Ob sich auf TikTok jemand durchsetzen kann, ist nicht nur eine Frage des Talents. Viele Faktoren spielen hier mit hinein. Vor allem die undurchschaubare Logik der Algorithmen. Ist jemand jedoch imstande, auf TikTok Öffentlichkeit zu generieren, kann das den eigenen Erfolg immens befördern. Sogar, was die wenigsten erwarten würden, im Jazz, sagt Benjamin Burkhart. Im Rahmen seines Habilitationsprojekts befasst sich der Musikwissenschaftler aus Hannover seit Anfang 2022 mit Jazz auf diesem Videoportal.
Viele Follower beflügeln den Erfolg
Durch TikTok wurden erstaunliche Jazzkarrieren geboren. Besonders erstaunlich ist jene von Stella Katherine Cole. Die Performerin aus New York trat im August beim Jazz-Festival in Nizza auf. „Das hätte ohne TikTok kaum funktioniert“, schätzt Benjamin Burkhart. Ohne die Plattform wäre Stella Katherine Cole vermutlich nicht einmal zum Jazz gekommen: „Sie hat eine Musical-Ausbildung.“ Als sie sah, wie erfolgreich Kolleginnen mit Jazz auf sozialen Plattformen waren, begann auch sie, sich diese Kunst anzueignen. Und wurde damit schließlich erfolgreich.
Soziale Netzwerke, darunter nicht zuletzt TikTok, sind auf dem Weg zum musikalischen Durchbruch in vielen Fällen eine große Hilfe, fand Benjamin Burkhart heraus. Im Grunde ist es dieser Tage unabdingbar, auf Social Media präsent zu sein und zu versuchen, Aufmerksamkeit zu bekommen. „Man muss das Konzept von Professionalität heute breiter denken“, so der ehemalige Senior Scientist am Institut für Jazzforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz.
Ein guter Auftritt auf TikTok gehört inzwischen zur Professionalität – ebenso wie die Aufnahme im Studio oder das Spielen von Gigs. Dass dies die Karriere beflügelt, zeigt zum Beispiel Rachel Chiu. Sie kam über TikTok in die US-amerikanische Fernsehshow „American Idol“.
Viele Jazzmusiker stecken denn auch eine Menge Arbeit in ihren TikTok-Auftritt, fand der Musikwissenschaftler bei seinen Interviews mit auf TikTok erfolgreichen Jazzmusikern heraus. Ein Jazzvideo dauert oft nur wenige Sekunden. Länger als eine Minute sollte es nicht sein. In diese wenigen Sekunden fließt viel Schweiß: „Es ist keineswegs so, dass der erste Versuch gepostet wird.“ Die von Benjamin Burkhart interviewten Jazzmusiker berichten, dass es manchmal bis zu 50 Anläufe braucht, bis die Version gefunden ist, die dann hochgeladen wird. „Man kann sich nicht einfach vor eine Webcam setzen und denken, dass das, was man postet, bei TikTok durch die Decke gehen wird“, unterstreicht der Forscher.
Womit wir bei einer Kernfrage sind: Was hat die Chance, durch die Decke zu gehen? Womit wird man sichtbar? Ein Patentrezept gibt es nicht. Erfolgreiche Content-Kreatoren richten sich nach ihren Erfahrungswerten. Sie schauen sich an, welche Inhalte bisher gut funktioniert haben, was bisher beliebt war und was kaum aufgerufen, was ignoriert wurde.
Besonders gut kommen, wie Benjamin Burkhart herausfand, Coverversionen von Jazzstandards an, die zwischen den 1930er- und 1950er-Jahren aufgenommen wurden. Aber sie alleine sind keine Garantie dafür, dass man Reichweite generiert. Essenziell ist die richtige Inszenierung. Freimütig berichten davon die von Benjamin Burkhart befragten Jazzmusikerinnen. Etwa Stella Katherine Cole. Sie habe herausgefunden, erzählte sie ihm, dass Nahaufnahmen ihres Gesichts gut ankommen. Und sie habe entdeckt, dass sie sich schminken müsse. Videos, so Stella Katherine Cole, schnitten umso besser ab, je besser sie aussehe.
Solche Entdeckungen sind ein Teil des individuellen Erfolgsrezepts. Letztlich wird jedoch nach der Trial and Error-Methode gearbeitet, so Benjamin Burkhart. In der Fachsprache nennt sich das „Algorithmische Imagination“, erläutert der ehemalige Mitarbeiter am Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Uni Freiburg.
Weil die Algorithmen der Programmierer von TikTok nicht entschlüsselt werden können, vermag letztlich niemand zu sagen, was garantiert funktioniert und was nicht. TikTokern bleibt nur, zu beobachten, was geschieht, nachdem sie einen Inhalt gepostet haben. Sie ziehen daraus Schlussfolgerungen. Und passen ihr Verhalten an. Am Ende bleiben es aber reine Vorstellungen darüber, wie Algorithmen, die sich Interessen und Vorlieben von Usern merken, technologisch funktionieren. Überhaupt stellt sich am Ende die Frage, was auf das Konto der Algorithmen und was auf das Verhalten der User geht, die Videos konsumieren, liken und via Smileys oder auch längeren Statements kommentieren.
Das bedeutet auch: Auf TikTok geht es nicht „gerecht“ zu. Wie viele Musiker sich trotz großem Talent erfolglos abzappeln, kann Benjamin Burkhart nicht sagen. Wie sollte man so etwas auch erforschen: „Ich habe mich bei meiner Untersuchung auf die Popularitätsspitzen konzentriert.“
Als Gesprächspartner gewann der Hannoveraner neben Stella Katherine Cole unter anderem Sam Ambers, Rachel Chiu, Caity Gyorgy, Kellin Hanas, Erny Nunez, Stacey Ryan und Brooklyn Stafford. Fast alle diese Jazzmusiker schafften es, dass ihre Videos, sucht man nach dem Hashtag #jazz, unter den Top 100 erscheinen. Bei seiner Suche unter diesem Hashtag im Februar 2023 auf TikTok stieß Benjamin Burkhart auf eine Liste von TikTok-Videos mit insgesamt 3,7 Milliarden Aufrufen.
Darunter waren „Kurzvideo-Berühmtheiten“, etwa Stacey Ryan, die sich selbst „Queen of JazzTok“ nennt. Die Kanadierin hat im Moment 1,5 Millionen Follower, ihre Videos wurden bisher fast 35 Millionen Mal geliked. Aufgrund ihres Erfolgs auf TikTok wurde sie laut Benjamin Burkhard von Island Records unter Vertrag genommen. 2022 ging sie auf internationale Tournee.
Auch wenn es ein Geschäftsgeheimnis bleibt, was die Algorithmen goutieren und was nicht, scheinen Hautfarbe und Herkunft laut Benjamin Burkhart eine gewichtige Rolle zu spielen. „TikTok ist US-zentriert“, so der Forscher. Zwei Drittel der erfolgreichsten Content-Kreatoren kämen aus den USA: „Und fast alle sind weiß.“ Außermusikalische Faktoren spielen also stark in den musikalischen Erfolg hinein, so der Spezialist für Technologieforschung im Kontext Musik: „Aber das ist kein neues Phänomen.“
Benjamin Burkhard benötigte nicht einmal zwei Jahre für sein Forschungsprojekt. Das ist wenig. Liegt aber in der Natur der Sache: „TikTok verändert sich wahnsinnig schnell, das birgt die Gefahr, dass man seinem Forschungsgegenstand nicht hinterherkommt.“
Möglicherweise handelt es sich bei den Jazz-Videos auf der Plattform um ein ephemeres Phänomen: „Mag sein, dass es TikTok in fünf Jahren nicht mehr geben wird.“
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