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„Irgendwann war’s nur noch Krampf“

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Europäische Gesellschaft für Dispokinesis fordert Musikphysiologie im Curriculum
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Da die Uhr tickt, wird unter großem Druck geübt. Der Überaum in der Hochschule kann ja nur für kurze Zeit reserviert werden. Und schon wieder steht ein Klassenspiel oder eine Prüfung an. „Unter diesem Druck kann es beim Üben nicht zum Dialog mit sich selbst kommen“, konstatiert die Dispokinetikerin Angelika Stockmann.

Bei einer Podiumsdiskussion in Mülheim an der Ruhr lotete sie mit Kolleginnen und Kollegen die heutige Bedeutung der Dispokinesis zwischen Instrumentalpädagogik und Musikermedizin“ aus. Anlass für die Veranstaltung war das 20-jährige Bestehen der Europäischen Gesellschaft für Dispokinesis (EGD).

Damit die Lust am kreativen Spielen lebenslang erhalten bleibt, sollte früh begonnen werden, dispokinetisches Wissen zu vermitteln – also die körperlichen, mentalen und psychischen Grundlagen des Musizierens. Vorbildlich geschieht dies in der von Wolfram Lutz geleiteten Musikschule Tettnang. Seine Bildungsinstitution war eine der ersten, die das Zertifikat „Gesunde Musikschule“ erhielt. Hier wurden früh schon Fortbildungen zu den Themen „Körperwahrnehmung“, „Lampenfieber, und „Dispokinesis“ etabliert. Außerdem gibt es Mentoren für das Thema Musikergesundheit. Stress schon bei Kindern zu vermindern, wird für Musikschulen immer wichtiger, betonte der Musikschulleiter. Wobei der Stressfaktor auch im Hochschulstudium und beim Karrierestart heute im Vergleich zu früher immens angewachsen ist. „Irgendwann ist es nur noch Krampf und Anstrengung“, bestätigte der Posaunist Carsten Luz aus eigener leidvoller Erfahrung.

Auch bei ihm klappte es zunächst nicht mit dem erträumten Aufstieg. Durch immensen selbst erzeugten Druck und erdrückende Erwartungen von außen spielte Luz zunehmend schlechter: „Immer mehr Sachen gingen mir nicht mehr locker von der Hand.“ Dann sei es „richtig bergab“ gegangen. Bis ihm die Augen geöffnet wurden für das, was körperlich und mental bei ihm schief läuft. Auch sein Schüler Christian Vosseler hatte sich ins Üben verbissen und damit äußerst negative Erfahrungen gemacht: „Manche Lagen auf der Posaune bereiteten mir Probleme. Als ehrgeiziger Mensch wollte ich die mit aller Macht lösen. Was schließlich zur totalen Verkrampfung geführt hat.“

Vosseler hatte, wie viele Studierende, fest umrissene Vorstellungen von seiner späteren Karriere: „Orchestermusiker zu werden, das war mein Topthema.“ Um dem Druck auf dem Karriereweg standzuhalten, nahm der Posaunist Betablocker ein, auch unterzog er sich wegen seiner Beschwerden beim Spielen einer Psychotherapie. Beides ohne nachhaltigen Erfolg. Sein größter Wunsch, Posaune wieder mit Leichtigkeit und gutem Gefühl zu spielen, ging erst dann in Erfüllung, als er die Dispokinesis für sich entdeckt hatte. Derzeit lässt sich Vosseler selbst zum Dispokinetiker ausbilden.

Genügt es, dass vereinzelte Musiker die Dispokinesis als Pluspunkt für sich und ihre Karriere entdecken? Nein, findet Alexandra Müller von der EGD. Sie fordert die Einbettung in den Lehrplan an Musikhochschulen: „Als Fach namens ‚Musikphysiologie’, das so selbstverständlich unterrichtet wird wie Musikpädagogik und Musikgeschichte.“ Ein solches Fach könnte zum Ort werden, an dem Studierende mit sich selbst im Dialog sind, ergänzte Angelika Stockmann. Und in dem sie ein neues Selbstverständnis von sich als Musikerin oder Musiker bekommen, so der früh von fokaler Dystonie betroffene Cellist Joachim Schiefer. Ob Blas-, Streich- oder Rhythmusinstrument – prinzipiell können alle Musikerinnen und Musiker von diesem gefürchteten Leiden betroffen werden, unterstrich der Musikermediziner Professor Eckart Altenmüller. Etwa 15 Prozent seiner eigenen Patienten leiden hierunter.

Fokale Dystonie erzwingt im schlimm­sten Fall den Abgang von der Bühne. Einige Musiker sind stärker von ihr betroffen als andere: „Je präziser gespielt werden muss, umso größer ist die Gefahr.“ Von daher erkranken Flötisten eher an fokaler Dystonie als Kontrabassisten. Die Gefahr wächst weiter durch Perfektionismus und Zwanghaftigkeit. Ein früher Spielbeginn, möglichst schon mit sieben Jahren, erscheint hingegen protektiv. Und natürlich eine rechtzeitige Vermittlung dispokinetischen Wissens.

Beachten Sie auch unseren Schwerpunkt Musikergesundheit im beiliegenden Hochschulmagazin.

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