„die landschaft in ihrer strenge und kargheit ist nicht reizlos, vielmehr merke ich immer wieder, wenn ich lange nicht hier war, daß es meine heimat ist“, schreibt Hans Werner Henze am 16. Juni 1948 über den Wohnort seiner Familie in Kracks, heute Bielefeld-Sennestadt, an seinen Freund Peter Cahn in Frankfurt. Henze war Ostwestfale, doch hat ihn die Region bisher wenig geehrt – am meisten noch seine Geburtsstadt Gütersloh. Dies wird sich jetzt – hoffentlich nicht nur für Detmold – ändern, denn seit 2018 ist mit Prof. Dr. Antje Tumat eine ausgewiesene Henze-Spezialistin Hochschullehrerin am Musikwissenschaftlichen Seminar, die gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit einen Forschungsschwerpunkt zu Hans Werner Henze aufgebaut hat.
Hans Werner Henze (1926–2012) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Opernkomponisten der Gegenwart sowie „farbigsten Figuren der musikalischen Kunstgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Petersen 1988). In autobiografischen Schriften und Interviews hat er neben der politisch-humanitären und pädagogischen Dimension seiner Werke immer wieder dargelegt, dass er Musik als Sprache zur Kommunikation mit dem Publikum versteht. Verstanden zu werden war ihm, der sich dem „historischen Topos von der Sprachhaftigkeit der Musik“ (Tumat/Zywietz 2019) verpflichtete, essenzielles Anliegen. Auch sein literarisches Schaffen, das in weiten Teilen der Erklärung seiner Musik dient, legt hiervon beredtes Zeugnis ab.
Viele seiner literarischen Texte liegen publiziert vor, darunter vor allem auch die umfang- und inhaltsreiche Autobiographie „Reiselieder mit böhmischen Quinten“ (1996), aber auch die Arbeitstagebücher, in denen er zu großen Kompositionen Rechenschaft ablegt. Die Briefe, die Henze mit prominenten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts ausgetauscht hat, sind aber bis auf wenige Ausnahmen, darunter der (allerdings unvollständige) Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann, bisher unveröffentlicht. Doch gerade die Briefe liefern bisher unbekanntes Quellenmaterial zu Werkgenese-Prozessen und wertvolle Erkenntnisse zur Aufführungspraxis nicht nur von Henzes Werk im Besonderen, sondern auch zur gesamten Musikgeschichte der Nachkriegszeit.
Aus diesem Grund ist die Publikation von seinen Briefen Gegenstand des ersten Henze-Forschungsprojektes, das seit September 2021 seine Arbeit am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn aufgenommen hat. Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen sind Dr. Irmlind Capelle, dott.ssa mag. Elena Minetti und Dennis Ried M. A..
Dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt „Henze Digital – Hans Werner Henzes künstlerisches Netzwerk“ widmet sich in seiner ersten Arbeitsphase (2021–2024) dem Briefwechsel mit Librettisten (u. a. Wystan Hugh Auden/Chester Kallman, Miguel Barnet, Hans Magnus Enzensberger, Grete Weil/Walter Jockisch) und mit Henzes Mäzen und Auftraggeber Paul Sacher. Während im brieflichen Austausch mit Henzes Librettisten vor allem künstlerische und ästhetische Debatten, etwa über die Gewichtung von Musik und Sprache oder politische Kontroversen zu den gewählten Sujets ausgetragen werden, protokolliert der umfangreiche Briefwechsel mit Paul Sacher, dem Auftraggeber, Leiter von Uraufführungen sowie Widmungsträger bedeutender Werke Henzes, vor allem Aufführungen und legt über entstehende Werke inhaltlich Rechenschaft ab.
Die Veröffentlichung der Briefe erfolgt digital (www.henze-digital.de), wobei sich Webdesign und Funktionalität an die ebenfalls am Musikwissenschaftlichen Seminar angesiedelte und wissenschaftlich hoch geschätzte Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (www.weber-gesamtausgabe.de) anlehnen – ein Beispiel für die heute allgemein geforderte Bereitstellung der Forschungsergebnisse im open access und die kooperative Forschung, in der bereits erreichte Forschungsziele geteilt und gemeinsam weiter entwickelt werden.
Mit ersten Veröffentlichungen von Briefwechseln zwischen Henze und den Librettisten, die ihre Schwerpunkte in den frühen Jahren um 1950 (Weil/Jockisch) und in den 1960er-Jahren haben (Auden/Kallman), andererseits aber auf die „politische“ Zeit um 1970 fokussiert sind (Barnet, Enzensberger), ist Ende 2022 zu rechnen.
Neben der Einrichtung der Arbeitsstelle für die Edition der Briefe Henzes ist es Prof. Dr. Antje Tumat zudem gelungen, die Privatbibliothek Hans Werner Henzes nach Detmold zu holen. Henze lebte seit 1953 in Italien und seit 1966 in der Villa La Leprara in Marino bei Rom. Nach seinem Tod 2012 gab es Bestrebungen, dieses Haus als Begegnungsstätte und Museum zu erhalten, doch sind diese gescheitert und so musste das Haus verkauft werden. Die handschriftlichen Dokumente (Kompositionsmanuskripte, Manuskripte, Briefe) aus Henzes Nachlass waren schon zu dessen Lebzeiten an die Paul-Sacher-Stiftung in Basel gegeben worden, die diese professionell verwahrt, aufbereitet und der Forschung zur Verfügung stellt. Doch die Privatbibliothek (Bücher, Noten, Programmhefte, Schallplatten, Audio- und Videokassetten etc., insgesamt ca. 10.000 Einheiten) konnte für Detmold gewonnen werden: Die Universität Paderborn übernahm die Transportkosten, die Erschließung, gefördert von der Ernst von Siemens-Musikstiftung und der Steegmann-Foundation, wird in der Hochschule für Musik Detmold vorgenommen, so dass diese Materialien, darunter Partituren fast aller Kompositionen Henzes, aber auch vieler Werke seiner Zeitgenossen und Schüler*innen, dann der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen werden. Gerade die Partituren bilden für die Bibliothek und die Hochschule eine große Bereicherung, weil Professor*innen, Student*innen und Wissenschaftler*innen sich dadurch leicht auch über wenig bekannte Werke informieren und deren Aufführungen vorbereiten können.
Dies führt zu dem dritten Punkt, in dem sich die Henze-Pflege Ostwestfalens ändern wird: Die HfM Detmold wird in Zukunft Werke Hans Werner Henzes regelmäßig ins Programm nehmen und mit diesen Aufführungen auch in der Region auftreten. Den Beginn macht am 20. November 2022 eine Matinée unter dem Titel „‚Die Musik erinnert sich an Wörter‘ – Kompositionen Hans Werner Henzes in Worten und Musik“ im Brahms-Saal der Hochschule. Es musizieren Ensembles der Hochschule für Musik Detmold unter anderem Henzes Kantate „Being Beauteous“ (1963) auf das gleichnamige Gedicht aus „Les Illuminations“ von Arthur Rimbaud für Koloratursopran, Harfe und vier Violoncelli sowie „Three Auden Songs“ für Tenor und Klavier mit Texten von W. H. Auden (2008). Dazu werden Informationen zu den Werken und Auszüge aus Briefen von den Mitarbeiter*innen des Brief-Projektes gelesen. Diese Matinée findet im Rahmen der „50 Mosaiken“ statt, die die Universität Paderborn anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums veranstaltet.