Der Saal wird dunkel, die Stimmen im Publikum verebben und die Scheinwerfer tauchen die Bühne in helles Licht. Zwei Musiker*innen betreten die Bühne. Sie schauen sich an, atmen und beginnen zu spielen. Das, was wir beim Üben, in Proben oder Konzerten tun, läuft oft unbewusst und automatisiert ab. Wir wissen, wie ein Lagenwechsel funktioniert, wie der Atem in einer Gesangsphrase einzuteilen ist oder der schwierige Lauf auf dem Klavier gelingt. Wir wissen um unsere Mitspieler*innen, um besprochene Details in der Interpretation, wir reagieren auf kleinste körperliche Nuancen, nehmen Stimmungen in uns, in unserem Ensemble und im Publikum wahr und setzen diese produktiv im Moment der Performance um.
So deutlich wir dieses künstlerische Wissen spüren und darauf zurückgreifen, so wenig können wir dieses benennen, erklären oder gar einfach nur in Worte fassen. Künstlerisches Handeln passiert aber nicht willkürlich oder als bloße Imitation. Das, was Musiker*innen oder Tänzer*innen tun, ist strukturiert und wissensbasiert und gleichzeitig entzieht sich dieses Wissen oft einer allgemeinen Überprüfbarkeit. Entscheidungen können zum Beispiel unausgesprochen, intuitiv oder auf der Basis eines körperlichen Dialoges getroffen werden. Praktisches Wissen beruht auf Erfahrungen, es wird durch Routinen vermittelt, in Theorien des Lernens festgehalten, und ist eng verknüpft mit den am Aufführungsprozess beteiligten Ausführenden und ihren Vorstellungen, Imaginationen und Begriffen, mit dem verwendeten Material und mit dem Raum, in dem die Performance stattfindet. Diesem stillen, verkörperten Wissen von Künstlerinnen und Künstlern widmet sich die künstlerische Forschung.
Schillerndes Feld
Künstlerische Forschung ist ein schillerndes Feld, mit einer langen, internationalen Tradition und einer ausgeprägten gegenwärtigen Praxis. Die Hochschule für Musik und Tanz Köln beschäftigt sich bereits seit einigen Monaten verstärkt mit diesem Thema und gründete zu Beginn des Jahres 2019 einen eigens dafür vorgesehenen Forschungsbereich – das Forum Künstlerische Forschung. Dieses Forum Künstlerische Forschung ist eine hochschulweite Forschungseinrichtung, die dazu beitragen soll, künstlerische Prozesse verstärkt zu reflektieren und zu erforschen. Grundlage ist ein offener Forschungsbegriff, der das künstlerische (musikalische oder tänzerische) Handeln selbst als eine Form der Wissensproduktion versteht – ein Wissen, das meist tief verinnerlicht, vorbewusst und vor allem stark verkörpert ist. Künstlerische Forschung setzt an den impliziten und verkörperten Praxisformen an, möchte diese experimentell sichtbar machen und damit die Kunst selbst aber auch das Wissen über die Kunst verändern. Die Entwicklung eines „forschenden“ Blicks auf künstlerische Prozesse soll dazu beitragen, künstlerische und wissenschaftliche Perspektiven unmittelbar in Resonanz zu bringen und Studierenden und Lehrenden neue oder ungewohnte Impulse für ihre Arbeit zu geben. Und dabei geht es um mehr als werkanalytische, biographische, kulturell-historische oder formspezifische Analysekategorien, die wir an Musik oder an künstlerisches Material herantragen.
Künstlerische Forschung stärkt die Stimme des Interpreten bzw. der Interpretin und geht davon aus, dass das spezifische, situative Erfahrungswissen der Spielenden im Prozess des Aufführens und des Öffentlichwerdens für das Begreifen der Entstehung von Musik enorme Wirksamkeit und Bedeutung hat. Körperlichkeit, Materialität, Situiertheit und Performativität des künstlerischen Handelns rücken in das Zentrum des Interesses. Damit verbindet Künstlerische Forschung meist getrennt gedachte Phänomene wie die Entstehung und Präsentation von Erkenntnis und verhandelt die Rollen von forschendem Subjekt und erforschtem Objekt neu, eine Entwicklung, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften längst Umsetzung findet. Der forschende Künstler/die forschende Künstlerin agiert in einer Doppelfunktion und kombiniert in zyklischen Verfahren Praktiken des Tuns, des kritischen Reflektierens und Benennens und des Wiederaufführens miteinander.
Breite Palette
Künstlerische Forschung nutzt eine breite Palette an individuellen und kollaborativen Forschungsformaten: Labore, Experimente, empirische Feldforschung, Intervention, kritische Reflektion, Action Research, qualitative Forschung. Common sense ist, dass das künstlerische Handeln selbst Ausgangspunkt des Forschens ist. Prinzipien einer guten wissenschaftlichen Praxis sowie eine fundierte Methodologie sind für ein Forschungsprojekt unerlässliche Voraussetzungen. Darüber hinaus sollen gezielt neue Publikationsformen (Video-Artikel etc.) entwickelt und etabliert werden, die die künstlerischen Forschungsprozesse dokumentieren und die Vernetzung mit anderen Hochschulen fördern. Künstlerische Forschung bringt die künstlerische Identität der Studierenden neu zur Entfaltung. Mit dem großen selbstreflexiven Anteil wird der künstlerischen Entwicklung Aufmerksamkeit geschenkt: Haltungen, Ideen und Konzepte zur künstlerischen Identitätsbildung sollen bewusst angeregt werden, auch mit Blick auf künftige Arbeitsfelder und die berufliche Profilbildung.
Mit der Einführung des Labors Künstlerische Forschung im Wintersemester 19/20 gibt sich die HfMT Köln ein klares Profil: Als fachbereichsübergreifendes Netzwerk bündelt das Labor Künstlerische Forschung Seminare, Praxisangebote oder Workshops aus allen Fachbereichen und Disziplinen der HfMT Köln. Ziel ist es, ausgehend von konkreten inhaltlichen Fragen zu einem übergeordneten Thema interdisziplinäre Bezüge anzuregen. Im Rahmen eines strukturierten Konzeptes können zwischen den Fachbereichen, zwischen Wissenschaft und Praxis sowie zwischen Studierenden und Lehrenden neue Möglichkeiten der künstlerisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung entstehen. Dahinter steht die Idee, bereits bestehende künstlerisch-reflexive Vorhaben und/oder wissenschaftlich-praxisorientierte Forschungen mit gegenwärtigen Fragen und Positionen, die sich rund um das Thema „Artistic Research“ versammeln, zu verknüpfen. Im Wintersemester 19/20 widmet sich das Labor dem Thema „Zwischen Körper, Klang und Material: Das Wissen der Praxis“. Drei Themenbereiche erhalten besondere Aufmerksamkeit: Körperliche Praktiken und Wissenskonzepte, Klänge als Phänomene künstlerischen Wissens und Methoden der Wissensvermittlung sowie das künstlerische Material selbst als Agency künstlerischen Wissens.