Hauptbild
Begeisterung wecken, vielfältige Musikpraxen zeigen: Workshop-Impressionen. Foto: BMU/Ben Reichel

Begeisterung wecken, vielfältige Musikpraxen zeigen: Workshop-Impressionen. Foto: BMU/Ben Reichel

Banner Full-Size

Kraft schöpfen für harte Zeiten

Untertitel
Wenig Kontroversen und große Übereinstimmung beim 6. Bundeskongress Musikunterricht in Kassel
Vorspann / Teaser

Die Zeiten werden härter, offensichtlich. Geradezu spartanische Bedingungen erwarteten am Eröffnungstag die zum Teil von weither angereisten Besucherinnen und Besucher des 6. Bundeskongresses Musikunterricht im Institut für Musik an der Universität Kassel: Garderoben für Kleidung und Gepäck waren nicht vorgesehen, Ansagen und Aussagen bei den eröffnenden Veranstaltungen im Konzertsaal des universitären Musikinstituts wegen fehlender Mikrofone teils nur mühsam zu verstehen, und zu essen und zu trinken gab es buchstäblich nichts. Draußen herrschte unfreundliches Herbstwetter mit zeitweisem Schauerregen. Drinnen aber spürte man vor allem Erwartung und Neugierde. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Die gut besuchte Eröffnung, eingerahmt von zwei rundum gelungenen Musikbeiträgen eines Schlagzeug- und eines Tango-Ensembles, machte Lust aufs Programm. Susanne Dreßler, Professorin für Musikpädagogik am gastgebenden Institut, fand mit der Triangel in der Hand einen ansprechenden Einstieg zur Leitfrage „Was bleibt von Musik?“. BMU-Präsident Georg Biegholdt bedankte sich bei der hessischen Landesregierung und dem Kultusministerium für großzügige Unterstützung, und sein Ko-Vorsitzender Jürgen Oberschmidt verband die nüchterne Diagnose „Die fetten Jahre sind vorbei“ mit der Hoffnung, der Kongress könne neue Kräfte für das eigene Handeln freisetzen. Wie selbstverständlich machten sich die Anwesenden danach auf in die Folgeveranstaltungen. Derer gab es 453 – beachtlich viele –, und immer wieder fiel die Entscheidung schwer zwischen zwei oder mehr interessanten Parallelveranstaltungen. Wohltuend war, dass sich der örtliche Schwerpunkt ab dem zweiten Tag zum Kongresspalais und den benachbarten Bildungsinstitutionen und damit in den atmosphärisch und gastronomisch angenehmen Vorderen Westen der Stadt verlagerte.

Etwa 750 Kongress-Anmeldungen gab es zu verzeichnen – nach Einschätzung des BMU-Bundesvorstandes ein mittelmäßiges Ergebnis. Das nordhessische Kassel, auf den zweiten Blick eine interessante und sehenswerte Stadt, wirkt eben als Veranstaltungsort nicht unmittelbar anziehend, und es liegt, anders als Mannheim vor zwei Jahren, nicht in einem größeren Ballungsgebiet mit zahlreichen Interessierten in der Nachbarschaft. Dass Fortbildungsangebote seit der Corona-Pandemie weniger angenommen werden, ist ohnehin der Trend, und „Musikunterricht nachhaltig gestalten“ als Untertitel des Kongress-Mottos verhieß nicht eben leichte Kost. Doch wer kam, tat das anscheinend bewusst und hochmotiviert. Anders als oft sonst waren viele Podien, Arbeitskreise und reflektierende Workshops gut besucht. Dabei erschien der Mehrheit die Innenperspektive vom Musikunterricht her offensichtlich dringlicher und klarer benennbar als die Außenperspektive von Gesellschaft und Politik mit all ihren An- und Herausforderungen für den Unterricht. Zwischen den vielen Studierenden und Lehrkräften im aktiven Dienst fielen die Ruheständler auf, denen Beruf und Nachwuchs immer noch ein Anliegen sind.

Großes Interesse fand das kompetent besetzte Eröffnungspodium „Musikunterricht nachhaltig gestalten“. Wer hätte dem ernsthaft widersprechen wollen, was Matthias Schillmöller (PH Heidelberg) als Aufgabe benannte, „jungen Menschen möglichst viele Erfahrungen eigenen Könnens, Wissens und Gelingens mit Musik (zu) bieten“? Die Lehrkraft müsse Begeisterung wecken, vielfältige Musikpraxen zeigen und Appetit machen. „Es kann nur keiner alles“, bemerkte trocken Werner Jank (HFMDK Frankfurt), und verwies auf die notwendige Kooperation in den Fachgruppen und die gemeinsame Arbeit am Schulcurriculum, für die es im Schulalltag meist an Freiräumen fehle. Ein systematischer Aufbau musikalischer Kompetenzen sei angesichts der ausgedünnten Stundentafeln kaum mehr möglich, bemerkte Martin Weber (Vorsitzender des VDS Niedersachsen). Auch unter missliche Umständen gelte es, meinte Schillmöller, mit allen Anwesenden kreativ zu werden: „Schon der erste Ton kann eine wunderbare künstlerische Geste sein!“ Vielen Lehrkräften fällt es allerdings schwer, eingeschliffene Bahnen zu verlassen. Sogar Referendarinnen und Referendare greifen im straff bemessenen Vorbereitungsdienst – ohne den nötigen Freiraum und ohne ausreichende unterstützende Begleitung – zurück auf scheinbar altbewährte Konzepte. Der im Publikum zitierte Satz „Ich weiß selber, dass es nicht gut ist, aber wir müssen irgendwie durchkommen“, dürfte auch auf viele Routiniers an der Belastungsgrenze zutreffen.

Wieder einmal als interessantes Format erwiesen sich die Kurzvorträge „Aus der Forschung“, die den schulischen Praktikern einen Einblick in die universitäre Wissenschaft vermitteln und die musikpädagogische Wissenschaft an die Schulrealität rückkoppeln. Andreas Lehmann-Wermser (MHS Hannover) und Patrick Witte (HMT Köln) erläuterten nicht nur die im Frühjahr vorgestellte bundesweite Studie zum Lehrkräfte-Mangel (MULEM-EX), sondern präsentierten auch gleich einen Katalog möglicher Gegenmaßnahmen: Man brauche das Referendariat „als Coaching“, eine Begleitung in den Berufsalltag, in den Lehrerkollegien die Entlastung von Organisations- und Verwaltungsaufgaben sowie mehr Möglichkeiten zu Kooperation und Teamteaching. Es gelte außerdem, die äußeren Bedingungen für die musikpraktische Arbeit zu verbessern, die Lerngruppen zu verkleinern und Entlastung für musikalische Projekte und Teamteaching zu gewähren. Die Option Teilzeit müsse erhalten bleiben, um Musikpädagoginnen und -pädagogen nicht den Raum für künstlerische Tätigkeiten und Erfahrungen zu nehmen. Die Information über Studiengänge und Eignungsprüfungen an Hochschulen und Universitäten müsse deutlich verbessert werden – mit besonderem Blick auf neue, veränderte Bedingungen. Im Unterricht selbst gelte es, eine Vielfalt von musikalischen Praktiken erfahrbar zu machen und sich an den „wirklichen Interessen und Fähigkeiten der SchülerInnen“ zu orientieren. Dass Letzteres durchaus eine Herausforderung darstellt, machte der Vortrag von Susanne Dreßler und Julia Brennecke (Uni Kassel) über „Tanzvideos auf TikTok“ deutlich: Diese sind für viele Heranwachsende tatsächlich von hohem Interesse. Der Unterricht sollte allerdings auch Distanz schaffen zu den geschönten und damit hochproblematischen Körperbildern.

Insgesamt gab es wenig Kontroversen, und viel Übereinstimmung, was zu tun sei. Bemerkenswert in dieser Hinsicht war die umfangreiche Liste von Voraussetzungen für eine gelingende Kooperation von allgemeinbildender Schule und Musikschule, die VdM-Bundesgeschäftsführer Holger Denckmann im zuständigen Arbeitskreis vorlegte. Seine Bemerkung „Jede Schule ist anders!“ verwies dabei auf die vielfältig verästelten Verantwortlichkeiten für Veränderung vor Ort. 

Auf der anderen Seite richteten sich die Blicke auf die Politik und die neuerlichen Kürzungen der Stundentafel in einigen Bundesländern. Die Vereinbarung der KMK zur Arbeit in der Grundschule vom 15.03.2024 sieht das Fach Musik zwar nach wie vor im Fächerkanon. Im vorausgegangenen und stark beachteten Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) von 2022 wird allerdings das Potential des Faches bei der Förderung sprachlicher, mathematischer sowie sozial-emotionaler Kompetenzen an keiner Stelle erwähnt; der Begriff „Musik“ kommt überhaupt nur ein einziges Mal vor, nämlich auf S. 99 als Wortbestandteil von „Musikschule“ (im Zusammenhang von Kooperation).

Dass Marcus Kauer als der für Musik zuständige Referent im hessischen Kultusministerium (und zugleich gelernter Schulmusiker) beim Podium „Musikunterricht in gesellschaftlicher Verantwortung“ engagiert mitdiskutierte, darf man da als gutes Zeichen werten. Sein Hinweis auf die hessischen „Schulen mit erweiterter Selbstständigkeit“, die dem Fach Musik mehr Raum geben können, ist allerdings zweischneidig. Denn mehr denn je hängt der Musikunterricht dann von den personellen Konstellationen vor Ort ab. Seinem Eindruck, Musiklehrerinnen und -lehrer bräuchten mehr „Mut zur Freiheit“, lässt sich nur schwer widersprechen. Die Partizipation von Heranwachsenden im Unterricht wird umso notwendiger, je mehr man sich um den Fortbestand unserer Demokratie Sorgen machen muss.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!