Durch die Corona-Pandemie sind die drängenden Fragen der Digitalisierung der Musikhochschulen weiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Neben der institutionellen Implementierung von notwendiger datensicherer IT-Infrastruktur für die Online-Lehre ist die Vermittlung von digitaler Medienkompetenz ein Thema von zentraler und zukunftsrelevanter Bedeutung.
Zeitgemäße Bildungsangebote sind untrennbar mit digitaler Innovation verbunden. Durch die sich wandelnden Lernkulturen der Studierenden, verbunden mit den immersiven digitalen Lebenswelten und dem Medienkonsum, zeigt sich natürlicherweise ein wachsendes Interesse an digitalen Lehrumgebungen. Dennoch stellt die aktuelle Situation und die damit verbundene „Onlineisierung“ die Lehre im künstlerischen Studium unweigerlich vor große, kaum lösbare Herausforderungen: Eine Musikhochschule ohne den realen Proberaum, Musiktheater und Konzertbühne ist undenkbar; die Feinstofflichkeit exzellenter musikalischer Lehr- und Lernpraxis bleibt im Online-Stream nicht vermittelbar. Aber dennoch eröffnen digitale Musikkulturen innovative Räume, die traditionelle Musikpraktiken nicht nur einer Neubetrachtung unterziehen, sondern vielmehr im Stande sind, diese um innovative ästhetische und gestische Kontexte zu erweitern und eine produktive wie auch kritische Haltung jenseits eines vorformulierten „button-pushings“ zu fördern und zu fordern.
Angebote des Medienstudios
Innerhalb des generellen breiten digitalen Angebots der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim leistet das spezifische Lehrangebot des seit 2012 etablierten Medienstudios einen wertvollen Beitrag zum digitalen Diskurs der Hochschulgemeinschaft: in den „Digitalen Musikkulturen“ stehen Lehrveranstaltungen der praktischen, künstlerischen und redaktionellen Medienproduktion, der Vermittlung von Studio- und Softwarepraxis in Ton- und Bildmedien, sowie aktuelle Fragen der Netzkultur und digitalen Bild- und Klangästhetik im Zentrum der Lehre. In verschiedensten Projekten werden digitale Technologien in der künstlerischen Praxis interdisziplinär beforscht und für die künstlerische und künstlerisch-pädagogische Arbeit genauso wie für das Selfmarketing der Studierenden nutzbar gemacht. Im theoretischen Kontext wird die Diskussion um die ästhetischen Positionen aktueller elektronischer Musik erweitert. Im Spannungsfeld zwischen instrumentaler Komposition und elektronischer Klangproduktion müssen im Terrain unerhörter Klänge Hörgewohnheiten, Sprache, Klangtypologie und Wirklichkeitskonstruktion neuartig betrachtet werden. Neben Fragen der Klang- und Bildsynthese waren und sind alle Projekte davon motiviert künstlerische Formulierungen zu finden, Klang- und Bildereignisse in digitale Daten zu konvertieren, die theoretisch fassbar und ästhetisch formbar sind.
Von Studierenden aus dem im Jahr 2016 eingeführten Studienfach Master Komposition/Neue Medien etablierte sich aus dem omnipräsenten Umgang mit Smartphones und Game-Controllern schnell der Wunsch unkonventionelle Interface-Designs zur digitalen Klangsteuerung zu erproben und musikalische Gesten und instrumentales Musizieren sensorisch innovativ zu begreifen und zu prozessieren. 2018 konnte beim internationalen Musikfestival „Heidelberger Frühling“ ein erstes Projekt zur Aufführung gebracht werden, das sensorbasierte Klang- und Bildsteuerung als interaktive Performance auf alle beteiligten Medien anwendete: mit auf Klang und Video gemappten Daten aus Gyroskopen von Game-Controllern war es den beteiligten Instrumentalisten möglich auch den elektroakustischen Raum zu steuern und in das Musizieren intuitiv miteinzubeziehen. Die Performance „Das Außen im Innen (Architektur und Musik)“ wurde im folgenden Jahr in einer Performance-Lecture mit dem Architekten Daniel Libeskind beim Heidelberger Frühling in erweiterter Fassung erneut zur Aufführung gebracht.
Aus den künstlerisch herausragenden Erfahrungen dieses Projekts reifte die Idee, ein auf digitale Musiktechnologie fokussiertes Angebot an alle Studierenden zu richten. Waren es bis dato eher die „Spezialisten“ aus der Komposition, die an Live-Elektronik interessiert waren, hat sich der Kreis der Interessierten immens erweitert: Neben Studierenden aus dem Bereich Jazz- und Popularmusik sind es ebenso Studierende der Musikforschung und der Lehramtsstudiengänge, die mit bisher unerkannter IT- und Medienkompetenz Innovationstreiber in den digitalen Musikkulturen sind. Folgerichtig war es, nun auch ein offenes Labor für den kreativen Umgang mit digitalen Soundtools ins Leben zu rufen: Das seit 2019 mit Christopher Scheuer in der gemeinsamen künstlerischen und technologischen Leitung etablierte „Laptop-Orchestra“ vermittelt hands-on die Technizität elektronischer Musik, analoger und digitaler Klangsynthese, erprobt multisensorische Klangsteuerung und musikalische Gestenerkennung für Instrumentalistinnen und Instrumentalisten und diskutiert die ästhetischen Dispositive elektronischer (Club-)Musik.
Durch das coronabedingte Distanzgebot im Frühjahrsemester drängten sich neue Fragestellungen auf, war es doch nicht mehr möglich, in einer Laborsituation gemeinsam im Studio zu agieren. Es war plötzlich notwendig, alle Aktivitäten dezentral ins Netzwerk zu verlegen. Das Musizieren auf Distanz stellt nicht nur in realen Aufführungssituationen eine besondere Herausforderungen dar. Neben Fragen der Synchronität sind Laufzeiten von Schallereignissen einzukalkulieren. Spielen zusätzlich technologische Anwendungen eine tragende Rolle in dezentralen Settings, wird es kompliziert. Ist das Internet involviert, sind gegenwärtig kaum adäquate und verlässliche Lösungen verfügbar, die Bandbreiten- und Dynamikkompression, Netzwerklatenzen und variierende „response times“ (bemerkbar als „Zeitinstabilität“) für einen musikalisch anspruchsvollen Kontext zufriedenstellend berechnen.
In Onlineseminaren wurde gemeinschaftlich eine Lösung entworfen. Die Studierenden konnten dabei auf ihre IT- und Programmierkenntnisse aus früheren Veranstaltungen zurückgreifen. Durch Expertisen der Studierenden insbesondere aus dem Gaming-Bereich wurde eine einmalige Loop-Architektur auf technologisch hohem Niveau entwickelt, bei der musikalische Ereignisse dezentral initiiert aber zentral zeitstabil verarbeitet werden indem sie im Taktraster eines Host-Computer quantisiert werden. Dazu wurden mit MAX/MSP in Ableton Live eine Reihe einfach modifizierbarer Sender- und Receiverpatches programmiert, über die alle Beteiligten Zugang zur Klangauslösung und -steuerung im Host-Computer haben. Die damit verbundene Spielhaltung ist einfach und intuitiv, die musikalischen Resultate sind akustisch wie ästhetisch äußerst gelungen. Im aktuellen Semester und bis die Arbeit im Studio wieder aufgenommen werden kann, wird die etablierte Netzwerkstruktur durch die Implementierung von KI-Applikationen und Machine Learning erweitert.
Digitale Zeitgenossenschaft
Im Kontext zukünftiger künstlerischer Forschung und Entwicklung liegt eine Kooperation mit dem an der Hochschule angesiedelten „Landeszentrum für Dirigieren Baden-Württemberg“ sehr nahe: Instrumentalistinnen und Instrumentalisten steht im Übungs- und Aufführungsprozess (neben dem mittelbaren auditiven Feedback) das unmittelbare haptische Feedback an der Schnittstelle von Körper und Instrument zur Verfügung. Dirigentinnen und Dirigenten fehlt dieses hingegen, da sich ihre Kommunikation mit ihrem Klang-„Körper“ Orchester wesentlich auf visueller Ebene abspielt. An dieser Stelle setzt eine zukünftige künstlerisch-technologische Forschung weiter an, die ausgehend von subjektbezogenen und intersubjektiven Datenerhebungen und der kinematischen Beschreibung von Schlagtechnik, Gestenrepertoire und Körpersprache und ihrer musikalischen Dimension interaktive Tools entwickelt. Die weitere Erforschung und Etablierung einer kinetischen Klangsteuerungsarchitektur evoziert darüber hinaus zahlreiche experimentelle Einsatzmöglichkeiten im Bereich der elektronischen Musik, Instrumental-Performance oder in Verbindung mit Tanz; von der graphischen Klangsynthese über die räumliche Manipulation von Klang bis hin zum spielerisch intuitiven Laienangebot sind diese Technologien produktiv einsetzbar und ästhetisch erfahrbar.
Die digitale Zeitgenossenschaft genießt an der Hochschule schon seit Jahren hohe Priorität. Eine visionäre Mischung aus On- und Offline sowie digitaler Innovation und gewachsener Tradition immer wieder neu zu finden und weiterzuentwickeln, bleibt in jedem Fall eine zentrale Herausforderung auch für die Zukunft.