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Von Winterreisen und Höhenflügen

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Sven Hannawald bei den Dresdner Meisterkursen Musik 2016 – ein Resümee
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Können. Mut. Disziplin. Ehrgeiz. Diese Eigenschaften bescheinigte man Sven Hannawald schon in Kindertagen. Sie verschafften ihm später als Skispringer gigantische Erfolge. Bis der Ehrgeiz sein ganzes Leben ins Wanken brachte.

Können, Mut, Disziplin, Ehrgeiz braucht auch, wer als Musiker auf der Bühne agieren will. Mit allen Chancen, allen Gefahren. Die Parallelen zum Leis­tungssport liegen auf der Hand: Tagtägliches Trainieren ab den frühen Kinderjahren, entsprechendes Talent und die Fähigkeit, Leistungen punktgenau und „unter Beobachtung“ abrufen zu können, braucht man für beides. Was den Organisatoren der im Sommer veranstalteten Dresdner Meisterkurse Musik (DMM) 2016 Anlass war, Sven Hannawald in die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber einzuladen. In einem Podiumsgespräch mit Prof. Dr. Florian Uhlig – der Prorektor für Künstlerische Praxis ist neuer Projektleiter der DMM – und dem Leiter des Instituts für Musikermedizin Prof. Dr. Hans-Christian Jabusch stand der Sportler Rede und Antwort. Für die DMM, die in ihrem 4. Jahrgang unter dem Motto „WEG->WEISE<-R“ standen, wurde der Abend zu den so ambivalenten Begriffen Höhenflüge und Talfahrten ein besonderer, den „Hochleistungssport Musik“ einmal aus anderer Perspektive beleuchtender Höhepunkt.

Ein gespanntes Publikum sitzt an jenem Dienstag Ende August im Konzertsaal. Teilnehmer und Dozenten der DMM, dazu „normale“ Gäste, sport- oder musikbegeistert oder beides. Florian Uhlig beginnt das Gespräch bei den Herausforderungen schon in Kindertagen. Sven Hannawald, 1974 im erzgebirgischen Erlabrunn geboren, in Johanngeorgenstadt aufgewachsen, stand mit drei Jahren schon auf Skiern. Die ersten Sprünge von Mini-Schanzen offenbarten die Kämpfernatur im Sechsjährigen, der Weg war eingeschlagen, der ihn als Zwölfjährigen zur Kinder- und Jugendsportschule Klingenthal führte. Der Hintergrund jener Kaderschmieden der damaligen DDR lasse sich durchaus vergleichen mit dem Prinzip der frühen Talenteförderung am der Dresdner Musikhochschule angeschlossenen Landesgymnasium für Musik, greift Florian Uhlig diese Station auf: „Hochkomplexe Einrichtungen, die tolle Leistungen hervorbringen“. Auch Hans-Christian Jabusch bezeichnet die auf der abgestimmten Verknüpfung von Schule und Training basierende Frühförderung als „sehr erfolgreich“. Wie sehe er das rückblickend, will er von Hannawald wissen. „Ich bin froh, dass ich dort sein durfte“, lautet die Antwort. „Man hatte koordiniertes Training, ohne dass die Schule auf der Strecke blieb. Für die, die das entsprechende Talent mitbrachten, war es perfekt.“ Dass ihm so auch manch kindliche Freiheit verwehrt blieb, empfindet er nicht als Verlust: „Solche Disziplin, wie sie uns dort abverlangt wurde, kann man sich im normalen Leben gar nicht aneignen“, sagt der Sportler, verweist aber auch auf die damaligen „anderen Zeiten“: Mit jener Strenge könne man vielen jungen Menschen wie Eltern heute gar nicht mehr kommen. „So bleiben aber auch viele Talente auf der Strecke, die gar nicht wissen, wie weit sie kommen könnten“, denkt Hannawald, der die sportliche Ausbildung seiner Jugendjahre nach der Wende im Skiinternat Furtwangen fortsetzte.

Nun sei es freilich nicht das schulische System allein, das den Weg zum Erfolg ebene, führt Jabusch die Diskussion weiter: „Warum werden aus einigen Menschen Experten, aus anderen nicht“, lenkt er den Blick auf Forschungen, die sich mit der Bedeutung des ersten Lehrers beschäftigt. „Er war streng“, sagt Hannawald über seinen ersten Trainer Erich Hilbig. „Aber wenn er lockerer gewesen wäre, wäre ich nicht so weit gekommen. Ihm ging es nicht nur um den technischen Ablauf des Springens, er forderte auch Pünktlichkeit und Verantwortung fürs Material bis hin zur stets geputzten Skibrille.“ Auch bei musizierenden Kindern müsse anfangs jemand da sein, der sie immer wieder zum Üben anhält, zieht Florian Uhlig wieder Vergleiche. Wann aber sei der Punkt gekommen, an dem jene Bereitschaft, Opfer zu bringen für das Erreichen einer Höchstleistung aus ihm selbst gekommen sei, geht die Frage an Hannawald. „Wenn man merkt, dass man in dem, was man tut, gut ist, erwächst die sehr schnell“, so der Sportler und erinnert sich, dass er schon als Kind bei jeder Schanze, an die er kam, nach dem Schanzenrekord gefragt habe: „Da wollte ich hin.“ Und es habe ihm nicht hoch genug sein können. „Es fühlt sich so schwerelos an, wenn man fliegt“, erklärt er seine Faszination für das Skispringen.

Doch was sich so leicht anfühlt, erforderte nicht nur unendliche Stunden im Kraftraum, zehrende Ausdauerrunden, Diäten, um möglichst leicht zu bleiben und die Kunst, trotzdem enorme Muskelkraft zu haben. Der Erfolg hängt auch von einem Moment ab, der gerade einmal 0,3 Sekunden lang ist. So viel Zeit hat ein Skispringer, um den Absprung vom Schanzentisch möglichst perfekt zu treffen. 

Sven Hannawald hat ihn viele Male perfekt getroffen, hat sich Weltmeistertitel und Olympiamedaillen geholt und erreicht, was keiner vor ihm und bislang auch keiner nach ihm schaffte: Er gewann im Winter 2001/02 alle Springen der Internationalen Vierschanzentournee. Das machte ihn zur Legende. Doch es war ein Leben am Limit. Florian Uhlig verweist auf Messungen bei Skispringern kurz nach dem Sprung. Die Werte ergaben einen um das Vierfache erhöhten Adrenalinspiegel im Vergleich zum Normalzustand. Das kommt einer Todesangst gleich. „Angst ist ein aus Urzeiten herrührender Schutzmechanismus: Sie befähigt uns, so zu reagieren, dass wir uns selber schützen können“, erläutert der Mediziner Jabusch und zieht erneut Parallelen zu Musikern: „Die haben ähnliche Erfahrungen, wenn auch nicht so ausgeprägt.“ Sie haben es mit Publikum zu tun oder einer Prüfungssituation, nicht freilich mit einer Sportart, in der ein einziger Fehler fatale Folgen für die körperliche Unversehrtheit haben kann. „Zum Fliegen ist der Mensch grundsätzlich erstmal nicht ausgestattet. Von einem Flügel aber stürzt man in der Regel auch nicht ab“, umschreibt es Jabusch humorvoll. Womit aber Musiker und Sportler gleichermaßen umgehen müssen, sei die Angst vor dem Versagen. Und wenn die Aufregung ein bestimmtes Niveau überschreite, blockiere sie, statt Kräfte zu mobilisieren.

Darum: Auch wenn Sven Hannawald sagt, er habe zwar Respekt, aber nie Angst vor dem Springen gehabt – jene Versagensangst hat eine Rolle gespielt im weiteren Verlauf der Karriere, denn sie entspringt einer Erwartungshaltung. Der eigenen und jener, die Außenstehende an den Überflieger herantragen. Und Erwartungshaltungen – in der Oberliga beider Professionen zusätzlich verstärkt durch auf Erfolg anspringende Medien – erzeugen Druck.

Sven Hannawald hat sich vor allem selber welchen gemacht: „Ich habe nie abschalten können, 24 Stunden am Tag drehte sich alles ums Skispringen. Auf der Heimfahrt nach einem Wettkampf war ich schon auf den nächsten fokussiert. Andere sind erstmal zu ihrer Familie gefahren. Wenn ich das mal gemacht habe, hat sich das gut angefühlt. Aber wehe, der nächste Wettkampf wäre schlecht ausgegangen.“ Dass er sich ständig müde fühlte, sich selbst nicht mehr kannte, seine Leistungen eben nicht mehr punktgenau abrufen konnte, brachte er zunächst nicht mit dem Ehrgeiz in Verbindung. Doch alle körperlichen Untersuchungen blieben ohne Diagnose. Erst ein Psychosomatiker sprach sie aus: Burnout. „Der Begriff sagte mir damals nichts. Ich war froh, dass es jetzt einen Grund für alles gab und dachte, dass ich nach den acht Wochen Therapie mein Leben einfach weiterleben könnte.“ Konnte er nicht. Die Blase, in der immer nur Rekorde und Gewinne zählten, platzte. „Der jahrelange Drang zur Perfektion forderte seinen Tribut“, resümiert der Sportler, der schließlich 2005 seine Profikarriere beendete.

Dass er durch tiefe Täler gegangen ist, hat der 42-Jährige nie verheimlicht. Mittlerweile gibt es ein Buch über seine erzwungene Landung im wirklichen Leben. „Als Hochleistungssportler ist man in einer ganz eigenen Welt, so wie Musiker ja auch“, schätzt Hannawald ein und findet Bestätigung bei Uhlig wie Jabusch. Für letzteren ist das Thema Selbstüberforderung überaus interessant: „Das ist auch bei Musikern ein häufiges Problem, das kann bis zur Selbstzerfleischung gehen. Dass man auch gut zu sich selber sein muss, diese Einsicht kommt in solch leistungsorientierten Berufen immer wieder abhanden. Auch gibt es den sozial verorteten Perfektionismus unter dem Motto: Die anderen mögen mich nur, wenn ich perfekt bin. Der Musiker übt in jeder freien Minute, nimmt immer mehr Konzerte an, bis es nicht mehr geht. Wenn wir dann nur den schmerzenden Unterarm behandeln, ist das eigentliche Problem noch vorhanden“, warnt Jabusch und verweist auf die große Verantwortung, die sich für Pädagogen, Mediziner und all die Menschen im Umfeld der Betreffenden ergibt.

Wohin übermäßiger Ehrgeiz ohne Ausgleich führen kann, beschreibt Hannawald so: „Ich habe mich selbst bei Siegen über technisch nicht perfekte Sprünge geärgert, statt mich über die Goldmedaille zu freuen. Als Pianist wäre ich vielleicht auch so geworden: Über zwei Stunden schönes Konzert hätte ich mich nicht freuen können, wenn nur ein falscher Ton dabei gewesen wäre.“ „Fehlerfreundlichkeit“ nennt Jabusch die Gegenstrategie zur Vermeidung solch selbsterzeugten Drucks. Das Zulassen von Fehlern also, ihr Begreifen als Chance zum Lernen.

Damit ist der offizielle Schlusspunkt gesetzt unter einem eindrücklichen Gedankenaustausch. Dem Dreiergespräch folgte für das Publikum die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Die zielten in viele Richtungen: Wie er es heute erlebe, Skispringen zu schauen? Wie er es mit Ritualen gehalten habe? Und ob er sich dort oben auf dem Schanzentisch des Publikums bewusst gewesen sei, fragte mit Norbert Anger, Konzertmeister der Violoncelli in der Sächsischen Staatskapelle Dresden, einer, der diese Konfrontationssituation bestens kennt. „Natürlich weiß man, dass unten tausende Menschen stehen und gespannt sind. Das motiviert, aber es schürt auch den Erwartungsdruck“, war Sven Hannawald da wieder bei jenen Begriffen, mit denen Musiker wie Sportler zurechtkommen müssen.
 

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