Musikgeschmack entwickeln heißt: Hör-Erfahrungen sammeln, sich schlau machen, begründete Urteile treffen, sich zum mündigen Subjekt ausbilden.
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Um sich sicher zwischen Jugendorchestern, Graffiti, Versace und Dönern orientieren zu können, ist ein fortgeschrittenes Stadium des Geschmacks-Bildungsprozesses notwendig. Ein Selbstläufer ist dieser Prozess nicht. Foto: Martin Hufner
Musikgeschmack zählt
Ein fundierter Musikgeschmack ist kein Sammelsurium beliebiger Vorlieben. Vielmehr entwickelt sich Musikgeschmack in einem klassischen Bildungsprozess – durch geistige Arbeit, emotionale Beteiligung, sprachliche Artikulation, durch Wertung und Begründung, durch Muße und Austausch. Musik wird dabei zu einer „Sache“, der man einerseits mit sinnlichem Enthusiasmus, andererseits mit intellektueller Neugierde begegnet. Im interessierten Mitvollzug von Musik und in der sachlichen Nachforschung dazu formt der Mensch sein ästhetisches Urteil, verfeinert sein Gefühlsleben, schult seine abstrakte Vorstellungskraft und erweitert seine bewussten und unbewussten Kenntnisse über Geschichte, Gesellschaft, Wissenschaft und vieles mehr. Nur auf diese Weise bilden sich Menschen: durch Lernen und Fühlen. Wir verändern uns, indem wir uns mit einer „Sache“ intensiv beschäftigen, sie uns aneignen. Unser Musikgeschmack wird Teil unserer Persönlichkeit und gibt unserem Leben Kraft, Trost und Orientierung. Wie jeder Bildungsprozess ist die Entwicklung des Musikgeschmacks nie abgeschlossen.
Rockmusik als Bildungsgegenstand
Wie könnte ein solcher Bildungsprozess konkret aussehen? Ich greife in die Vergangenheit und gebe ein nicht völlig fiktives Beispiel aus eigener Erfahrung. Nehmen wir einen mitteleuropäischen Jungen, etwa Jahrgang 1958. Mit elf Jahren hört er im alltäglichen Schlager-Radio erstmals harte Rockmusik – Bands wie Black Sabbath und Deep Purple. Er ist sofort gepackt von diesem Sound, dieser Energie, diesem Rhythmus.
Von dieser Art von Musik will er mehr hören, darum forscht er diesen Bands nach: Was für Stücke gibt es noch von ihnen? Was für Platten haben sie gemacht? Wie klingen sie aktuell? Welche anderen Bands klingen so?Der Junge erfährt die Namen von Sängern, Gitarristen, Schlagzeugern. Er lernt Begriffe wie „Tritonus“, „Blues“ und „Hammondorgel“. Er kauft sich erste Schallplatten, liest die Begleittexte, lauscht auch aufmerksam den Moderatoren im Radio, die Wörter wie „Eklektizismus“, „Synthesizer“ und „progressiv“ benutzen. Er bekommt ein Gefühl für den Aufbau von Rockstücken, für Riffs, Soli und Refrains. Und er bekommt ein Gefühl für seine eigenen Musikgefühle.
Als die Pubertät richtig losgeht, gibt es für ihn nichts Wichtigeres mehr als die Rockmusik. Anstatt Hausaufgaben zu machen, sitzt er nachmittags vorm Radio und nimmt Stücke auf Tonbandkassette auf. Er kauft Schallplatten, bis das Taschengeld ausgeht, hört sie immer wieder an und verleiht sie auch an Mitschüler – im Tausch gegen deren Schallplatten. Er kennt eine wachsende Anzahl von Bands, lernt immer mehr Musikernamen, entwickelt Neigungen und Abneigungen, schärft sein Urteil.
Mit Gleichaltrigen tauscht er sich aus, übt seine Hörerfahrungen zu artikulieren, seine Favoriten zu verteidigen. Jeder hat da so seine Vorlieben: Der eine mag 20-minütige Rocksuiten, der andere Orgel-Improvisationen, wieder ein anderer: Krautrock-Bands. Mit einer Begeisterung, die er in der Schule nie entwickelt hat, forscht unser Jugendlicher über die Geschichte seiner Lieblingsgruppen, ihre Besetzungswechsel, ihre Instrumenten-Ausstattung. Er lernt Takte zu zählen, Metren zu erkennen, Akkordwechsel zu hören. Er unterscheidet zwischen britischen und amerikanischen Bands, beginnt auf Plattenlabels zu achten. Er geht allen Verästelungen und Querverbindungen nach – aus purer Freude am Lernen. Er hört immer mehr – und er hört immer wieder anders. Hörend und lernend bildet er sich.
Brückenschläge im Bildungsprozess
Mit dem Übergang ins Erwachsenenleben ist der musikalische Bildungsprozess bei ihm noch nicht beendet. In der Rockmusik ist der junge Mann auf Zitate aus der Klassik gestoßen – Bach, Beethoven, Tschaikowsky. Ihn faszinieren diese klassischen Themen, die so gut zu den Rocksongs passen. Er will sie identifizieren, sie im Originalzusammenhang hören.
Er arbeitet sich durch alle neun Beethoven-Sinfonien, beginnt ihren dynamischen Schwung zu lieben, hört sich auch in die Adagio-Sätze ein. Von Filmmusiken fühlt er sich ebenfalls inspiriert, klassische Werke kennenzulernen. Er liest über diese Komponisten, ihre Lebensläufe und die verschiedenen Schaffensabschnitte, ihre Werkideen. Er lernt in ihrer Musik Themen und Gegenthemen zu unterscheiden, Nebenstimmen herauszuhören, Instrumentalfarben zu bestimmen. Er begreift, was eine Fuge ist, eine Gigue, ein Sonatenhauptsatz, ein Rondo, eine Programmmusik. In seiner Begeisterung versucht er, die ganze Entwicklung der Klassik von Bach bis Ligeti nachzuvollziehen. Er ordnet Musikstücke beim ersten Hören historisch zu und beginnt die Gesellschaftsgeschichte dahinter mitzudenken: den Aufstieg des Bürgertums, die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs.
Bis hierhin und noch weiter
Ein anderer Brückenschlag führt ihn zum Jazz. Der Name Jimmy Smith ist ihm zum ersten Mal auf einer Platte von Deep Purple begegnet. In der Rockmusik mag er besonders die Hammondorgel, die Shuffle-Rhythmen, die Bluesformen und die improvisierten Soli – aber alles das klingt ja noch interessanter im Jazz.
Der junge Mann will mehr davon hören und stößt auf unzählige unbekannte Musikernamen und Fachbegriffe. Um sich zu orientieren, liest er ein Buch über Jazz und taucht in einen weiteren Musikkosmos ein: Stile, Pioniere, Formationen, Epochen, Instrumente. Er lernt, Bebop von Cool Jazz zu unterscheiden, Alt- und Tenorsaxofone auseinanderzuhalten, sogar Trompeter an ihrem Improvisationsstil zu erkennen. Er liest die Texte auf unzähligen Plattenhüllen, schnappt Jazztheorie auf, beginnt die Bauform der Stücke zu verstehen, lernt dabei Musik-Englisch, kauft sich Jazznoten, besucht Jazzkonzerte, will diese Musik hautnah begreifen.
Die Jazzgeschichte gewinnt bald auch eine sozialhistorische Dimension: das Ende der Sklaverei, Great Migration, Harlem Renaissance, Great Depression, Nachkriegszeit, Black Movement.
Ganzheitliche Bildung durch Musik
Die Brückenschläge, Querverweise, Assoziationen, die Verästelungen und Details der musikalischen „Sache“, denen es nachzugehen gilt – sie sind nie ausgeschöpft. Der Jazz wird den jungen Mann weiterführen in die World Music, in ethnische Musikformen, in die Minimal Music. Und immer wieder auch auf neuen Wegen zurück zu Rock und Klassik. Man entwickelt seine musikalischen Vorlieben, indem man Urteile fällt, Urteile revidiert, seinen Horizont ständig erweitert. Der Musikpädagoge Jürgen Vogt schreibt: „Der Grad musikalischer Bildung bemisst sich daran, inwieweit jemand willens und in der Lage ist, auf Musikalisch-Fremdes einzugehen.“ Indem wir uns immer tiefer mit Musik beschäftigen, ganz Verschiedenes miteinander verbinden, unsere eigenen Assoziationen aufbauen, unser Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen schulen, wird unser Musikgeschmack Teil unserer Identität. Unser Hören verändert sich – und wir uns mit ihm. Dieser Bildungsprozess reicht weit übers reine Hören hinaus. Er betrifft auch unser Geschichtsbewusstsein, unser Physikverständnis, unser alltagsphilosophisches Denken, unsere Empathiefähigkeit, unser Menschsein.
Drohende Verödung
Der emotionalen Faszination von Musik kann sich kaum ein junger Mensch in der Pubertät entziehen. Doch mit dem Ende dieser Lebensphase endet häufig auch die intensive Beschäftigung mit der „Sache“ Musik. Musikhören ist für viele dann nur noch eine unreflektierte Gewohnheit – beim Autofahren, beim Hausputz, beim Tanzengehen. Die musikalischen Vorlieben der Erwachsenen werden häufig nostalgisch (sie hören nur, was sie schon kennen) oder beliebig (sie hören eben, was gerade läuft). Ihr Musikgeschmack verwahrlost. Sie verwandeln sich in unmündige Beschallungsopfer. Sie sagen zu ihrem Sprachassistenten: „Alexa, spiel mir Songs aus den Neunzigern!“ Welche Folgen die Verödung und Stagnation des musikalischen Bildungsprozesses für die Charakterentwicklung eines Menschen hat, ist nicht wirklich erforscht. Es ist noch nicht einmal als Forschungsaufgabe formuliert.
Digitaler Ohrenkick
Mit der digitalen Veränderung unseres Hörens – Stichwort: Streaming, Smartphone, Künstliche Intelligenz – stellt sich die Frage, inwieweit heute überhaupt noch ein musikalischer Bildungsprozess stattfindet. Der Junge vom Jahrgang 1958 musste eine Menge Zeit und Mühe in seine Musikliebe investieren. Er hatte weder ein Rocklexikon noch das Internet, um sich Informationen zu holen. Viele Stunden verbrachte er in Plattenläden, am Radio, auf Flohmärkten und natürlich vorm Plattenspieler. Er informierte sich durch Texte auf Plattenhüllen, Star-Heftchen am Kiosk und Gespräche mit Gleichaltrigen. Er musste Vorlieben entwickeln, um einen eigenen Weg in die „Sache“ zu finden. Heute dagegen ist Jugendlichen alles leicht verfügbar. Die Erforschung der Musikwelt stellt für sie keine Herausforderung dar – auch keinen Anreiz. Sie setzen sich häufig nicht näher mit Musik auseinander, geben nicht nennenswert Geld dafür aus, verbringen nicht Tage mit einem einzigen Album, fühlen sich nicht gedrängt, jeden Song zu kennen, den eine Band aufgenommen hat. Vielfach entscheiden sie innerhalb von zehn Sekunden, ob sie einen Track „kaufen“ oder nicht. Ihr musikalischer Weg wird bestimmt von Algorithmen, TikTok-„Freunden“ und Zufällen.
Der Kulturpublizist Herbert Haffner ist längst von der Gegenwart überholt, wenn er (im Jahr 2021!) fragt: „Erleben wir das Ende großer Phono-Konzerne, das Ende opulenter Platten- oder CD-Sammlungen? Sind die langen Fachsimpeleien von Käufern im kleinen Plattenladen [...] Geschichte? Gibt es noch die bestens informierten Verkäufer, die sich durch Beat, Schlager und Fusion, Blues, Disco, Metal, Punk oder Elektropop kämpfen und Einspielungen von Mauricio [sic] Pollini, Dinu Lipatti oder Rudolf Buchbinder kritisch vergleichen können?“ Der heutige Musikkonsum kennt tendenziell keine Fachsimpelei und keine Informiertheit mehr. Zu Recht wird er mit dem Konsum von „Fast Food“ oder eines Snacks verglichen, mit einem schnellen „Kick“ gegen den kleinen Hunger. Musikkonsum droht zum rein biologischen Reflex zu werden: „Musik ist [dann] einfach ein lustbestimmtes Verhalten, das einen oder mehrere vorhandene Lustkanäle ausnutzt, die sich [im Gehirn] entwickelt haben, um Anpassungsverhalten zu bestärken“ (zitiert nach Daniel Levitin).
Interesse wecken
Was die kommenden Generationen angeht, trägt die Musikvermittlung – in Schulen, Hochschulen, Medien, konzertbegleitenden Programmen und Veranstaltungen und anderswo – eine große Verantwortung. Nicht platte Deutungen, Erklärungen oder Erläuterungen musikalischer „Meisterwerke“ sind gefragt. Primär muss es vielmehr darum gehen, der Smartphone-, Spotify- und Social-Media-Generation zu vermitteln, dass die interessierte Beschäftigung mit Musik sich überhaupt lohnt. Dass sich dabei unendlich viele persönliche Wege der musikalischen Bildung eröffnen können. Dass das Schwierige, vielleicht Unverständliche an nicht alltäglicher Musik der eigentliche Reiz der ästhetischen Erfahrung und Neugierde ist. Dass wir an der Mehrdeutigkeit, an Widersprüchen und Hinterfragungen wachsen und uns entwickeln. Dass musikalische Bildung uns stark und glücklich macht, uns eine Strategie zur Lebensbewältigung liefern kann. Denn ohne den Bildungsprozess, der in der Entwicklung eines persönlichen und nicht zufälligen Musikgeschmacks steckt, entgeht uns eine wichtige Chance, das zu werden, was Wilhelm von Humboldt einmal „ein guter, anständiger, aufgeklärter Mensch und Bürger“ nannte. Die musikalische Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit kann ein Grundpfeiler unserer Persönlichkeitsbildung sein.
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