Töne dringen in uns ein. Egal aus welcher Richtung und Entfernung sie kommen, wir haben keine Ohrenlider, um das Ohr zu schließen, mit den Ohren können wir nicht „wegschauen“. In der Musik hören wir auf laut und leise, auf Haupt- und Nebenstimmen, hören auf Zwischentöne, die uns hellhörig machen. Das Hören ist ein geistiger Sinn, der im hegelschen Sinne die Schwelle zur Innerlichkeit und Subjektivität berührt. Im Hören wird auch unsere eigene Stimme wach. Mit Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen gilt es, hellhörig und wachsam zu bleiben. Wir dürfen nicht nur auf die eigene Stimme hören, sondern müssen uns auf eine Weise Gehör verschaffen, wie dies im Rahmen des Schulprojekts „Ohren auf für Hanau“ geschehen ist. So wird das Motto selbst zum Weckruf, zu einer Welt- und Selbstbegegnung, wie sie nur in der Musik möglich ist: „Der Ton dringt ein“, schreibt Hellmuth Plessner in seiner „Anthropologie der Sinne“, darum zieht die Musik alle anderen Künste nach sich, darum wurde dieses Begegnungskonzert zu einem ganz besonderen Ereignis.
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Georg Biegholdt, Jürgen Oberschmidt (BMU), Olaf Zimmermann (Deutscher Kulturrat), Staatsministerin Claudia Roth und Spoken-Word-Performer Henrik Szántó beim Begegnungskonzert. Foto: Jule Roehr/Initiative kulturelle Integration
„Ohren auf“ für ein Schulprojekt, das nachhallt
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“, sagt Tim Marshall, ehemaliger Auslandskorrespondent für die BBC. In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572, dem Tag des heiligen Bartholomäus, starben allein in Paris aufgrund eines staatlich angeordneten Pogroms etwa 3.000 Hugenotten.
Mord und Gewalt im kollektiven Gedächtnis
Die Bartholomäusnacht war der Ausgang für eine Welle der Gewalt, die sich tief eingegraben hat im kollektiven Gedächtnis der Franzosen, ein tausendfacher Mord an französischen Protestanten, ausgehend von einer vermeintlich der Versöhnung dienenden Hochzeit: Schwelende Spannungen schlugen um in offene Gewalt, der Hang zu Stereotypen und einfachen Feindbildern führte zu Niedertracht und Meuchelmord im Namen einer Glaubensgewissheit.
Auch dann schon hätte man gleichzeitig von anhaltenden Schleifen der Gewalt und von einer „Zeitenwende“ sprechen dürfen: „Schaut euch an, mit welch erschreckender Unverschämtheit wir die göttlichen Glaubenssetzungen zu unserem Spielball machen“, schrieb der einflussreiche und dem katholischen Glauben verbundene Politiker Michel de Montaigne in seinem wohl radikalsten Essay „Apologie für Raymond Sebond“.
450 Jahre sind inzwischen vergangen, bald fünf Jahrhunderte also, in denen viele Kriege im Namen des übernatürlichen Geistwesens geführt wurden, das mal mit Gott, Allah oder JHWH benannt wird. Immer wieder wurden Glaubenssätze zum Spielball derer, die sie missbrauchen, zur Chiffre für Gewalt, die eine religiöse Bedeutung ausblendet und damit die eigene Glaubensgemeinschaft diskreditiert.
Bis heute reagieren wir auf solch aggressive Tonlagen mit der Suche nach einer schnellen Lösung, die es nicht gibt und die es auch nicht geben kann. Alle Lager neigen zum radikalen Vereinfachen, wir scheitern an unserer Ungeduld, drücken unsere Empfindungen, Ängste, unseren Schmerz und die ganz persönliche Betroffenheit weg, versenken sie tief in unserem Inneren, wo die unterdrückten Gefühle dann auch nach langer Zeit die Kontrolle über uns gewinnen können. Wenn sich Hass und Gewalt ausbreiten, gehen wir heute schnell über zur Tagesordnung, wie dies einst auch im unmittelbaren Gesichtsfeld von Michel de Montaigne geschehen ist.
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Begegnungskonzert in der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Fotos: Jule Roehr/Initiative kulturelle Integration
Leben im Turm
Montaigne wählte einen anderen Weg: Er suchte den Überreizungen zu entgehen, vor dem alltäglichen Lärm zog er sich in einen Turm zurück, um „in völliger Muße bei sich Einkehr“ zu halten. Zu viel war vorgefallen, was unverstanden blieb, was neu bedacht werden musste: „Als ich mich zurückzog, […] da glaubte ich, meinem Geist keine größere Gunst zu erweisen, als wenn ich ihn in völliger Muße bei sich Einkehr halten und sich mit sich selbst beschäftigen ließ“, notierte Montaigne auf den ersten Seiten seiner Essais, die in Zeiten der eigenen Ohnmacht entstanden.
Solch einen Ort der Muße, des selbstbestimmten Nachdenkens finden wir heute nicht in einer Gesellschaft, die meint, sich immer selbst überholen zu müssen, und in der wir uns im selbstgesteckten Optimierungswahn nicht den nötigen Raum schenken, um uns selbst zu finden, um innezuhalten. Solch ein Leben im Turm heißt nicht, der Welt den Rücken zuzukehren, sondern vielmehr, diese von einem erhöhten Standpunkt aus zu betrachten, um hier nach den eigenen Orientierungen in einer sich verändernden Welt Ausschau zu halten. Solch einen Ausstieg auf Zeit schenkt uns die Kunst, in der Schule vertreten durch die künstlerischen Schulfächer: An Sokrates schätzte Montaigne, dass er – wenn auch als alter Mann – „Zeit fand, Musik und Tanz zu lernen, und er hielt diese Zeit für gut investiert.“
Doch allzu sehr gilt gerade auch im Musikunterricht ein schulischer Lernkompass des Reproduzierens: Junge Menschen erleben sich auch hier in einer Passivität durch Gewöhnung, in einer Zuwendung zur Welt, die keiner vertieften Hingabe mehr bedarf. Mitunter greifen auch hier die gleichen Beschleunigungsmechanismen: Auch in der Musik ist allzu oft das Ziel, das Optimierungsgetriebe anzuwerfen, damit alle gleich ticken, weil alles Hören sich mit der Hörigkeit im Gehorsam decken soll, wenn für das Musizieren ein Gleichklang vorausgesetzt wird und es nicht darum geht, sich in ergebnisoffenen Prozessen aufeinander einzuschwingen.Die im Instrumental- und Musikunterricht vorherrschenden Reproduktionsmechaniken, die Orientierungen an Bildungsplänen, die Arbeit im pädagogischen Urmaß einer 45-Minutenstunde, die es dann in den Rhythmisierungen eines Schulalltags und in der kurzlebigen Zeit zwischen zwei Klausurphasen zu verorten gilt, sorgen nicht dafür, dass in kreativen Gestaltungsarbeiten Themen diskutiert und zu einem eigenen kompositorischen Anliegen entwickelt werden, aus dem sich dann verschiedene Ideen entzünden, miteinander in Konkurrenz treten, eine Musik sich entwickelt, verschiedene Ideen verworfen, verifiziert, verdichtet, verwirklicht, zur Aufführung gebracht und szenisch oder filmisch inszeniert und anschließend bearbeitet werden.
Wer bereits beim Lesen solch einer Enumeratio außer Atem gerät, möge sich erst einmal in die Rolle der Gestaltenden versetzen, die hier im Rahmen ihres kreativen Produktionsprozesses auch noch erfahren müssen, dass Freiheit ganz schön anstrengend sein kann und sich immer wieder schnell der Wunsch bemerkbar macht, endlich wieder an die Hand genommen zu werden.„Das Größte auf der Welt ist, zu wissen, wie man zu sich selbst gehört“, schrieb einst Montaigne, und im Musikunterricht gilt es hier zu erleben, wie sich das eigene Ich im gemeinsam ausgehandelten Wir wiederfinden kann.
„Ohren auf für Hanau“ heißt also nicht nur, andere für ein Thema zu sensibilisieren, sondern zunächst einmal, auf die eigene Stimme zu hören, sich mit den eigenen Fähigkeiten in einen Gruppenprozess einzubringen.
Damit solche Bildungsprozesse gelingen können, braucht es Raum und Zeit, eben den hier beschworenen „Turm“ als einen Ort der seelischen Ruhefindung: Im sicheren Abseits gilt es, die täglichen Aufladungen aufzunehmen, damit die eigene Stimme nachhallen kann und im Alltag nicht verstummt.
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Die Gruppe des Robert-Schuman-Gymnasium Saarlouis mit „Über.Weiter.
Hugenotten in Hanau
In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 läutete vom Turm der Pariser Kirche Saint-Germain l’Auxerrois die Sturmglocke, die Hugenotten flohen, in großer Zahl durften sich 1597 auch in Hanau Glaubensflüchtlinge niederlassen. So entstand die Hanauer Neustadt als Planstadt im Stil der Renaissance.
Dank der „Réfugiés“, wie die Neuankömmlinge in jenem Vertrag bezeichnet wurden, der ihnen freie Religionsausübung zusicherte, wurde aus einem verschlafenen Provinznest ein wichtiger Wirtschaftsstandort voller Toleranz und Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Andersgläubigen.
Heute ist es ein anderes Ereignis, das wir mit Hanau verbinden, eine schreckliche Tat, die nun schon fünf Jahre in uns nachhallt. Von der weltoffenen Stadt Hanau ist nun nicht mehr die Rede, die Angehörigen der Opfer berichten weiterhin von Ausgrenzungen und Enttäuschungen, zusätzlich zu einem nie endenden Schmerz, wenn ein geliebter Mensch aus dem Leben gerissen wird. Ein Mahnmal als Ort des Gedenkens soll es im Herzen der Stadt nicht geben, schließlich genüge hier die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Wallonisch-Niederländische Kirche als Mahnmal gegen Hass und Gewalt.
Gerade junge Menschen suchen nach Orten und Wegen, sich mit der Ganzheit einer Problematik um Hass und offen zur Schau getragenen Rassismus, um Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit auseinanderzusetzen. Sie stellen sich ihren Fragen, die nicht nur zurückblicken, sondern sich auch um die Welt von morgen drehen. Musik dient ihnen als ein Navigationsgerät: Es ist die Musik, die sie täglich hören, die sie aus sich selbst heraus erspüren, jetzt erst recht.
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Für die Sache aufeinander eingeschwungen: Schüler*innen der Schillerschule Dresden-Lochwitz performen ihr „Timmy oder Egal“.
Nachhaltigkeit von Musik
Sie brauchen ihren Turm, ihren Ort, wo sie sich in der Gruppe begegnen, einen Ort, der ihnen Halt gibt. „Was weiß ich denn?“, war eine von Montaignes Leitformeln, und weil man von diesem Turm in die Welt hinausblickt, kommt man immer wieder auch aus ihm heraus. In Montaignes Turm hier wird gebündelt, was uns hält und trägt. Auch wenn Musik in einem flüchtigen Aggregatzustand lebt, weil sie in einem Moment erscheint und verklingt, ist solch ein Projekt auf Nachhaltigkeit angelegt.
Die Musik lebt weiter im inneren Besitz derer, die sie komponieren und präsentieren. Sie bereichert beim Begegnungskonzert in der Hochschule für Musik Hanns Eisler aber auch all diejenigen, die sich im Hören und Musizieren, im gemeinsamen Miteinander und den hier angestoßenen Gesprächen ausgetauscht haben. Hier treffen Kinder und Jugendliche, die bisher eine eher wattierte Wegstrecke in Sicherheit und Wohlstand zurückgelegt haben, auf jene, die selbst von Ausgrenzung und Rassismus betroffen sind oder gar selbst traumatisiert wurden, von der Flucht oder von dem, wovor sie geflohen sind.
All diese jungen Menschen vereint die Sorge um das große Ganze. Es braucht aber mehr als diesen Nachhall zur Nachhaltigkeit. Die kann nämlich nur entstehen, wenn man mit einem „Halt“ beginnt. Dieser wortwörtliche Kern der Nachhaltigkeit, der uns gar nicht mehr bewusst scheint, ist Teil eines Lebenskonzeptes, das voraussetzt, das eigene Leben mit der Turmgesellschaft zu verknüpfen.
Zu reden ist hier von dem Halt, den man in der Musik findet, einem Halt, der aber zunächst einmal ein Anhalten voraussetzt, ein Stehenbleiben, ein Halten, um voraus zu schauen. Erst mit solch einem Halt entsteht im Hören eine denkende Aufmerksamkeit: „Das Hören ist eigentlich dieses Sichsammeln […]. Das Hören ist erstlich das gesammelte Horchen. Im Horchsamen west das Gehör“, schreibt Martin Heidegger in seinen Fragmenten zu Heraklit.
„Ohren auf für Hanau“ bündelt, was junge Menschen hält und trägt – und zwar nicht nur für den Moment, sondern auf lange Sicht. Niemand möchte das Erreichte und Erlebte lediglich konsumieren, gerade junge Menschen haben das Bedürfnis, nicht einfach nur stehenzubleiben: In einer künstlerischen Imagination, die letztlich in allen Menschen geweckt werden kann, liegt die Kraft, über das, was ist, hinauszudenken.
Zeit im Turm ist Raum für Muße
Uns allen bleibt noch zu fragen, warum wir unser Leben nicht öfters so gestalten, dass wir uns die Zeit im Turm als einen Raum der Muße nehmen, wo wir hellhörig werden, das theoretisch-sehende Verhältnis zu den Dingen überbrücken, die Schwelle zur Innerlichkeit überwinden. Schule als Bildungseinrichtung leitet sich doch ab von seinem lateinischen Ursprung „schola“, was so viel bedeutet wie „freie Zeit“, die immer mit einem Stillstand beginnen sollte.
Andreas Dörpinghaus [Andreas Dörpinghaus, Ina Katharina Uphoff (2012): Die Abschaffung der Zeit. Wie man Bildung erfolgreich verhindert. Darmstadt: WBG] beruft sich auf Adornos „Theorie der Halbbildung“, wenn er die Maschinerie der Bildungsreformen als einen einzigen Deformationsprozess beschreibt: „Die Halbbildung ist nicht gänzlich blind gegenüber dem, was Bildung einmal zu sein beanspruchte: kritisches Bewusstsein, politischer Einspruch, Selbstregierung im Zeichen der Mündigkeit, Mut zum eigenen Denken“ (S. 149). All dies gab es im Rahmen der Projektarbeit zu erfahren und beschreibt das, was wir gemeinhin unter Demokratiebildung verstehen. In schulischen Kontrollgesellschaften gilt es allerdings, solche offenen, demokratischen und selbstverantworteten Prozesse zu vermeiden.
Und um die Prozesse weiter normieren und steuern zu können, möchten Bildungsinvestoren den Musikunterricht kürzen, um ein neues Unterrichtsfach zur Demokratiebildung einzuführen: „Halbbildung weiß um ihre eigene Deformation. Daher muss der Halbgebildete alles besser wissen, wird aggressiv, wenn Zweifel aufkommen. […] Dem Menschen wird unter der Suggestion, dass es um Bildung geht, dass er an ihr partizipiert, genau jene vorenthalten. So wird die Verdummung allgegenwärtig“ (ebd. 149).
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