„Neutönende Kinder: meet the composer“. Ein wenig vornehm klingt es schon, das „Schulkulturprojekt“ der „Plattform Neue Musik Ruhr – Entdeckungen“, ihrerseits Förderprojekt des von der Bundeskulturstiftung initiierten Netzwerks Neue Musik. Fünf Klassen aus vier weiterführenden Schulen entwickeln „Gruppenkompositionen“. Aufhänger: „Alice in Wonderland“, die Oper der koreanischen Residence-Komponistin Unsuk Chin an der Essener Philharmonie. Ein Schulprojekt im Belastungstest.
Wo Frau Chin ist? Achselzucken. Bitte, wer? Für einen Wimpernschlag lang herrscht Desorientierung an der Saaltür. Chin? Dann, nach kurzer Beratung, der Bescheid. Nicht da! – Ach so. Vielen Dank. Ist ja auch klar. Nicht in jedem Fall sollte man, was man auf Programmzetteln gedruckt findet, beim Wort nehmen. Will sagen: Nicht überall, wo „meet the composer“ draufsteht, ist auch ein solcher drin. Ein Umstand, der Projektleiterin Lesley Olson, die es als Querflötistin vor zwanzig Jahren aus dem fernen Chicago mitten ins Revier verschlagen hat, am meisten wurmt. Bis jetzt, gesteht der sympathische Blondschopf, habe es noch keiner der Essener Residence-Künstler geschafft, beim Abschlusskonzert anwesend zu sein. Dusapin nicht, Rihm nicht und auch nicht eine ebenfalls heftig globalplayende Komponistin wie Unsuk Chin, deren Oper „Alice in Wonderland“ immerhin ja der Auslöser ist für die an diesem Sonntagvormittag vorzustellenden „Gruppenkompositionen“.
Hektisch geht es zu im RWE Pavillon, dem turmhohen Kammermusiksaal der Essener Philharmonie. Die ersten Reihen komplett belegt von, geschätzt, hundertfünfzig Schülern, den Akteuren eines bunten Neunzigminuten-Programms. Da hier jeder ran darf, beziehungsweise alle ran müssen, hat man im Publikum einiges zu tun, um alles in diesen vergleichsweise kurzen Stücken zu sortieren, um Haupt- und Nebenrollen respektive Nebenstimmen auseinanderzuhalten. Fünf Musik-Klassen und Grundkurse aus vier weiterführenden Essener Schulen legen ihr ganzes Herzblut hinein, wenn sie „Alice“, „scary wonderworld“, „Reasu“ beziehungsweise „Chaos im Wunderland“ zur Aufführung bringen. Viel Engagement ist im Spiel. Und, wie beim Abschlussball des Tanzkurses, ebensoviel Aufgeregtheit.
Alte, neue Schwelle
Philharmonie, Huyssenallee 53. Für viele ist das immer noch (oder schon wieder) rutschiges Parkett, große ferne Bühne. Wie ein Schloss, wo ein Präsident wohnt und wo man ja auch nicht so einfach rein- und wieder rausspaziert. Kurios. Gerade der Einsatz des Vermittlerteams um Lesley Olson bringt ans Licht, wie groß noch immer (oder schon wieder) die Entfernung ist zwischen der „Stätte der geistigen und musischen Genüsse“ (Oberbürgermeister Reininger über die Philharmonie) auf der einen und den Vanessas und Kevins aus Frohn- und Holsterhausen, aus Werden und Altenessen auf der anderen Seite. Dass sie an diesem Sonntagmorgen eine (wenn nicht angst-, so zumindest doch respekteinflößende) Schwelle überschritten haben, ist ihnen ohne weiteres anzumerken. Musiklehrer Thomas Nieding erzählt vom ungläubigen Staunen in der Verwandtschaft, unter den Freunden, wenn man, stolz wie Oskar, vom bevorstehenden „Auftritt in der Philharmonie“ berichtet hatte.
Apropos Kevin und Vanessa. Wer die beteiligten Klassen in der Vorbereitungsphase aufgesucht hatte, konnte da schon seine Entdeckungen machen. Stark überall der Wille, im und als Team eine gute Figur abzugeben. Eine Überraschung: Nicht unbedingt muss die Fähigkeit zur Konzentration mit den instrumentalen Fertigkeiten etwas zu tun haben. Wo man sich leiten ließ von der Idee, wo man sich eingelassen hatte auf die allein durchs Hören kontrollierte Erfahrung eines improvisierten Ensemblespiels, war er da, der beglückende Eintritt in ein Stück Neuland. Und sei er verbunden gewesen mit der tatsächlich zum ersten Mal gemachten Entdeckung, dass auch die Papiertüte zum Instrument werden kann.
Raum und Zeit
Ortstermin, Alfred-Krupp-Gymnasium. Ein Donnerstag. Sanft schwingt der Gong durch die Oktave: Beginn der 6. Stunde. Die 10. Klasse der Traditionsschule mit dem berühmten Firmengründer im Namenszug hat sich im Musikraum versammelt. Der liegt ganz oben unter dem Dach und hat für eine alte Schule wie diese eine auffällig niedrige Decke. Mehr als einmal werden in den folgenden fünfundvierzig Minuten die Scheiben beschlagen, wird es stickig im Raum werden, so dass hilfreiche Hände immer wieder unaufgefordert die Fenster öffnen. Ganz anders die Frischluftlage am anderen Ende der Stadt. Gäbe es einen Preis für den schönsten schulischen Musikraum der Republik, das Leibniz-Gymnasium in Altenessen wäre ein unbedingter Anwärter. Natürlich macht es der musische Schwerpunkt der Schule, dass man die Musik hier nicht einfach mir nichts dir nichts unters Dach abgeschoben hat. Ein kombinierter Klassen- und Veranstaltungsraum lassen hinsichtlich Luft zum kreativen Durchatmen keine Wünsche offen. Die hohen Decken, die breiten Fensterfronten eines alten und doch so wunderbar neuen Schulgebäudes, ein durch Schiebetüren abgetrennter Theaterraum mit der Schoßqualität seines Tonnengewölbes – zusammengenommen sind dies die architektonischen Garanten fürs konzentrierte Arbeiten, das Thomas Niedings elfte Klasse zweifelsfrei an den Tag legt. Koordiniert, immer wieder motiviert, zuweilen ermahnt von Lesley Olson und ihrem Assistenten, dem Komponisten und Gitarristen Matthias Wittekopf, ist man gerade dabei, einen Ablaufplan zu schreiben. Noch zehn Tage bis zum großen Auftritt! Parallel brüten einzelne Schüler über Programmhefttexten. Wieder andere werkeln mit der Kunstlehrerin Annette Laudert an Fantasie-Masken. Ob sie noch rechtzeitig fertig werden? Es ist der Enthusiasmus, der sich seine Extra-, Nacht- und Sonntagsschichten schafft.
Besagten Enthusiasmus hat die zehnte Klasse des Krupp-Gymnasiums im Stadtteil Frohnhausen zwar auch – doch in Sachen Ausstattung und instrumentale Fertigkeiten ist man gegenüber der von Nieding geförderten Bläserklasse am Leibniz weit zurück. Wie man überhaupt im Krupp die Schule stärker spürt. Dass die Klasse (zudem noch schwer mit den Hormonen zugange) schon einen ganzen langen Schulvormittag hinter sich hat, sieht jeder. Und doch, abgesehen von dem einen oder anderen, der da weggedriftet still vor sich hinträumt, ist die Gruppe da. Hellwach sogar. Immerhin geht es um was, hier und heute. Nicht nur, weil sich Besuch angekündigt hat. Es ist der Kalender, der den 25 Adoleszenten im Nacken sitzt.
„Künstler der Gesellschaft für Neue Musik Ruhr besuchen weiterführende Schulen und entwickeln mit den Klassen Gruppenkompositionen.“ So einfach, so unzweideutig sieht es die Projektbeschreibung vor. Eines von mehreren Projekten, die unter dem Dach der Essener Philharmonie, im Büro des Intendanten Johannes Bultmann, koordiniert werden. Bei der Zusammenkunft der Partner von Folkwang Hoch- und Musikschule, Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, Landesmusikrat und Philharmonie freut man sich am Erreichten und sieht Wachstumspotenzial für die Zukunft, will ins ganze Revier „hineingehen“. Eine „Vision“, sagt Bultmann.
Doch hinter, respektive unter allen anvisierten „Brückenschlägen“ liegt die Ebene und ihre sprichwörtlichen Mühen. Das „Schulkulturprojekt“ beispielsweise. Gut, dass die „Plattform“ in diesem Fall jemanden wie Lesley Olson hat, die mit ihrem Elan alle ansteckt. Die GNMR-Kollegen von der Vermittlungsfront sowieso. Lisa Unterberg etwa, junge Fagottstudentin an der Folkwang Musikhochschule und Markus Stollenwerk, ein Komponist und Pianist, der sein wucherndes Haupthaar zum Pferdeschwanz gebunden hat. Am Krupp-Gymnasium sind die beiden so etwas wie musikalische Entwicklungshelfer. Petra Fabisch, die Musiklehrerin der Klasse, hält es jedenfalls für einen Segen, der ihr da, gleich im Doppelpack, ins Haus geflattert ist. Alleine eine „Gruppenkomposition“ entwerfen und einüben? Undenkbar, sagt sie. Erst das Erscheinen der GNMR-Musiker habe hier Anschub und Perspektive gebracht, schlummernde Kräfte geweckt, das Vertrauen in sich selbst gestärkt.
Wehen und Wunder
Und jetzt doch. Unter dem Dach des Alfred-Krupp-Gymnasiums vollzieht sich (unter kräftigem pädagogischen Schieben und Ziehen) ein kleines Ensemble-Wunder. Hörbar kommt etwas in Gang. Wie ein Mobile schwebt eine Klangcollage daher, beeinflusst noch vom leisesten Lüftchen. Zaghaft, zerbrechlich, zögernd. Ein Etwas, dem gleichwohl der Wille zur Gestaltung anzumerken ist. Ja, es gibt sogar einen Dirigenten. Kevin ist dafür ausersehen. Warum, weiß er selber nicht. Egal. Da steht er nun vor seinen Mitschülern, rudert mit den Armen in der Luft herum, um plötzlich ganz energisch auf diesen oder jene zu zeigen. Den Kuli, den er in der Hand hält, presst er dann noch ein wenig fester.
Unter heftigen Geburtswehen hat sich die Klasse nach manchen Rückschlägen etwas erarbeitet, was irgendwie ein gangbarer Weg zu sein verspricht. Die vorhandenen Instrumente, ein Keyboard, ein Klavier, Holzschlagwerk, Gitarre, sogar ein Cello werden in Ein-Fingertechnik bedient. Indem jeder bei seinem Pattern, bei seinem Rhythmus bleibt, trägt er eben dadurch zur Gestaltwerdung eines neuen Ganzen bei. Die Gruppe erlebt es mit und freut sich daran. Rührend, mitzuerleben, wie 15- bis 16-jährige Schüler, die sämtlich den jeweils neuesten Schrei der Unterhaltungsindustrie kennen und ihm nachhängen, plötzlich begeistert sind vom Vorschlag, das finale Tütensolo erstens kollektiv, zweitens mittels Butterbrotpapiertüten auszuführen und dieselben am Ende zum Platzen zu bringen. Jedem ist klar: Damit hat die Form ihr schlüssiges Ende. Paff! So einfach ist das. Und dann doch so schwer.
Ganz anders nämlich die Erfahrung RWE Pavillon. Die ungewohnte Konzertsituation, das Erscheinen der anderen Klassen („Konkurrenten!“) – all dies zerrt so sehr am Nervenkostüm, dass der mäandernden Versuchsanordnung auf einmal ihr Eigentliches, ihr Zauber abhanden kommt. Einer, der gerade nicht in Theatralik, in Virtuosität, in Getue und Gekrache besteht, sondern in einer sehr eigenen transparenten Brüchigkeit, ein anderes Wort für Zartheit. Dazu ist der Kontakt an diesem Vormittag abgerissen. Was schade ist, hat man doch durchaus so manche Entdeckung gemacht. Siehe oben.