, die mich persönlich politisiert haben. Es gab viele Momente, in denen ich daran verzweifelt bin, dass das Thema so wenig Gehör findet. Wir befinden uns im Prozess der Globalisierung. Für Politiker und die Gesellschaft ist es schwer, ihn so zu gestalten, dass alle Menschen mit dieser Entwicklung mithalten können. Die Digitalisierung hat einen so rasanten Wandel herbeigeführt wie bisher wenige technische Revolutionen. Und Migrationsprobleme sind maßgeblich durch den Klimawandel mitverursacht. In solchen extremen Zeiten ist es umso wichtiger, dass es keine extremen Antworten gibt, sondern besonnene, ganzheitliche und vernünftige.

Fulda: Wie verändert die Radikalisierung in der öffentlichen Auseinandersetzung unsere Demokratie?

Dorn: Die Extrempositionen werden lauter – das erleben wir ja an der wachsenden Zustimmung für die rechten Parteien. Wir befinden uns in einer sehr sensiblen Phase der Demokratie, in der wir mit aller Kraft für den Zusammenhalt kämpfen müssen. Ich denke auch an den Hass, der in den Sozialen Medien aufschlägt, ebenso an die rechten Übergriffe der jüngsten Zeit. Passend dazu haben wir gerade das Aktionsprogramm „Hessen gegen Hetze“ auf den Weg gebracht, mit dem wir es schaffen wollen, diesem Hass zu begegnen.

Fulda: Wie gehen Sie mit extremen Meinungen um?

Dorn: Es ist in der Konfrontation mit extremen Meinungen oft schwierig und mühsam, die einzelnen Schritte hin zu einer Lösung darzustellen. Menschen kommen mit ganz bestimmten Interessen auf einen zu, die sie umgesetzt sehen wollen. Ihnen klarzumachen, welche Schritte dafür nötig oder auch, welche unmöglich sind, ist anstrengend. Es ist mühsam, die Politik der kleinen Schritte zu vermitteln; sie ist nicht unbedingt sexy, aber die Grundlage von allem und damit am Ende für den sozialen Zusammenhalt und echten Fortschritt notwendig. Undurchdachte Prozesse, die einfach übergestülpt werden, haben meist keine lange Halbwertszeit.

Fulda: Es gibt prominente Politiker, die sehr populis­tisch argumentieren. Wie geht man mit denen um?

Dorn: Das ist eine Frage, die mich gerade sehr umtreibt. Wie schaffen wir es, die Wissenschaftlichkeit in ihrem Wert deutlich zu machen? Sie ist die Grundlage unserer gesellschaftlichen Prozesse und politischen Lösungen. Was passiert, wenn diese unter Beschuss gerät, sieht man in den USA, wo die Regierung der Klimaforschung die Mittel streicht, weil das ein unliebsames Thema ist; oder in der Türkei, wo Wissenschaftler in ihrer Arbeit keine Freiheit mehr haben. Die Freiheit der Wissenschaft und die Wissenschaftlichkeit als solche sind die Lösung für unsere Herausforderungen. Ein Schlüssel dafür ist, dass Wissenschaft verstanden werden muss. Wir müssen klarmachen, dass Wissenschaft daran interessiert ist, ihre Hypothesen zu verifizieren oder falsifizieren, um zu immer neuen Erkenntnissen zu gelangen, die anwendbar sind und Lösungen bereitstellen.

Fulda: Was sagen Sie Ihren Kindern, wenn Sie für „Fridays for Future“ in den Schulstreik gehen wollen?

Dorn: Ihr könnt gerne gehen. Ich finde es richtig, dass sie für ihre Rechte eintreten. Mein Studium habe ich auch dafür genutzt, immer wieder auf die Straße zu gehen und für unsere Rechte einzustehen – damals waren es die Studiengebühren.

Fulda: Wo haben Sie Demokratie gelernt?

Dorn: Zuerst in der Schülervertretung. Dort habe ich erlebt, wie toll es ist, sich für etwas einzusetzen, was verändert werden soll. Damals haben wir gegen das Fünf-Fächer-Abitur gekämpft, wollten mehr Wahlfreiheit. Es hilft immer, sich zusammenzuschließen und Forderungen zu erheben.

Treiber Mitbestimmung

Fulda: Brauchen wir eine neue Schule der Demokratie?

Dorn: Ich glaube, dass Kinder von Beginn an Mitbestimmung als maßgeblichen Treiber erleben sollten. Dabei müssen wir sie sehr ernst nehmen. Es gibt wunderbare Erfahrungen mit Kinder- und Jugendparlamenten und verschiedenen anderen Beteiligungsmöglichkeiten, sowohl an Schulen als auch in der öffentlichen Politik.

Fulda: Das kann ich bestätigen: Immer, wenn Studierende in der Hochschule mitdiskutieren, erlebe ich deren Stellungnahmen als überaus inspirierend und zielführend. Sie haben einen anderen Blick auf die Dinge, formulieren sehr deutlich, was sie sich vorstellen, und mischen die Runden lebendig auf.
Politikerinnen sind immer im Dienst, sagt man. Wie gehen Sie mit Druck um, wie entspannen Sie?

Dorn: Ich versuche, in meiner Arbeit nicht den ganzen Berg anzuschauen, sondern immer den nächsten Schritt.

Fulda: Haben Sie Lieblingsorte wie ich mein Segelboot, wo der Wind sprichwörtlich trübe Gedanken wegpustet?

Dorn: Der unspektakulärste und schönste Ort ist mein Bett, wenn meine Kinder morgens hineinkrabbeln und sich freuen, mich wiederzusehen – dann wird die ganze Welt einfach sehr klein und kuschelig und damit sehr klar. Ansonsten bin ich wahnsinnig gerne in der Natur. Wir fahren Kanu, gehen wandern und klettern; ich kann mich unglaublich begeistern, wenn ich draußen unterwegs bin und die Schönheit dieser Welt sehen darf. Da schließen sich für mich die Kreise, da werde ich frei.

Fulda: Wenn ich nach vorne blicke, freue ich mich auf den ersten Spatenstich für den Neubau unserer Hochschule auf dem Kulturcampus Frankfurt. Wo sehen Sie denn die HfMDK am Ende dieser Legislaturperiode?

Dorn: Ich strenge mich jetzt an, meinen Beitrag dazu zu leisten, dass diese wunderbare Hochschule ihren Neubau schafft und bald umziehen kann, denn das ist dringend notwendig. In meiner Vision ist sie integriert in einen Kulturcampus mit vielen anderen Kulturinstitutionen, die sie umgeben und inspirieren. Ich hoffe, dass mit dem Hochschulneubau der Nukleus für ein weiteres Wachstum des Kulturcampus gelegt sein wird – das würde mich wirklich glücklich machen.

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