Die vielfach ausgezeichnete Komponistin Sarah Nemtsov zählt zu den gefragtesten musikalischen Stimmen ihrer Generation. Seit Oktober 2022 ist sie Professorin für Komposition an der Universität Mozarteum.
Anfang des Jahres wurde Ihr Werk „Tikkun“ unter der Leitung von Emilio Pomárico zum 5. Jubiläum der Hamburger Elbphilharmonie uraufgeführt. Worauf spielt ‚Tikkun olam‘ an?
„Tikkun“ ist der letzte Teil einer noch nicht fertiggestellten Tetralogie zu mystischen Schöpfungsvorstellungen im Judentum. Jeder Teil ist mit einem Begriff kabbalistischer Weltentstehungsmythen verknüpft: Reshimot – Abdrücke, Sh’vira – Zerbrechen, K’lipot – Schalen und Tikkun – Heilung. Die ersten drei Teile verhandeln Aspekte der Urkatastrophe Sh’virat hakelim, dem Zerbrechen jener Gefäße, die für das göttliche Licht vorgesehen waren, dieses aber nicht halten konnten, da es zu stark war. Tikkun olam als Heilung der Welt ist ein wichtiges ethisches Prinzip im Judentum und eine wesentliche Aufgabe des Menschen. Die göttlichen Funken gilt es aufzuspüren und die Risse zu kitten – ein Prozess, bei dem jede*r Einzelne aufgefordert ist mitzumachen.
Spielen mystische Vorstellungen in Ihrem Werk generell eine Rolle?
Es ist das Abstrakte und gewissermaßen Hermetische am Mystischen, das mich fasziniert und inspiriert. Gewisse Vorstellungen oder Ideen zum Klingen zu bringen, führt mich zu Dingen, zu denen ich vielleicht sonst nicht gekommen wäre. Auch Literatur kann so ein Gegenüber sein, es gibt oft Bücher oder Autor*innen, die eine Zeit lang wichtig sind für mich. Die Texte können eine Komposition mitfärben oder mitformen. Fast jeder Partitur stelle ich außerdem einen Satz einer Autorin oder eines Autors voran, der wie eine Art Klinke die Tür zu einem Stück öffnet.
Die spektakuläre szenische Uraufführung eines Ihrer jüngsten Instrumentalzyklen mit dem Titel „Haus“ fand mit einer Regie- und Videoarbeit von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke im Rahmen der Ruhrtriennale 2022 in einer Turbinenhalle statt. Wie eng ist Neue Musik mit anderen Künsten verwoben?
Neue Musik ist im 21. Jahrhundert längst nicht mehr nur ein akustisches Instrument auf einer Konzertbühne. Sie erkundet oft andere Orte, sucht andere Formate, arbeitet multi- oder transmedial und damit per se mit anderen Künsten: mit Video, Elektronik, Installation, Licht, Text und allem, was sonst noch dazugehört. Für Künstler*innen stellt sich dabei zunächst einmal die Frage, ob man rein technisch dazu in der Lage ist, alles selber zu machen. Oder ob man mit anderen zusammenarbeitet, vielleicht sogar ein Kollektiv bildet. Gemeinsam etwas entstehen zu lassen, ist gewissermaßen ja auch ein politisches Statement, das von der Idee des Einzelkünstlers oder des Genies weggeht. Es ist letztlich aber eine Typfrage. Ich schätze die Zusammenarbeit mit anderen sehr, weil sie mich inspiriert und dadurch Werke entstehen, die ich allein nie hätte schaffen können. Beim Schreiben muss ich aber für mich sein.
Seit Oktober sind Sie Professorin für Komposition an der Universität Mozarteum. War das Interdisziplinäre der Universität, die alle Kunstsparten unter einem Dach vereint, für Sie reizvoll?
Als ich mit zwölf einmal in Salzburg war, schwebte mir das Mozarteum bereits im Kopf herum – damals schon hatte ich den Traum, Musikerin zu werden. Ich bin nun an einem Punkt angekommen, an dem ich auch etwas zurückgeben kann. Das Interdisziplinäre der Universität ist großartig, weil es viele Möglichkeiten für Studierende eröffnet, über das eigene Fach hinauszublicken und vielleicht auch hinauszuwachsen. Meinen zukünftigen Studierenden möchte ich jedenfalls mitgeben, an den eigenen Traum zu glauben und ihm auch zu folgen, der eigenen Kraft zu vertrauen und mutig zu sein! Vision, Vertrauen, Fleiß, Mut – immer wieder in einer anderen Reihenfolge vielleicht.
Sarah Nemtsovs neue Oper „Ophelia“ (2020–2021) wird mit einem Libretto von Mirko Bonné 2023 am Saarländischen Staatstheater uraufgeführt. Derzeit arbeitet sie u.a. an der Oper „WIR“ nach dem Roman von Jewgeni Samjatin. Die Uraufführung ist für 2024 an der Oper Dortmund geplant.