Mit einem „archaischen Initiationsritus“ vergleicht Dr. Michael Bohne, Arzt, Psychotherapeut und Coach, das Probespiel, in dem sich der Neuling vor der versammelten Orchestergemeinschaft beweisen muss. Ohne gezielte Vorbereitung stehen die Chancen schlecht, diese Prüfungssituation zu bewältigen.
Die Konkurrenz wird immer größer: Beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin etwa bewarben sich kürzlich fast 400 Geiger um eine Stelle in den 2. Violinen, rund 150 waren es für eine halbe Stelle als 2. Flöte; „das ist kaum noch zu bewältigen“, seufzt Sebastian Filter, der Probespiel-Koordinator des RSB. Und doch verläuft so manches Auswahlverfahren im Sande. Die aktuellste Probespiel-Statistik der Deutschen Orchestervereinigung (DOV), veröffentlicht im März 2012, zeigt, dass in der Spielzeit 2009/10 nur rund die Hälfte der Stellen beim ersten Probespiel besetzt wurde.
Gewiss, manchmal erscheint ein Drittel der eingeladenen Bewerber gar nicht erst; gelegentlich mögen die Ansprüche der Orchester überzogen sein oder Stimmgruppe und Kollektiv können sich nicht einigen. Gerade im Bereich der hohen Streicher, so berichtet Gerald Mertens, der Geschäftsführer der DOV, erfüllen die Kandidaten aber häufig auch nicht die Erwartungen, insbesondere bei den obligatorischen Orchesterstellen.
Oft würden diese Passagen nicht richtig ernst genommen, erklärt Ulf Dieter Schaaff, Solo-Flötist des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und Professor an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar: Die Bewerber hätten selten eine Vorstellung vom musikalischen Kontext, von ihrer Rolle im Gesamtgefüge, vom angemessenen Tempo. Schaaff bietet Kurse an, in denen er mit der Partitur auf dem Tisch „penibelstes Unkrautjäten“ betreibt, an Intonation, Technik, Rhythmus, musikalischem Ausdruck feilt, Tipps zum Üben gibt und auch auf die besondere Situation des Probespiels vorbereitet – etwa darauf, dass man wegen der knappen Zeit „sofort hundertprozentig loslegen“ muss. Da hilft es, vorher einen Blick in den Probespiel-Raum zu werfen, nach dem Klavier zu stimmen, „damit man nicht stundenlang das A sucht und den ganzen Laden aufhält“, oder zu überlegen, wo der Notenständer stehen soll.
Denn nicht nur die verlangten Orchesterstellen können Stolpersteine sein; vielen hoch qualifizierten Musikern spielt auch die Psyche einen Streich. „Die Nervosität hindert sie daran, ihr Können zu zeigen, und die Natürlichkeit geht verloren“, hat die Piccolo-Flötistin des Bayerischen Staatsorchesters, Katharina Kutnewsky, beobachtet. Und so stehen bei den Probespieltrainingskursen, die sie 2007 initiiert hat, nicht nur sie selbst und ihre Orchesterkollegen als Dozenten zur Verfügung, sondern auch eine Mentaltrainerin.
Im Spitzensport sind psychologische Trainingsmethoden längst eine Selbstverständlichkeit; in der musikalischen Ausbildung, wo es ebenfalls um Höchstleistungen geht, werden sie kaum wahrgenommen. „An der Musikhochschule lernt man, im Zimmer des Lehrers und in der Übungszelle gut zu spielen“, sagt Dr. Michael Bohne, „es ist für unser Gehirn aber etwas vollkommen anderes, wenn eine Fernsehkamera auf mich gerichtet ist und ich weiß, jetzt schauen zwei Millionen Menschen zu, oder wenn ich im Probespiel zwei oder drei Minuten Zeit habe, um mich zu beweisen und gegen 20 oder 30 Konkurrenten durchzusetzen.“ Bohne, einer der gefragtesten Experten für Probespiel- und Auftritts-coaching in Deutschland, betrachtet die Prozedur als „Vergrößerungsglas des Selbstwertgefühls“: Wer sich seiner Sache sicher ist, kann gelassen mit der Situation umgehen. Wer aber 80 Prozent seiner Gehirnkapazität dafür aufwendet, über sich und seine Wirkung nachzugrübeln, hat nur noch 20 Prozent für das Mozart-Konzert auf dem Notenpult übrig. Bohne trainiert mit seinen Klienten, die Aufmerksamkeit auf die Musik zu fokussieren, alles Störende auszublenden – und: sich in dieser Extremsituation keine Spitzenleistung abzuverlangen: „Das Wollen verhindert beim Auftritt das Können.“ Leichter gesagt als getan, wenn man sein halbes Leben lang auf diesen Moment hingearbeitet hat.
Immerhin scheint sich die Erkenntnis, dass gezielte Vorbereitung unabdingbar ist, durchzusetzen: Zu den traditionsreichen Probespielkursen, die die Jeunesses Musicales Deutschland in Weikersheim veranstaltet und deren Konzeption derzeit überarbeitet wird, kommen immer mehr private Angebote hinzu. In den Studienordnungen einiger Musikhochschulen ist Probespieltraining zumindest als Wahl-Modul verankert, und in vielen Orchesterakademien steht es ganz oben auf dem Programm.
Im Orchesterzentrum NRW, das in einer Zusammenarbeit der Musikhochschulen Detmold, Düsseldorf, Essen und Köln künftige Orchestermusiker praxisnah ausbildet, ist die Probespielsimulation eine der zentralen Säulen. „Die Studenten sind selbst bei diesem simulierten Training aufgeregt. Je häufiger man mit der Situation umgeht, desto besser“, erklärt Sabrina Haane, die Verwaltungsdirektorin. Insgesamt 12 fiktive Probespiele werden während des viersemestrigen Studiums angeboten, mit Gastdozenten aus verschiedenen Orchestern und unterschiedlichen Verfahrensweisen: mit Vorhang oder ohne, in alphabetischer Reihenfolge oder mit Auslosung. Zudem können die Studenten Probespiele der Dortmunder Philharmoniker besuchen. Dabei machen sie auch die Erfahrung, dass selbst hervorragende Musiker oft nicht genommen werden, dass es aber andererseits nicht unbedingt eine Katastrophe ist, einmal daneben zu greifen.
Die beste Vorbereitung ändert allerdings nichts daran, dass das Probespiel, wie es in Deutschland praktiziert wird, ein problematisches Verfahren bleibt; darin sind sich Fachleute von Michael Bohne bis hin zu Gerald Mertens und Prof. Martin Ullrich, dem Vorsitzenden der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM), einig: ein Verfahren, das auf einer Momentaufnahme beruht, das solistisches Können abprüft, nicht aber die Fähigkeit, sich in die Gruppe einzufügen, das zudem hohen finanziellen und personellen Aufwand erfordert. Im Zuge der Weiterentwicklung der Bologna-Reform soll eine Arbeitsgruppe der RKM auch diesen Bereich unter die Lupe nehmen.
Vorerst bleibt künftigen Orchestermusikern also nur, sich auf den Initiationsritus intensiv vorzubereiten.