Flow-Erfahrungen sind Ausdruck einer tranceartigen, ganzheitlichen Arbeitsweise des Gehirns, die das Bewusstsein ordnet und selbst hoch komplexe Aktivitäten leicht und anstrengungslos ablaufen lässt. In den letzten Jahren ist zunehmend die Bedeutung und das kreative Potenzial dieses besonderen Bewusstseinszustandes für die verschiedensten Tätigkeitsfelder, Künste und körperlichen Disziplinen entdeckt worden. So hat Nicolai Petrat in seinem Artikel „Den Schüler musikalisch ‚schweben’ lassen“ auf die Notwendigkeit hingewiesen, Flow-Erfahrungen in die tägliche Praxis des Instrumentalunterrichts zu integrieren (nmz 6/01,
S. 24).
1. Der Kontakt zum Instrument
Der Kontakt zum Instrument wird hier am Beispiel des Violinspiels erläutert, ist aber, was seine Grundprinzipien angeht, auf jedes andere Instrument übertragbar. Entscheidend sind in jedem Falle die „Punkte“, an denen ein Spieler unmittelbare Berührung mit seinem Instrument hat und die einen ebenso unmittelbaren Einfluss auf die Klangerzeugung haben. Von größter Bedeutung ist hier eine optimale und effektive Kraftübertragung aus dem Körper über die „Berührungspunkte“ auf das Instrument. Eine derartig optimierte Kraftübertragung äußert sich für den Spieler in dem Gefühl einer „satten“ taktilen, das heißt durch den Tastsinn vermittelten Verbindung zum Klangkörper.
a) Der Bogenkontakt
Die Verbindung zwischen den Fingern der rechten Hand und dem Bogen sollte sich „dicht“ anfühlen und ein Gefühl der Sicherheit und der Beherrschung des Bogens vermitteln, egal welche Art des Strichs gerade ausgeführt wird. Von gleichermaßen großer Bedeutung für die Tongebung ist die so genannte „Kontaktstelle“, die Verbindung von Bogen und Saite. Ein Bogenkontakt, der zu einem schönen, dichten und tragfähigen Ton führt, kann durch ein Gefühl des leichten „Klebens“ auf der Saite beschrieben werden. Die Verbindung von Saite und Bogen ist „samtig“ und ein wenig so, als würde man Farbe oder irgendeine andere leicht viskose Substanz verstreichen. Geiger sprechen von einem „saugenden“ Bogen.
b) Das „Fingerspitzengefühl“
Es gibt eine Stelle in den Fingerkuppen der linken Hand, die eine optimale Übertragung der Energie aus dem Arm auf die Saite bewirkt. Für Geiger wie für alle anderen Instrumentalisten geht es daher darum, den Punkt des optimalen Fingeraufsatzes zu suchen, das heißt den Punkt, an dem sich die Hand maximal entspannt und die Saite mit einem Minimum an Kraftaufwand heruntergedrückt werden kann. Die Hand quittiert ein Treffen dieser Punkte mit einem Gefühl des Wohlbefindens und der Stimmigkeit. Ein gut stehender Finger der linken Hand vermittelt dabei ein ähnlich „sattes“, „saugendes“ Gefühl einer dichten, feinnervigen Verbindung zwischen Finger und Griffbrett, wie es ein „saugender“ Bogen erzeugt. Neben einer erhöhten Treffsicherheit hat der richtige Fingeraufsatz daher auch weit reichende Konsequenzen für die Klangerzeugung. So entsteht ein tragfähiger Klang zwischen einem optimalen, „satten“ Finger- und Bogenkontakt!
2. Die Entwicklung des Klangsinnes
Bei der Entwicklung des Klangsinnes handelt es sich in erster Linie um eine gezielte Sensibilisierung für den Obertonbereich der selbst erzeugten Töne, also für den Klang beziehungsweise die Klangqualität. Das bewusste Experimentieren mit Beeinflussungen des Obertonspektrums durch Veränderungen der Spielweise kann hier Unterschiede hinsichtlich der Brillanz, Tragfähigkeit und „Weite“ eines Tones eindrucksvoll erfahrbar machen. Eigentliches Ziel einer derartigen Klangschulung ist das Erzeugen einer Tonqualität, die vom Spieler selbst als „schön“, „angenehm“ und „wohltuend“ empfunden wird. Für alle Instrumentalisten gilt, dass dieser „ästhetische“ Klang eine Art Ausgangsbasis darstellt, von der aus die verschiedenen in Stücken verlangten Ausdrucksformen und Klangfarben spielerisch erkundet werden können. Eine derartige auf die Tonqualität gerichtete Konzent-ration fördert zudem ein äußerst genussreiches „Aufgehen in den selbst erzeugten Klängen“. Sie kann bei konsequenter Anwendung regelrecht „high“ machen und ist in der Lage, den gesamten Übeprozess zu tragen.
3. Das Gefühl der Anstrengungslosigkeit
Jegliche Aktivität am Instrument sollte in einem Gefühl der Anstrengungslosigkeit geschehen. Gemeint ist hier nicht eine völlige Entspannung, eine Schlaffheit, sondern ein Körpergefühl des nicht angestrengten, leichten, fließenden Tuns. Ein zentraler Aspekt dieser Übemethode ist daher, das Gefühl der Anstrengungslosigkeit jederzeit beizubehalten. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit, jede einzelne Aktion an eben dieses Gefühl anzupassen. Konkret bedeutet dies beispielsweise, für eine technisch schwierige Stelle zunächst einmal eine Form der Vereinfachung zu erfinden, in der diese Stelle ohne ein subtiles Gefühl der Verkrampfung, das eine Überforderung des Bewegungsapparates signalisiert, ausgeführt werden kann. Diese Form stellt den Ausgangspunkt des weiteren Übeprozesses dar. In seinem Verlauf wird dann die Grenze dessen, was im Gefühl der Anstrengungslosigkeit bewältigt werden kann, kontinuierlich erweitert.
4. Der spielerische Umgang mit dem Übematerial
Zu Beginn einer jeden Übesequenz sollte in jedem Falle zunächst – in Form von einzelnen Tönen oder leichten Melodien – der oben beschriebene Kontakt zum Instrument, zum Klang und zum Gefühl der Anstrengungslosigkeit etabliert werden. Hat man dieses Gefühl erreicht, kann man sich an die Erarbeitung der aktuellen Literatur machen. Diese sollte zunächst in einem improvisierenden Herumspielen mit den Tönen des studierten Werkes bestehen.
Die Bewegungen sind frei und schwingend, man „tanzt“ mit dem Stück. Notenwerte, Bindungen und besondere Striche müssen nicht eingehalten werden. Die Bemühung ist hier darauf gerichtet, das vorgegebene Tonmaterial zunächst einmal in optimal klingende Töne umzusetzen und dabei die Aufmerksamkeit auf den oben beschriebenen dichten und „stimmigen“ Kontakt zum Instrument und zum erzeugten Klang zu richten. In der Regel entsteht spontan eine musikalische Dynamik, die unmittelbar in den Geist des studierten Werkes führt und für die notwendige seelische Beteiligung am Übeprozess sorgt, aber frei ist von den Zwängen einer „richtigen“ oder „perfekten“ Interpretation. Hier entsteht das Flow-Gefühl, man taucht ein in einen kontinuierlichen Handlungsstrom. Der weitere Übeprozess behält diesen improvisierenden Zugang zum Werk bei, nähert sich jedoch nach und nach der vorgesehenen Endfassung. Das Zentrum des Übens sollte hierbei unbedingt das Gefühl der Anstrengungslosigkeit bleiben.
Der Lernprozess beim „Üben im Flow“ kann im Wesentlichen als ein sich selbst organisierender Vorgang des Füllens von „Gefühls- und Klanglöchern“ beschrieben werden. Ist erst einmal der als äußerst angenehm empfundene Instrumentenkontakt zum Beispiel der linken Hand etabliert, werden „klemmende“, nicht rund laufende Bewegungsabläufe schnell und deutlich spürbar. Ebenso werden Mängel im Bogenkontakt zur Saite unmittelbar als störend erlebt. Es entsteht so das Bedürfnis, alle Bewegungsvorgänge optimal zu fühlen, zu ertasten, zu spüren. Das Üben wird effektiv, es wird bedürfnisorientiert. Durch den Fokus auf das Gefühl der Anstrengungslosigkeit werden so komplizierte Bewegungsabläufe in einer spielerischen, gewaltlosen Weise äußerst gründlich „durchgearbeitet“ und tief im sensomotorischen Körpergefühl verankert.
Es sind vor allem Angst, Ungeduld und übertriebener Ehrgeiz, die ein Eintauchen in den Flow-Zustand beim Üben verhindern. Derartige Dispositionen sorgen von vorneherein für ein angespanntes Körpergefühl, verhindern den freien Fluss der Energie im Körper und unterbrechen den oben beschriebenen subtilen Kontakt zum Instrument. Eine weitere mentale Falle stellt ein übersteigerter Perfektionsdrang dar oder der Wunsch, ein technisches, musikalisches oder interpretatorisches Ideal direkt und unmittelbar zu verwirklichen. Das Handeln wird angestrengt, es ist vorrangig von einer Idee oder Vorstellung bestimmt, es ist ausschließlich ziel- beziehungsweise resultatorientiert.
„Üben im Flow“ richtet die Aufmerksamkeit statt dessen auf den Prozess beziehungsweise das Körpergefühl oder den Weg, der zur Erreichung des Zieles nötig ist. Das Ziel besitzt hier somit eine richtunggebende Funktion, dominiert aber nicht den gesamten Arbeitsprozess.