Ein paar Schritte die Anhöhe hinauf hinter der Akademie für Tonkunst, in der die Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt heuer ihrem 60. Lenz entgegensah, trifft der Besucher auf Niemandsland. Umzäunt erstreckt sich auf großer Fläche ein Stützpunkt der US-Armee; riesige Übungsplätze, Kasernen, Schilder, die herrisch Zutritt verweigern, und eine Holzbaracke, die als Pizzeria herhalten musste. All das dermaßen leer, dass man jederzeit darauf gefasst ist, den öden Wind eines John-Ford-Westerns im Gesicht spüren zu können. Die wahren Kriegsschauplätze sind zurzeit scheinbar anderswo. Aber hier verlief sie einmal, die Trennlinie zwischen Schwarz und Weiß, hier war Ja und dort war Nein, dort der Horizont, hier die Orientierung. In den letzten 17 Jahren ist die Demarkationslinie zu ganzen Feldern geworden, alles darf scheinbar betreten und damit abgegrast werden, aus dem Schwarz-Weiß entwickelt sich ein je nach Sichtweise bunter oder grauer Farbton.
Wenn die Enge und das unbedingt Weite parallel laufen, um sich in der Unendlichkeit zu schneiden, ist es nahe liegend, eine Jubiläums-Tagung zu Themen künstlerischer Gestaltungen dem Thema der „Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik“ zu widmen. In diesem Zusammenhang ließ sich die Hoffnung vernehmen, Reife und jugendliche Frische miteinander zu verbinden. Diesen Wunsch zunächst auch äußerlich Gestalt werden zulassen, machte sich eine Gruppe durch die Frühlingssonne gestärkter Studentinnen und Studenten der Dresdner Musikhochschule auf, um ihre jugendliche Reife in den Dienst der Welt des Unbekannten zu stellen. Pluralistisch in Motivation und Erwartung, war man doch in jedem Falle gefasst, sich mit dem Unbekannten auseinandersetzen zu können. Anlässe dafür gab es sowohl auf inhaltlichen Gebieten, als auch durch die Gegenwart so mancher Grandseigneurs der Neuen Musik. Da konnte um das von Harry Lehmann umrissene Konzept der „Zweiten Moderne“ gestritten werden, oder im Angesicht Hans Zenders die größtenteils andächtigen Studenten ein Hauch der Geschichte der neuen Musik umwehen. Bestnoten in den Bereichen Unterhaltungswert, Selbstpräsentation und Unantastbarkeit mussten dabei in diesem Jahr an Claus-Steffen Mahnkopf verliehen werden. Viele Stimmen ließen sich vernehmen, die über den hohen Anteil an studentischer Präsenz erfreut waren – eine immer noch zu geringe Anzahl angesichts der Ausrichtung und des Potentials dieser Tagung: pädagogische Impulse zu erhalten, ein Rüstzeug für den Umgang in der Vermittlung zeitgenössischer Musik zu erwerben, ein flammendes Plädoyer für eine durch nichts als durch den Menschen selbst zu rechtfertigende Kunst zu erleben, Referenten mit studentisch unbefangenen Fragen behelligen zu dürfen, Personen gegenüber zu sitzen, die die heutige Kunst mitprägen, um etwas von ihrem Menschsein erfahren und somit die Namen von Notenmaterialien und CD-Titeln mit konkretem Leben füllen zu können.
Der Treffpunkt Darmstadt ist gerade zur Frühjahrstagung kein Geheimbund für Komponisten und Musiktheoretiker, sondern bietet jedem Musiker, der vier Tage auf das Üben im stillen oder lauten Kämmerlein zu verzichten bereit ist, die Möglichkeit, den Blick zu weiten; natürlich hat so eine musikbetrachtende Tour de force Durchhänger, darin nicht unähnlich dem Studienalltag, natürlich glaubt man nach dem dritten Tag, dass es nun Zeit wäre, die Tagungsstätte niederzubrennen und endlich die Institutswiese schlafender- oder spielenderweise ganztägig in Besitz zu nehmen. Aber man wird ein besserer Musiker sein.
Ein junger Pianist fragte einmal Johannes Brahms: „Meister, wie kann ich ein noch besserer Musiker werden?“ Der so Angesprochene konnte nur antworten: „Üben Sie täglich zwei Stunden weniger und lesen dafür ein gutes Buch!“ Eine Darmstädter Tagung kann wie ein gutes Buch sein. Und das Prinzip des Mythos ist Wiederholung.