Tosender Applaus, lachende Gesichter und ein tanzender Saal: Das eroberte sich die charmante Band „Vollgas“ mit ihrem Auftritt beim diesjährigen Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme. Schon nach wenigen Sekunden hatte die Musikschulband das Publikum überzeugt, dass der Umgang mit dem Besonderen nicht nur Zukunftsvision ist, sondern bereits erfolgreich umgesetzt wird. Auch der Leiter des Symposiums, Prof. Dr. Michael Fuchs, schwang mit hüpfender Krawatte in einer Art Freestyle-Sirtaki das Tanzbein.
Vom 22. bis 24. Februar 2013 veranstaltete das Universitätsklinikum Leipzig bereits das elfte Symposium zur Kinder- und Jugendstimme. Das gewählte Thema „Außer-gewöhnlich? – Wege im Umgang mit dem Besonderen“ war Impuls für verschiedene, politisch aktuelle Fragestellungen, die in Vorträgen und Workshops sowie in den kulinarisch bestens organisierten Pausen eifrig reflektiert wurden. Der gute Vorsatz, den Fuchs für dieses Symposiums-Jahr verkündete, nämlich den ständigen Rückbezug zum Thema zu gewährleisten, wurde von den Referentinnen und Referenten beziehungsweise den Leitenden der Workshops auf unterschiedliche Art erfüllt. Während einige Vorträge den thematischen Nagel auf den Kopf trafen, bezogen sich andere eher im weiteren Sinne auf das Hauptthema und schienen nachträglich in den gegebenen Rahmen eingewebt worden zu sein.
Respekt, Durchhaltevermögen
Was hat es nun mit Begriffswolken wie Integration und Inklusion auf sich, bei denen sich enthusiastische Bildungstheorien und finanzielle Sorgenfalten gegenüberstehen? Was würde Inklusion in verschiedenen sozialen Kontexten bedeuten, und wo findet sie bereits statt? Welche Form der Wahrnehmung und Kommunikation ist nötig, um das „auffällige“ oder „besondere“ Gegenüber verstehen zu können? „Die Gedanken sind frei“, sang dazu aus voller Brust der MDR-Kinderchor und wählte damit wohl eine der schönsten Arten von Kommunikation. Das Publikum war entzückt, dass zumindest in diesem Kinderchor die erstrebenswerte Jungenquote kein Problem zu sein scheint. Wie auch in weniger subventionierten Kinderchören durch Fußballturniere und einige Tricks in der Öffentlichkeitsarbeit wieder eine geschlechter-ausgewogene Besetzung erreicht werden könne, erklärte der MDR-Kinderchorleiter Ulrich Kaiser in seinem anschließenden Referat. Und so wie dem einen Jungen inmitten der femininen Mehrheit eine Berücksichtigung seiner geschlechterspezifischen Bedürfnisse zusteht, brauchen in einer Schulklasse Kinder mit Migrationshintergrund ein offenes Ohr für das, was sie von Haus aus mitbringen. In einem sehr bewegenden Vortrag von Ullrich Horst wurde direkt aus der Praxis berichtet, was die Arbeit in sozialen Brennpunkten bedeutet, und was durch ein Jahr Singen in der Grundschule bereits erreicht werden kann. Ein Lied mit vielen Strophen und jede davon in einer anderen Sprache: Wenn eine Grundschulklasse Eltern damit zu Tränen rührt, scheint die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger geglückt zu sein. Doch um mit Kindern diese aufbauenden Situationen erleben zu können, braucht es pädagogisches Durchhaltevermögen. Der stimmliche Ambitus einer Singklasse klafft nicht nur in Grundschulen „mit besonderem Erneuerungsbedarf“ mit über zwei Oktaven weit auseinander, und der Umgang mit speziell religiösen oder kulturellen Texten muss auch für Eltern schlichtend kommuniziert werden. Arbeit an der Stimme bedeutet Arbeit an der damit ausgestatteten Person, was einer respektvollen Auseinandersetzung mit verschiedenen sozialen Verhaltensmustern bedarf. Um ein hoffnungsvolles Zeichen kultureller Achtung zu setzen, gilt es, theologische Gemeinsamkeiten zu suchen und den Reiz sprachlicher Unterschiede zu nutzen. Was der Vortrag von Ullrich Horst bereits eingeleitet hatte, wurde in einem anschaulichen Workshop über den Umgang mit kulturell heterogenen Gruppen von Beate Robie praktisch vertieft.
Das Kind im Mittelpunkt?
Mit der immensen Zunahme vokalpädagogischer Projekte in deutschen Schulen und Kindertageseinrichtungen befasste sich der Vortrag von Heike Henning. Die Zielsetzungen solcher Projekte sind vielfältig: Transfereffekte musischer Betätigung auf andere Lernbereiche nutzen, mehr Praxisnähe im Schulmusikunterricht gewährleisten, weniger gut situierte Schulen durch Singklassen als Profilschwerpunkt aufwerten, Sprachförderung und Integration von Kindern mit Migrationshintergrund bieten sowie Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern gemeinsames Musizieren zu ermöglichen, ohne die Eltern finanziell zu belasten. Auch der drohende Kulturverlust und eine schleichende Ausdrucksverarmung, die dem Verschwinden der Singstimme zugeschrieben werden, sind Anlass, entsprechende Projekte ins Leben zu rufen. Es wird viel erwartet von zukünftigen Vokalpädagogen. Außer der praktischen Ergänzung des allgemeinschulischen Musikunterrichts oder der vorschulischen Musikerzie-hung in Kindergärten soll auch für die Nachhaltigkeit dieser Projekte gesorgt werden. Und stellt sich auch bei mancher Initiative die Frage, ob sie wirklich dem kindlichen Individuum dienen soll oder vielleicht doch eher eine Strategie ist, das künftige Konzertpublikum zu sichern: Es ist ein gutes Zeichen unserer Zeit, dass Geldtöpfe geöffnet und Strukturen erneuert werden, um Musikkultur, in welcher Form auch immer, an die nächste Generation weitergeben zu können.
In einer Podiumsdiskussion wurden Chancen und Gefahren der öffentlichen Präsentation von singenden Kindern und Jugendlichen bei Casting-Shows beleuchtet. In Videobeispielen aus der Show „DSDS for Kids“ war zu sehen, wie Jury-Mitglieder einer achtjährigen Kandidatin Sexappeal bescheinigten, ein zehnjähriger Junge mit eindeutigem Stimmschaden für seine Rock-Röhre gelobt wurde und stolze Eltern davon überzeugt waren, dass ihre Kinder hierbei eine Riesenchance wahrnehmen. Hätte der örtliche Musikschullehrer nicht längst eine Klage wegen Sexismus am Hals, würde er seine Schülerin als „Hot Mama“ bezeichnen oder bei einem Konzert vor allem ihre schönen Beine loben? Dieter Bohlen tut dies in aller Öffentlichkeit, gerührte Eltern klatschen begeistert Beifall. Davon abgesehen, dass Kinder von ihren Erziehungsberechtigten eindeutig davor geschützt werden müssten, schon im Grundschulalter öffentlich auf ihr Äußeres reduziert zu werden oder Stimmschäden durch verfrühte, erwachsene Gesangstechniken zu erleiden: Unsere nachwachsende Generation sollte eine so umfassende und hochwertige musische Bildung erhalten, dass die Anmeldungen für solche Show-Formate keinen Reiz mehr darstellen, solange der künstlerische Aspekt nicht entsprechend professionell gehandhabt wird. Sobald Kinder und Jugendliche beurteilen können, was gute Gesangstechnik bedeutet, ist es natürlich jedem freigestellt, Erfahrungen im Show-Business zu sammeln.
Die Wirksamkeit des Einfachen
Im Hauptreferat des diesjährigen Symposiums zur „Marte Meo Methode“ propagierte Maria Aarts die Wirksamkeit des Einfachen. Marte Meo bezeichnet ein Arbeitsmodell für kommunikative und psychosoziale Interventionen, welches das Potenzial der Wahrnehmung in den Fokus rückt. Durch Videoaufnahmen werden Verhaltensweisen kleinschrittig beobachtet und ausgewertet. Obwohl das Arbeitsmittel der Videoanalyse in pädagogischen Studiengängen oder Supervisions-Angeboten bereits seit Jahren praktiziert wird, versetzte der charismatische Vortrag von Maria Aarts das Publikum in eine pädagogische Aufbruchstimmung. Auch wenn der kritische Hörer sich inmitten der beflügelnden Aura noch einige konkrete Anwendungstipps gewünscht hätte: In einer schnelllebigen Welt, in der Bildungspolitik bevorzugt in „Pädagogik-to-go-Projekte“ investiert, tut die Rückbesinnung auf eigene Ressourcen und ein genauer, wohlwollender Blick auf das Gegenüber gut.
Übertragen auf das Schulsystem kostet die Wahrnehmung des individuellen Gegenübers jedoch Zeit und vor allem Geld für genügend gut ausgebildete Lehrer. Nimmt man das Ziel der Inklusion beim Wort und fordert eine gemeinsame Schule für alle Besonderen und Gewöhnlichen, verlangt das eine langfristige Umstrukturierung, die bereits mit der Modulverteilung im Lehramtsstudium beginnt. Nicht nur organisatorische und architektonische Strukturen im Schulwesen, auch Lerninhalte und methodische Wege müssen neu überdacht werden. Wenn im Gegensatz zur Integration künftig auf eine Kategorisierung verzichtet werden soll, muss das Lernen am gleichen Gegenstand zieldifferent gestaltet werden. Dass letztlich aus Inklusion keine „Spar-klusion“ werden darf, indem die differenzierte Diagnostik und Förderung einer breitflächigen Ressourcenverteilung zum Opfer fällt, mahnte Prof. Dr. Christian Glück in seinem Vortrag über schulische Perspektiven am Beispiel von Kindern mit Spracherwerbsstörungen an. Wie umsetzbar die 2009 durch die UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Inklusion in allen Sozial- und vor allem Bildungsbereichen wirklich ist, liegt wohl vor allem an ihrer jeweiligen Definition. Bei aller Polarisierung, die das Thema mit sich bringt, darf nicht aus den Augen verloren werden, wo ein Kind wirklich lernt und wo es nur geduldet ist, wo es Erfolgserlebnisse hat und wo es unter dem Mangel an Ressourcen leidet.
Der Tanz um die Tretminen ethischer Tabus läuft bei solch brisanten Themen nicht selten Gefahr, sich auf einen unverfänglicheren, emotionalen Trampelpfad des Lamentos zu flüchten und soziologische Missstände breitzutreten. Jedoch gelang es an diesem impulsreichen Wochenende viele grundlegende Gedanken aufzuschlüsseln, ohne die fachliche Komponente vermissen zu lassen.