Zeitgleich zu den Wagner-Festtagen der Oper Leipzig richtete das Institut für Musikwissenschaft der Universität im Juni 2022 die dreitägige Tagung „Mendelssohn und Wagner. Zwei Leitfiguren der Leipziger Musikgeschichte“ aus. Über 20 Vortragende aus dem In- und Ausland kamen dafür im Musikinstrumentenmuseum des Grassikomplexes zusammen, um in drei thematischen Sektionen aktuelle Einblicke in ihre Arbeit zu geben.
Die von Stefan Keym und seinem Lehrstuhl Historische Musikwissenschaft an der Universität Leipzig in Kooperation mit Helmut Loos vom Richard Wagner-Verband Leipzig organisierte Tagung konzentrierte sich auf die Leipziger Netzwerke Mendelssohns und Wagners Zeit ihres Lebens, die Berührungspunkte zwischen den beiden Komponisten sowie ihre posthume Rezeption in der Stadt seit Mendelssohns Tod bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Einen besonderen Schwerpunkt legte am zweiten Abend der Veranstaltung Ulrich Konrad (Würzburg) mit seinem öffentlichen Vortrag auf Mendelssohn als Vorbild, Kollege und Konkurrent aus der antisemitisch verfärbten Perspektive Richard Wagners.
Mit fünf netzwerkanalytischen Vorträgen öffnete die Tagung am ersten Tag: Anselm Hartinger (Leipzig) kontextualisierte Mendelssohns und Wagners Leipziger Zeit im städtischen Musikleben der Zeit, während sich Isabell Tentler (Leipzig) den Werken der beiden Komponisten im Chorvereinsrepertoire des 19. Jahrhunderts widmete. Welche Bedeutung Leipzig als Musikstadt konkret für den jungen Wagner hatte, konnte Roger Allen (Oxford) anhand seines frühen Musikunterrichts bei Christian Gottlieb Müller und Christian Theodor Weinlig erörtern. Währenddessen zeichnete Thomas Schmidt (Manchester) das Spannungsfeld zwischen den Auftragswerken Mendelssohns und Wagners für den sächsischen König Friedrich August I. und romantischen Musikauffassungen nach.
Nicht bloß gemeinsame Netzwerke waren es, die Mendelssohn und Wagner in Leipzig verbanden, sondern auch zahlreiche kompositorische und (musik-)ästhetische Berührungspunkte, denen sich die zweite Sektion der Konferenz widmete: Birgit Heise (Leipzig) wies auf die beiden Komponisten als Nutznießer des äußerst erfolgreichen örtlichen Instrumentenbaus hin, Christiane Wiesenfeldt (Heidelberg) verglich wiederum die Romantik-Konzepte der beiden aus der Perspektive aktueller kunst- und kulturwissenschaftlicher Modelltheorien, wie sie zurzeit das gleichnamige DFG-Graduiertenkolleg an der Friedrich-Schiller-Universität Jena untersucht: War Mendelssohn noch an einem weitestgehend klassizistischen Ideal orientiert, verstand Wagner seine Zugehörigkeit zu dieser Kunstrichtung schon als zutiefst nationalistisches Projekt, das seiner Rezeption seit Lebzeiten in die Hände spielen sollte. Schließlich las Benedict Taylor (Edinburgh) Mendelssohns ästhetische Ansichten durch die Brille von Wagners eigenen musikgeschichtlichen Anschauungen und John Michael Cooper bot Einblicke in die englische Rezeption der beiden Komponisten als ‚typisch deutsche‘ Künstler, bevor der Tag des Kongresses mit einem Gesprächskonzert mit Kenneth Hamilton (Cardiff) zu Ende ging.
Arne Stollberg (Berlin) setzte die zweite Sektion am folgenden Morgen mit einem Beitrag fort, der Mendelssohns Schauspielmusik zur Berliner Aufführung von Sophokles’ „Antigone“ 1841 als Kontrastfolie für die Entwicklung von Wagners Musikdrama sowie als intertextuellen Bezugspunkt und Impulsgeber für seinen „Lohengrin“ beleuchtete: Die Tribunalszene Elsas im ersten Aufzug ist in ihrer Chorbehandlung an Mendelssohns antikisierender Vorlage orientiert, die in Berlin bewusst antiquarisch inszeniert worden war. Auch die in Cardiff tätige Musikwissenschaftlerin Monika Hennemann widmete sich dem „Lohengrin“, wobei sie von Wagners bekannter Kritik an Mendelssohn ausging, sein Kollege sei lediglich ein fähiger Landschaftsmaler, könne aber kein wirkliches menschliches Leben darstellen: Überschneidungen gibt es zwischen den beiden Komponisten trotzdem, denkt man erst einmal an die zahlreichen Überschneidungen Wagners mit Mendelssohns unabgeschlossenen Opernprojekten zu Libretti wie Zuccalmaglios Nibelungensage oder dessen „Schwanenritter“. Aus der Perspektive der deutschen Literaturwissenschaft sprach im Anschluss daran Frieder von Ammon (Leipzig) über die Unterschiede in der Goethe-Rezeption der beiden Komponisten, die an manchen Stellen so groß werden, dass man es mit zwei völlig verschiedenen Autoren zu tun haben meint. Während Mendelssohn nämlich Goethe Anfang der 1820er-Jahre noch selbst kennenlernen durfte, stand Wagner schon ganz im Zeichen der Rezeption des Dichters durch seinen Onkel Adolf, durch die er vor allem mit Goethes Frühwerk des Sturm und Drang in Kontakt kam. Beschlossen wurde die zweite Sektion mit zwei Vorträgen der Gastgeber Stefan Keym und Helmut Loos (beide Leipzig), in denen die beiden Musikwissenschaftler über das Verhältnis von einheitlicher Stimmung und dramaturgisch bedingter Vielfalt in der Sonatenform beziehungsweise über die Idee einer sozial-engagierten Verantwortung des Komponierens sprachen. Rein analytischen Zugriffen auf das Werk der beiden Künstler zum Trotz lässt sich so zeigen, dass der Einsatz für die verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Initiativen ein integraler Bestandteil ihres Schaffens darstellte, der sich sowohl in Mendelssohns und Wagners Biographien als auch in ihrem kompositorischen Œuvre widerspiegelte.
Den Nachmittag eröffnete Claudius Böhm (Leipzig) mit einem Vortrag über die erst kürzlich aufgefundene Petition von Dozenten des Leipziger Konservatoriums, ihren Kollegen Franz Brendel zu entlassen, weil er als Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik Wagners Polemik „Das Judentum in der Musik“ publizierte. Brendels geschichtsphilosophische Rezeption Mendelssohns und Wagners widmete sich dann Sean Reilly (Leipzig), indem er neben den Schriften auch Brendels Rolle als Redakteur beleuchtete. Einen empirisch fundierten und deshalb besonders interessanten Ansatz präsentierten Linus Hartmann-Enke und Josias Schill (beide Leipzig) in einem Doppelvortrag zu Repertoireaspekten, der sich der Präsenz Mendelssohns und Wagners in Konzerten des Leipziger Gewandhauses und des Musikvereins Euterpe widmete. Schließlich eröffneten sowohl Barbara Eichner (Oxford) als auch Marion Recknagel (Leipzig) ein Panorama auf die journalistische Rezeption der beiden Komponisten in Leipziger Kultur- und Musikzeitschriften und konnten so zeigen, dass Mendelssohn in örtlichen Periodika geradezu eine Gallionsfigur und Vorbild eines guten moralischen Lebens wurde.
Am letzten Tag der Konferenz präsentierte Shay Loya (London) erste Ergebnisse einer geplanten kritischen Edition von Liszts Schrift „Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie“, die ein nur wenig bekanntes antisemitisch gefärbtes Kapitel enthält und deren verworrene Entstehungsgeschichte bis heute nicht zur Gänze aufgearbeitet ist, während Peter Schmitz (Münster) das Verhältnis des Musikverlags Breitkopf & Härtel zu Cosima Wagner aufarbeitete. Umrahmt waren diese beiden Vorträge durch zwei Präsentationen zur musikalischen Stadtgeschichte Leipzigs von Kerstin Sieblist (Leipzig) und Angela Mace Christian (Washington D.C.), in denen auch die Spuren Mendelssohns und Wagners im Stadtbild zur Sprache kamen, wobei Mace Christian minutiös und sogar musikalisch untermalt den Ablauf der Grundsteinlegung des sogenannten Richard-Wagner-Nationaldenkmals durch Adolf Hitler im Jahr 1934 nachzeichnete. Der letzte Tag der Konferenz wurde so mit Beiträgen zur Leipziger Rezeption Wagners und Mendelssohns bis 1945 fortgesetzt, bevor in der Abschlussdiskussion zahlreiche Forschungsperspektiven für die Zukunft zur Sprache kamen. So dürfte in Zukunft vor allem eine kritischere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mendelssohn und Wagner Einzug halten: Galt vielen Musikwissenschaftler*innen sogar noch Ende der 1990er Jahre Mendelssohn als Provinzkomponist, der kaum neben seinem vermeintlichen Antipoden Stand halten mochte, können gerade Annäherungen, wie diese Leipziger Tagung sie geboten hat, auch für die Programmplanung von Konzerten und zukünftige Inszenierungen von Wagners Opern Impulse geben.