Den entscheidenden Impuls gaben die Japaner: In den 1960er-Jahren bekam man in Westdeutschland einen Schrecken, als sich herausstellte, dass im Fernen Osten bereits Vorschulkinder musikalisch unterrichtet wurden. Eine Delegation des Verbandes Deutscher Musikschulen traf sich daraufhin mit Vertretern der Firma Yamaha. Es folgte das erste offizielle Lehrwerk „Curriculum Musikalische Früherziehung“. Die Weimarer Professorin für Rhythmik und Elementare Musikpädagogik, Marianne Steffen-Wittek, zeichnet die Entwicklungen nach, die ihr pädagogisches Fachgebiet seitdem durchlaufen hat – bis hin zum neuen Lehrwerk „timpano“, das Anfang 2016 veröffentlicht wurde. Sie spricht auch über ihr Engagement an Grundschulen und Unterrichtsstrategien.
Frau Prof. Steffen-Wittek, was ist eigentlich der Unterschied zwischen Musikalischer Früherziehung und Elementarer Musikpädagogik?
Musikalische Früherziehung ist neben der Musikalischen Grundausbildung der ältere und engere Begriff. Elementare Musikpädagogik dagegen ist die jüngere, umfassendere Bezeichnung für ein modernes, künstlerisch-pädagogisches Ausbildungsfach an Musikhochschulen. Nachdem sich die Funktionäre des Musikschulverbandes in den 1960er-Jahren über Musikalische Früherziehung an den Yamaha-Musikschulen kundig gemacht hatten, wurden in Westdeutschland renommierte Musikpädagogen beauftragt, das Lehrwerk „Curriculum Musikalische Früherziehung“ zu entwerfen, das nach einem groß angelegten Modellversuch Ende der 60er Jahre auf den Markt kam. Es war sehr eng gestrickt und wurde von den Rhythmik-Lehrkräften abgelehnt. In der Rhythmik – das Fach, das ich vor meinem Schlagzeugstudium absolviert habe – wurde bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts Musikalische Früherziehung angeboten, und es wurden auch alle anderen Altersgruppen in die außerschulische, bewegungsbasierte Musikpraxis einbezogen. Dabei wurde ein prozessorientiertes, künstlerisch-improvisatorisches Konzept vertreten. Allerdings gab es um 1970 nicht viele Rhythmiker/-innen, man konnte den neuen Musikschul-Markt nicht mehr bedienen.
Wie ging die Entwicklung dann weiter?
Es gab also einen hohen Personalbedarf, aber zu wenige ausgebildete Lehrkräfte. Daraufhin fingen die Musikhochschulen an, neben der Rhythmik das Fach Musikalische Früherziehung – kurz MFE – einzurichten. Zunächst führte es ein Schattendasein, doch im Laufe der 70er und 80er Jahre entwickelte es sich zum Hauptfach. In dieser Zeit erfolgte auch eine Umbenennung: In Nordrhein-Westfalen nannte man es „Allgemeine Musikerziehung“, in Süddeutschland hieß es – durch die dortige Orff-Tradition bedingt – „Elementare Musikerziehung“. Andere Hochschulen blieben noch beim Begriff MFE. Parallel dazu gab es immer auch das Hauptfach Rhythmik. 1994 wurde dann der „Arbeitskreis Elementare Musikpädagogik an Hochschulen“ gegründet, in dem sich alle Fachvertreter – auch viele Rhythmikerinnen – zusammenfanden.
Ein Jahr später führte Sie der Weg nach Weimar …
Ja, es gab Ausschreibungen für eine Rhythmik-Professur und für eine Professur für Musikalische Früherziehung. Im Bewerbungsprozess wurde die erste Professur gestrichen – da wurde ich gebeten, mich für beide Fächer zu bewerben. Als ich den Ruf erhielt, gab es hier nur einen Ergänzungsstudiengang MFE. Bei dieser Fachbezeichnung konnte es aus meiner Sicht nicht bleiben, weil wir Rhythmiker mit allen Altersgruppen von 0 bis 99 arbeiten und die Studierenden entsprechend breit ausgebildet werden sollten. In der Fachliteratur zur Musikalischen Früherziehung etablierte sich der Begriff „Elementare Musikpädagogik“ (EMP) allmählich und wurde identitätsstiftend für die Hochschulausbilder. In der modernen EMP arbeiten wir nicht nur im Vorschulbereich, sondern mit allen Altersgruppen, wie es in der Rhythmik, dem Fachgebiet für die bewegungsorientierte Musikpraxis, immer schon üblich war. Da der Weimarer Masterstudiengang stark durch die Rhythmik geprägt ist, heißt er bei uns auch „Master of Music EMP/Rhythmik“.
Das heißt, der Begriff „Elementare Musikpädagogik“ hat sich durchgesetzt?
Heute ist die EMP als Begriff gängig und vorherrschend. Nur an Musikschulen spricht man noch von der Musikalischen Früherziehung, denn es ist ein jahrzehntelang geprägter Begriff, der die Eltern anzieht. Wir Fachvertreter arbeiten allerdings daran, dass er bald entbehrlich wird. Im März 2016 ist ein neues Lehrwerk namens „timpano“ auf den Markt gekommen, das für die Musikpraxis mit Kindern von null bis zehn Jahren entwickelt wurde. Ich gehöre mit vier weiteren Professorinnen und Professoren der EMP sowie Dr. Kitty Schmidt – sie hat in Weimar den Musikkindergarten mit aufgebaut – zum Autorenteam. In dieser Publikation taucht der Begriff „Musikalische Früherziehung“ nicht mehr auf, wir sprechen stattdessen von „Elementarer Musikpraxis“. Das neue Lehrwerk, das im Bosse Verlag erschienen ist, fußt auf den Grundlagen der modernen Elementaren Musikpädagogik und der Rhythmik und versteht sich als ein künstlerisch offenes Konzept mit verschiedenen Themenkreisen, Anregungen und Angeboten, die nur von ausgebildeten Lehrkräften adäquat umgesetzt werden können.
Praktizieren Sie mit Ihren Studierenden diese „Elementare Musikpraxis“ an Schulen?
Ja, wir nennen das allerdings „Musik und Bewegung mit Grundschulkindern“. Darin ist die Elementare Musikpraxis enthalten, da wir auch Klänge erforschen, mit Musikstrukturen experimentieren und musizieren. Wir pflegen einen intensiven Kontakt zur Freien Ganztagsgrundschule „Anna Amalia“ in Weimar, und im letzten Semester haben wir in der Louis-Fürnberg-Grundschule Projekte durchgeführt. Dabei griffen wir bestimmte Themen wie Comics auf: Wie kann ich über ein außermusikalisches Thema Kinder dazu anregen, ihre eigenen Ausdruckspotentiale in der Bewegung, mit der Stimme oder am Instrument zu entdecken?
Und wie funktioniert das beim Thema Comics?
Comicfiguren bieten vielfältige Dimensionen von Klang- und Bewegungsmaterial an. Man kann mit körpersinnlichen Energien spielen, die auch in der Musik wichtig sind. Es gibt in der Bewegungspädagogik sogenannte Laban’sche Antriebselemente, die heißen Peitschen, Stoßen, Drücken, Wringen, Schweben, Gleiten, Tupfen und Flattern. Sie lassen sich kategorisieren nach Raumverhalten, Zeit, Schwerkraft, Bewegungsfluss. Für Kinder müssen wir das dann fassbar machen, zum Beispiel indem wir mit Bildern arbeiten.
Wie bereiten Sie Ihre Studierenden auf das spätere Berufsleben vor?
Es ist sehr wichtig, dass sie bewegungsmäßiges und musikalisches Können auf höchstem Niveau entwickeln. Dazu gehören die Improvisationsfähigkeit in Musik und Bewegung, das transkulturelle Arbeiten und der Medientransfer. Kinder sind die schärfsten Kritiker, die schalten bei schlechter Musikdarbietung sofort ab. Unsere Musik muss Überraschendes bieten, um „Spaß zu haben an der ernsthaften Erkundung der Klänge“ (im Lachenmann´schen Sinne). Wir wollen Kinder neugierig machen auf Musikstrukturen und auf Ausdruckspotentiale verschiedener Genres und Kulturen. Unsere Masterstudierenden haben bereits ein Studium hinter sich, Instrumental- beziehungsweise Gesangspädagogik oder Schulmusik. Sie arbeiten bei uns daran, ihr Können in diesem neuen Kontext künstlerisch flexibel einzusetzen.
Das Interview führte Jan Kreyßig