Am 22. Oktober 2022, dem 211. Geburtstag von Franz Liszt, wurde dem Pianisten Evgeny Kissin die Ehrendoktorwürde des Instituts für Musikwissenschaft Weimar-Jena an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar verliehen. Diese Ehrendoktorwürde erhielt er für seine hervorragenden und außergewöhnlichen künstlerischen pianistischen Leistungen, insbesondere auch in Verbindung seiner Verdienste um die Vermittlung des pianistischen Œuvre von Franz Liszt. Anlässlich des 150. Jubiläumsjahres der Hochschule für Musik Franz Liszt war es schließlich naheliegend eine internationale pianistische Persönlichkeit auszuzeichnen.
Evgeny Kissins literarische Tätigkeiten in der jiddischen Sprache wurden zusätzlich gewürdigt, ebenso wie die Bemühungen, sich durch sein musikalisches Wirken für einen „Humanismus in der Welt“ einzusetzen.1 Dieser „musikalische Humanismus“ regt weiter dazu an, über die ethische Rolle von Musik nachzudenken, gerade in unseren Tagen, wo alte Weltordnungen aus den Fugen zu geraten drohen.
Was ist musikalischer Humanismus?
In erster Linie geht es um eine Grundhaltung, die sich frei von dogmatischer Verfestigung in musikalischer Praxis, in der Vermittlung von Musik und kraft einer vertieften geistigen Auseinandersetzung mit ihr zum Ausdruck kommt. Musikalischer Humanismus ist folglich die Anerkennung dessen, dass Musizierende sowohl die Freiheit als auch die Verantwortung haben, ihrem Leben Sinn zu geben, indem sie sich selbst und auch die Gemeinschaft musikalisch bereichern.
Die Geschichte Europas, insbesondere seine Denkgeschichte, ist von einem Humanismus geprägt, bei dem auf den Ursprung der abendländischen Kulturgeschichte im antiken Griechenland verwiesen wird, das in der Renaissance wieder aufgegriffen und bis in das 20. Jahrhundert hinein in immer wieder neuen Ausformungen, bis hin zur Abfassung der Menschenrechtskonvention 1948, eine Rolle spielte. Es geht dabei um den Menschen, um seine Beziehung zur Gemeinschaft, zu Geschichte und Umwelt.2
Doch die Beschäftigung mit Musik, vor allem dort, wo das Musikerbe lebendig gehalten wird und sowohl Talent als auch komplexes Wissen darauf beruhen, belegt schon lange, dass der Mensch durch Musik über sich hinaus tritt, dass Musikinstrumente den menschlichen Körper ergänzen, dass sich das Bewusstsein im Moment des Musizierens, aber auch des Rezipierens, grundlegend erweitert.3 Die Erfahrungen, die hier greifen, sind anders als durch Musik nicht zu erreichen. Sie spielen auch bei der Weitergabe von musikalischem Wissen von einer in die nächste Generation eine bedeutende Rolle. Weil Musik als ein auf uns einwirkender Klangfluss mit vielen ihn bestimmenden Faktoren darstellt, beinhaltet ein musikalischer Humanismus vieles, was in einem rein philosophischen Humanismus vorerst nur angelegt ist.4
Die Faktoren, die bei der Ehrenpromotion und dem Konzert in Weimar zusammen kamen, waren tatsächlich sehr unterschiedlich. Von Kissin erklangen zwei Kompositionen, sein Streichquartett op. 3, gespielt vom Weimarer „Gropius-Quartett“ (drei der Mitglieder sind Professoren an der Hochschule) und sein neues op. 6, ein Klaviertrio, dessen endgültige Fassung in Weimar uraufgeführt wurde, gespielt von den Professoren Friedemann Eichhorn, Violine und Wolfang Emanuel Schmidt, Violoncello. Kissin selbst war am Klavier.
Frühe Erfahrungen
Kissin ist bisher in seinen Äußerungen und in seinem Auftreten stets außergewöhnlich gewesen – außergewöhnlich zurückhaltend, außergewöhnlich präzise, nun aber auch außergewöhnlich offen und direkt. Als Wunderkind, das von Mutter und von der (einzigen) Klavierlehrerin bis in das Erwachsenenalter umhegt, geradezu abgeschirmt wurde, wirkte er zunächst scheu, war wortkarg, ganz im Gegensatz zu seinem ungewöhnlich früh monumental anwachsenden Klavierspiel.
Für die Aufnahmeprüfung an der Gnessin Music School in Moskau spielte der 11jährige die Rhapsodie Nr. 12 von Franz Liszt, die er sich jedoch nicht von Noten, sondern von Gehör angeeignet hatte. Ein außergewöhnlicher Vorgang, zumal für ein Kind. Dafür nutzte er eine Einspielung aus der elterlichen Plattensammlung des amerikanischen Pianisten Van Cliburn. Die Aufnahmeprüfung hat er u.a. mit diesem Stück bestanden. Somit spielt Franz Liszt von Anbeginn eine wichtige Rolle im Repertoire von Evgeny Kissin, und dies auf eine besonders sinnliche Weise.
Kissin hielt sich zeitlebens von formalen Institutionen weitgehend unabhängig. Die einzige Musikakademie, die er besuchte, war ihm wegen Anna Kantor, seiner Lehrerin wichtig. Als Kissin erstmals in den USA auftrat schrieb ein Rezensent der New York Times über ihn: „Anders als sämtliche berühmte russische Pianisten, hat dieser junge Pianist den großen Vorzug, nie an einem internationalen Pianowettbewerb teilgenommen und auch nicht am Moskauer Tschaikowski Konservatorium studiert zu haben.“ Diese von Beginn an gelebte Unabhängigkeit Evgeny Kissins prägt den ihm eigenen musikalischen Humanismus.
Dieser ist auch noch dadurch gekennzeichnet, dass Kissin die Literatur, die Poesie, die Philosophie, die Politologie und die Gesellschaftswissenschaften nutzt um über Musik hinaus zu denken, nicht um sie zu verlassen, sondern um ihr sogar noch näher zu kommen. Vertiefte Gespräche mit ihm werden oft zu einem Gang durch die Literaturgeschichte, die russische wie auch die Literatur der Welt, anregend, erleuchtend und musikalisch bildend zugleich. Musikalisches Kulturerbe ist hier zugleich lebendige kulturelle Vielfalt.
Erinnerung und Memorial
Doch was kann Musik im Hinblick auf Krieg und Barbarei ausrichten? Für Kissin ist der Überfall Russlands auf die Ukraine ein Einschnitt in seine Einstellung zum Leben und damit zur Musik.
In seiner frei vorgetragenen Weimarer Dankesrede – nach den Laudationen und der Übergabe der Promotionsurkunde5 – brachte der Pianist seine Haltung über die russischen Hintergründe der jüngsten Verwüstungen in der Ukraine auf den Punkt. Als Russe geht ihn das Geschehen gesteigert an, es berührt ihn direkt emotional. Was heißt es daher künftig für ihn auf einer Bühne zu stehen, wenn Musik das gegenwärtige Weltgeschehen nicht mehr ausklammern kann und darf? In seiner Ansprache prangerte Kissin das russische Staatsoberhaupt dreimal an, unter Hinzufügung der hebräischen Exklamation: Yimakh shmo — “sein Name werde getilgt!,” was einer damnatio memoriae, der Ausmerzung jeglichen Gedenkens gleichkommt. Was kann tragischer für eine Person sein als sich ausgelöscht zu wissen, als die vollkommene Vernichtung der eigenen Denkmäler? Dies ist jedenfalls die jüdische Antwort auf Menschenverachtung, ist die absolute Negation jeglichen Gedenkens für die Verantwortlichen an Verbrechen an der Menschlichkeit.6
Musik verhält sich umgekehrt zu dieser jüdischen Negation. In ihrer immateriellen Natur sind bleibende Werte und ein nachhaltiges Wirken gebunden, d.h. Musik steht für menschliche Werte und für das Wirken von Menschen für Menschen. Musik ist demnach Kultur, die auskomponiert wird und so auf tiefgründige Weise das Gedächtnis “vor dem Vergessen bewahrt”. Dies macht ihren Humanismus aus.
Haltung durch Musik
„Wenn die Ukraine verliert, verliert die ganze Welt,“ betitelte die Hamburger Abendpost kürzlich ein Interview mit Evgeny Kissin.7 In anderen Worten ließe sich auch sagen: „wenn die Musik verstummt, verstummt die ganze Menschheit.“
Im öffentlichen Rampenlicht stehende, bekannte Musikerinnen und Musiker, zumal aus Russland, haben sich zuletzt oft schwer in der politischen Einordnung getan. Das ist verständlich, denn seit der russischen Invasion der Ukraine ist ihre Bewertung, die entweder in die eine oder in die andere Richtung, entweder in das Für oder das Wider mündet, Mediengemacht, kommt in Talkshows und nunmehr in zahlreichen Berichten und Gesprächen vor, kann aber nicht befriedigen, schon gar keine perfekte Haltung angesichts des Unmenschlichen herbeiführen, bleibt für die Betroffenen daher meist quälend, verstörend, vor allem zutiefst unmusikalisch. Daher tut Haltung not, zumindest für diejenigen, die es sich leisten können.8
Bemerkenswert wie sich Kissin bisher mit seinem Spiel aber auch mit seinen Worten in der gegenwärtigen Weltaffäre zu behaupten vermochte. Er tut dies, indem er der Situation frontal begegnet. Doch nicht allein mit Worten, sondern in einer Attitüde, in der Art und Weise wir er nunmehr auf die Bühne tritt, sein Repertoire aussucht. Vor allem auch darin wie er die inhaltlich-thematische Arbeit seiner eigenen Kompositionen plant.
Der Komponist
Künstler und Denker haben immer wieder daran gerätselt wo angesichts von Krieg, Ausbeutung, Völkervernichtung und Barbarei der Humanismus und die Menschlichkeit geblieben sind.9 Ähnlich wird auch heute wieder gefragt. Kissin begegnet diesen Fragen vor allem als Komponist. Am abend des 22.10.2022 trat er in der doppelten Funktion von Komponist und Interpret auf.
Das Klaviertrio op. 6 von Evgeny Kissin wurde im August 2022 fertig gestellt und ist als Reaktion auf den Überfall auf die Ukraine entstanden. Im 1. Satz bezieht sich die Komposition auf Krieg und Zerstörung. Indem sie das tut, ist sie zugleich ein Plädoyer gegen Brutalität und Unmenschlichkeit. Die einleitende Stimmung klingt düster, im Wechsel von Violine und Cello, zusammengehalten vom Pianopart. Das visuelle Element, das Kissin in diesen Satz einbaut, ist das „Z“, mit dem die russischen Panzer und Militärfahrzeuge gekennzeichnet sind und das in ein markantes musikalisches Motiv medial transponiert wird.
Musik zeigt, dass sie mehr darstellt als ausschließlich Symbol, weil sie auch wie ein Skript zu Aussagen in der Lage ist, und diese können sehr konkret sein. In Kissins op. 6 ist es z.B. das mit der Faust (col pugno) im fortíssimo geschlagene Klangcluster im Bass, das förmlich Entrüstung ausdrückt, zugleich Raketen- und Granateneinschläge klanglich nachzeichnet. Seine Musik beschreibt nicht nur, sie empfindet nach.
Diesen Gemütszustand bringt Kissins Klaviertrio in die Nähe zu Kompositionen von Schostakowitsch, beispielsweise das e-Moll Klaviertrio op. 67 von 1944. Die musikalischen Mittel sind in op. 6 von Kissin wieder da, ihr „Sinnreservoire“ erneut vorhanden, die Bedeutung hat sich jedoch verschoben. Keine versteckte Anspielung, wie sie Schostakowitsch später insbesondere in seiner 9. Sinfonie gegen Stalin artikulierte,10 sondern bei Kissin absolut offene, geradezu plakative Anschuldigung. Der 2. Satz enthält ein ukrainisches Volkslied und ein jiddischen Thema. Gemeinsam drücken sie gewissermaßen das Leid einer gebeutelten Volksseele aus. Ebenso wie die jüdischen Elemente ist auch das im Flageolett vorgetragene Thema im Violoncello eine deutlich Reminiszenz an Schostakowitsch (Kalviertrio op. 67).
Der Finalsatz schließlich ergießt sich in ein musikalisches Feuerwerk, in das osteuropäischer Volkstanz erklingt und wo schließlich apotheotisch die ukrainische Nationalhymne aufleuchtet, oktaviert von Violine und Cello vorgetragen und vom Klavier in überwältigenden, die gesamte Tastatur abdeckenden Läufen im Fortissimo dem erlösenden Ende entgegen gesteuert wird. Den Komponisten hier selbst am Klavier erlebt zu haben, wurde zu einem Höhepunkt des Abends.
Am Ende ruft die Komposition von Kissin die Frage auf, ob der Krieg überhaupt nötig war, um solch überzeugende Musik entstehen zu lassen. Kann denn auch Barbarei die Triebfeder für ästhetische Werke sein? Ein Blick in die Musikgeschichte, auch in Musikkulturen weit jenseits des abendländischen Raums bestätigen es.
Nähe und AbschiedFür die Studierenden war die akademische Feier mit Evgeny Kissin nicht bloß eine einzigartige Gelegenheit den Weltstar hautnah zu erleben – sich Autogramme von ihm geben zu lassen und Selfies zu machen. Sie und das gesamte Publikum waren von der Direktheit der Worte und der Intensität der Komposition und ihrer Aufführung tief beeindruckt, nicht mehr nur Zuhörende, sondern wurden im Moment der Klangwerdung der Komposition von Kissin in einem humanistischen – einige sagen „post-humanistischen“ – Sinne selbst Teil dieser Musik.11
Am Ende seines mehrtägigen Aufenthaltes in der Goethe-Stadt Weimar – in seiner politisch geschärften Wahrnehmung die Stadt der „Weimarer Republik“ – konnte Kissin eine für ihn neue Nähe zu Franz Liszt finden. Beim Besuch von Liszt’s Wohnung am Belvedere Park wurde Kissin plötzlich gewahr, dass er in den Räumen stand, in denen Franz Liszt fast 20 Jahre seines Lebens gewohnt und gewirkt hatte. Kissin kam mit der Aura von Liszt förmlich in Berührung. Das Bett Franz Liszts, das auf dem gegenüberliegenden Tischchen befindliche Porzelanwaschbecken waren einige der vielen Objekte, die plötzlich eine besondere Symbolkraft bekamen und damit auch eine unvermittelte Nähe zu Liszt herstellten.
Den Rundgang abschließend begutachtete Kissin ehrfürchtig den für Liszt von der Klaviermanufaktur Bechstein eigens hergestellten Flügel im Musik- und Arbeitszimmer. Da geschah das unvorhergesehene und doch für einen Künstler wie Kissin selbstverständliche: er setzte sich auf den Klavierhocker, richtete ihn ein, berührte oberflächlich kurz die in Messing eingelegten Buchstaben des Markenschildes Bechstein, wischte sacht mit den Fingerkuppen über die Tastatur, um dann zum Spiel anzusetzen, sich ganz zu versinken, in Franz Liszts „Liebestraum“ Nr. 3…
Und damit verabschiedete sich Evgeny Kissin von Weimar.
Anmerkungen:
1) In Weimar erhielt Kissin erstmals eine europäische Doktorwürde. Bisher hatten ihn damit Universitäten in Israel, in Hong-Kong und die Manhattan School of Music ausgezeichnet.
2) Selbstverständlich lässt eine kritische Historiographie die parallelen Entwicklungen – von Inquisition über Kriege bis Kolonialismus und dem damit zusammenhängenden Nord-Südgefälle nebst ökonomischer Ausbeutung etc. – nicht unbeachtet.
3) In den Geistes- und Sozialwissenschaften fand mittlerweile eine konzeptuelle Erweiterung als „Post-Humanismus“ statt, jenseits des alleine auf den menschlichen Körper fokussierte Sicht menschlichen Denkens und Kultur. Siehe u.a.: Ferrando, Francesca: “Posthumanism, Transhumanism, Antihumanism, Metahumanism, and New Materialisms: Differences and Relations.” Existenz 8 (2), 2013, 26–32.
4) Josep Marti: ”Beyond Representation: Relationality and Affect in Musical Practices” Journal of Posthuman Studies , Vol. 3, no. 2, 2019, 159-180
5) Ungewöhnlich für so einen Anlass: drei Laudationen von Prof. Gregory Gruzman:“Kissin Pianist“ (auf russisch), Dr. Diana Matut: “Kissin und das Jidische“ (auf jiddisch) und Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto: „Kissin Humanist“ (auf englisch).
6) Ähnlich hat es Ludwig Uhland hat in seiner Ballade „Des Sängers Fluch“ (1832) formuliert, wo er den brutalen und mordenden König von einem alten Barden verfluchen lässt: „…Dein Name sei vergessen, in ew'ge Nacht getaucht, Sei wie ein letztes Röcheln in leere Luft verhaucht!"
7) https://flipboard.com/article/evgeny-kissin-wenn-die-ukraine-verliert-v…
8) Der Pianist Igor Levit sagt in einem Interview es sei geradezu ein Luxus Haltung einnehmen zu können. Für ihn ist grundsätzlich Position zu beziehen ein Muss. Siehe: https://flipboard.com/article/es-ist-unser-verdammter-luxus-das-tun-zu-…
9) Unter anderen versuchte Martin Heidegger mit seinem „Brief an den Humanismus“ von 1947 eine Antwort darauf zu finden. Siehe Martin Heidegger: „Brief über den ‚Humanismus’“ in: ders.: Wegmarken, Frankfurt / Main. 21978, 311–30. 8
10) Dazu Solomon Wolkow: Stalin und Schostakowitsch: Der Diktator und der Künstler. Berlin, 2004
11) Dazu Josep Marti, 2019