Als ihren jüngsten Professor hat die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar den Organisten Martin Sturm berufen. Er unterrichtet seit Oktober 2019 als Professor für Orgel und Orgelimprovisation am Institut für Musikpädagogik und Kirchenmusik in der Nachfolge von Prof. Michael Kapsner. Martin Sturm, 1992 im bayerischen Velburg geboren, ist 1. Preisträger internationaler Wettbewerbe. Eine weltweite Konzerttätigkeit als Interpret und Improvisator führte ihn bereits zu bedeutenden Festivals, in Kathedralkirchen und Konzerthäuser sowie an namhafte historische Instrumente. Auch als Komponist machte er von sich reden. Von 2013 bis 2017 war er Assistent für Improvisation und Liturgisches Orgelspiel an der Hochschule für Musik Würzburg und in gleicher Funktion ab 2018 an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig tätig. Ina Schwanse sprach mit Martin Sturm über seinen Werdegang und seine Pläne.
Herr Sturm, was hat Sie dazu bewogen, sich in Weimar für die Orgelprofessur zu bewerben?
Mich hat die Lehre schon immer begeistert. Die zahlreichen gemeinsamen Reflexionsebenen über Musik und Kunst, die so nur an einer Hochschule möglich sind, die unendlichen Chancen, die aus der Arbeit mit den Studierenden für eine musikalische Zukunft erwachsen sowie das intensive Fördern und Fordern großartiger junger Künstlerindividuen fasziniert und erfüllt mich immer wieder aufs Neue. Nie konnte ich vorausahnen, bereits in so jungen Jahren eine so große Verantwortung übernehmen zu dürfen. Umso mehr freue ich mich über das Vertrauen, das mir meine Kolleginnen und Kollegen geschenkt haben, hier in Weimar eine Kirchenmusik- und Orgelausbildung zu definieren und voranzutreiben, die ihresgleichen sucht. Sowohl das Instrument Orgel als auch die Kirchenmusik streben immer nach Universalität, die aber ohne ausgeprägte Individualität nur leere Hülle bleibt. Gerade aber dieser unbegrenzte, geistige Raum für die Individualität menschlicher Existenz ist es, welcher der Kirchenmusik und der Orgel ihre künstlerische und gesellschaftliche Relevanz gibt.
Wie schätzen Sie die Studien- und Lehrbedingungen in Weimar ein? Was möchten Sie ändern?
Kaum ein Hochschulstandort ist so ideal geschaffen für die Kirchenmusik- und Orgelausbildung wie Weimar. Umgeben von einer einzigartigen Orgellandschaft, welche viele der bedeutendsten Orte und Instrumente der (Kirchen-)Musikgeschichte beherbergt, wird in Weimar das künstlerische Erbe vergangener Generationen tagtäglich hautnah nachvollziehbar. Die künstlerische Konsequenz aus dem Erbe von Komponisten wie Bach und Liszt ist es, auf Basis der Geschichte echte Wege in die Zukunft zu denken. Diesen großen Schatz gilt es gerade in der Kirchenmusik- und Orgelausbildung noch deutlicher zu profilieren und im internationalen Kontext umfangreich zu vermitteln. Weimar war immer eine ganz besondere Heimat der Orgel- und Kirchenmusik und ist deshalb auch für deren Zukunft von größter Relevanz. Die neuen Hochschulorgeln zeigen dies in besonderer Weise: Die aus diesem Geist entstandenen Instrumente sind vollkommen einzigartig und suchen ihresgleichen. Besonders glücklich macht mich die Offenheit der Kolleginnen, Kollegen und Studierenden zu interdisziplinären Projekten. So kann die Vision von einer komplexen, multiperspektivischen Herangehensweise an Kunst wirklich gelingen.
Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrem Unterricht? Welchen Stellenwert hat die Improvisation?
Schon im Kindesalter entspringt jede musikalische Äußerung ein- und derselben inneren Motivation. Sei es ein vokaler Laut, das Ausprobieren eines Instrumentes, das Imitieren von Natur und Umweltgeräuschen – immer ist es die Neugier und der immanente Drang nach Ausdruck, welche Menschen zur Kunst führt. So müssen auch Interpretation und Improvisation aus der gleichen Motivation heraus geschehen. Wie die Auseinandersetzung mit notierten Werken sukzessive das eigene künstlerische Denken prägt und erweitert, so vermittelt die Improvisation das Geschehen von Musik im „Jetzt“. Ein geschriebenes Werk kann so zur persönlichen Mitteilung, zu einer Art Improvisation werden, während eine Improvisation dadurch den Anspruch einer Komposition innerhalb der Zeit erhebt. Gerade die dadurch entstehende Kraft und Unmittelbarkeit des musikalischen Geschehens und das Wissen um diese Erfahrung erfährt nochmals besondere Relevanz im Berufsalltag des Kirchenmusikers. Denn genau dort kommen Menschen aller Altersgruppen und in den verschiedensten Lebenssituationen zusammen, um sich gemeinsam mit den Mitteln der Musik ganz direkt und individuell zu äußern. Um diesen Raum zu verstehen und zu schaffen, müssen meines Erachtens gerade auch die Neue Musik sowie der Jazz elementare Bestandteile der Kirchenmusik- und der Orgelausbildung sein.
Was sind Ihre Pläne für die kommenden Semester?
Einen wichtigen Schwerpunkt wird die Auseinandersetzung mit bedeutenden historischen Instrumenten der Region bilden, ergänzt durch weitere historische Pedalinstrumente wie Pedalclavichord oder Pedalklavier. Ein besonderes Herzensanliegen ist es mir, mit der Einführung der wöchentlichen Veranstaltung „Experimentalstudio Orgel“ alle Hochschulmitglieder zur Auseinandersetzung mit der Orgel einzuladen. Hier sollen Organisten und Kirchenmusiker gemeinsam mit Komponisten, Schulmusikern, Jazzern und vielen anderen direkt am Instrument vollkommen frei testen und experimentieren können, um so gemeinsam neue Visionen (nicht nur) für die Orgel- und Kirchenmusik zu schaffen.
Und was ist das Schöne an der Orgel?
Die Orgel vereint in sich eine unbegrenzte Anzahl von Klangfarben der vergangenen Jahrhunderte und wird zur Brücke zur Innenwelt der Menschen vergangener Zeiten. Aber damit nicht genug: Sie trägt ebenso eine Vielzahl an Naturgeräuschen und Klangmetaphern in sich. Es scheint geradezu so, als würde das Instrument Orgel alle menschlichen Hörerfahrungen in sich vereinen wollen, um diese zu musikalischem Material zu transzendieren. Gleichzeitig funktioniert sie wie ein großer lebendiger Organismus, durch den Wind strömt, welcher tausende von individuellen Pfeifen zum gemeinsamen Erklingen bringt – was für eine wunderbare Metapher, die kein Synthesizer dieser Welt leisten könnte. Die Orgel hatte immer eine zentrale Rolle in der Gesellschaft. Noch heute spricht man in den Gemeinden von „unserer“ Orgel. Sie ist das Instrument, das jeden Sonntag Musik in unerhörten Dimensionen bietet, von der Taufe bis zur Beerdigung jede Station menschlichen Lebens begleitet und gleichzeitig über die menschliche Existenz hinausweist.
Was zeichnet aus Ihrer Sicht gute Organist*innen aus?
Vielleicht andersherum: Was macht einen guten Künstler aus? Ich denke, es ist das Bewusstsein für den dialektischen Zauber dieser Welt, die ehrliche Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz – und das Annehmen der großen Verantwortung, die damit einhergeht, gerade dort, wo Mitmenschen den Zugang zu all dem verloren haben. Dann kann Kunst mit aller Kraft die Sinne öffnen und tatsächlich diese Welt verändern. Organistinnen und Organisten begegnen mit jeder Orgel einem anderen Individuum. Immer müssen sie sich auf erneute Suche nach dem optimalen Klangbild begeben, nie dürfen sie müde werden, ungewohnte und manchmal auch unbequeme Wege zu gehen, denn das Instrument verlangt es von ihnen. Offene Ohren und eine große Portion Neugier sind sicherlich die besten Voraussetzungen dafür.