„Musik und Demenz – Instrumentalunterricht mit demenziell veränderten Menschen“ heißt eine neue Webseite (www.musikunddemenz.de), auf der anhand kommentierter Videomitschnitte der Violinunterricht mit einer Seniorin dokumentiert und ausgewertet wird. Durchgeführt wurde der Unterricht im Rahmen des von Prof. Dr. Theo Hartogh (Universität Vechta) geleiteten EU-Projektes „ReKuTe – Partizipative Wissenschaft für Region, Kultur und Technik“ von Anke Feierabend, die sich seit über zehn Jahren mit dem Thema Musik und Demenz beschäftigt. Für die nmz sprach Juan Martin Koch mit ihr über verborgene Schätze, das Körpergedächtnis und validierenden Instrumentalunterricht.
neue musikzeitung: Wie haben Sie das Thema Instrumentalunterricht mit Erwachsenen für sich entdeckt?
Anke Feierabend: Ich habe schon sehr früh damit angefangen: in Südamerika, wo ich nach der Schule einige Monate gelebt habe. Ich machte oft Straßenmusik mit der Geige und wurde von Erwachsenen angesprochen, ob ich sie unterrichten würde. Zurück in Deutschland ging das dann ganz selbstverständlich weiter, denn ich hatte gemerkt, dass Erwachsene sehr wohl sehr gut lernen. Das alte Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt…“ stimmt einfach nicht. Erwachsene lernen anders als Kinder, lernen mit einem anderen Bewusstsein und machen dabei hervorragende Fortschritte. Das liegt auch daran, dass der Wunsch, ein Instrument zu lernen, wirklich von innen kommt. Außerdem haben sie, was das Üben betrifft, den Kindern oft etwas voraus, da sie wissen, dass es ohne regelmäßiges Üben keine Fortschritte geben kann.
nmz: Wann kam das Thema Demenz hinzu?
Feierabend: 2009 kam ein Herr auf mich zu und fragte mich, ob ich seine mittelschwer an Alzheimer erkrankte Frau, 54 Jahre alt, auf der Geige unterrichten würde. Ich habe spontan Ja gesagt, hatte aber nicht wirklich eine Ahnung, welche Auswirkungen die Krankheit auf das Instrumentalspiel, geschweige denn die Instrumentaldidaktik hat. Natürlich wusste ich: Demenz hat etwas mit Gedächtnisverlust zu tun, aber welche Konsequenzen das dann tatsächlich für den Unterricht hat, war mir in keiner Weise klar. Es kam dann die erste Stunde, und binnen weniger Minuten wusste ich, dass meine Instrumentaldidaktik hier praktisch nutzlos war. Ich konnte nichts erklären, konnte nichts zeigen, konnte nicht sagen: machen Sie das mal so und so, weil meine Schülerin dafür gar nicht mehr empfänglich war. Aber ich sah die Frau mit ihrer Geige in der Hand – sie hatte als Kind einige Jahre Unterricht gehabt – und wünschte mir so sehr, sie wieder mit ihrem Instrument in Verbindung zu bringen.
Lieder aus der Erinnerung „ausgraben“
nmz: Wie haben Sie dann unterrichtet?
Feierabend: Ich habe angefangen, ihr Lieder vorzuspielen, von denen ich hoffte, dass sie sie kennt. Tatsächlich hat sie bei einem davon die Geige angesetzt und versucht mitzuspielen, natürlich ohne Noten. Das klappte dann auch bei einer ganz kleinen Sequenz. Genau da setzte ich an: Ich wiederholte diese Sequenz und versuchte, sie mit meiner neuen Schülerin weiterzuführen. Auf diese Art konnte ich das ganze Lied aus ihrer Erinnerung „ausgraben“. Am Ende der Stunde war sie in der Lage, es mit mir zusammen zu spielen. Zuhause habe ich dann im Internet zum Thema „Aktives Musizieren mit demenzkranken Menschen“ recherchiert, in der Gewissheit, dort Informationen darüber zu finden, wie man so etwas nun tatsächlich macht. Das war aber nicht der Fall. Es gab viel zu Musiktherapie, aber zu echtem Instrumentalunterricht fand ich damals nichts. Wenn es schon etwas gab, so war es zumindest noch nicht im Internet verfügbar. So machte ich mich alleine auf den Weg und entwickelte meine eigene Unterrichtsmethode, die ich als „Anke Feierabend-Methode“ später markenrechtlich schützen ließ.
nmz: Wie ging es mit ihrer ersten demenzkranken Schülerin weiter?
Feierabend: Ich habe sie insgesamt sieben Jahre unterrichtet – im Grunde war das eine private Langzeitstudie – und es war wirklich wundervoll, welche Entwicklung diese Frau durchmachte. Es war ganz deutlich, dass sie tatsächlich dazulernte, womit ich nicht gerechnet hatte. Bis ins fortgeschrittene Alzheimerstadium hinein konnte ich mit ihr zweistimmig musizieren. Es war ganz offensichtlich, dass ihr musikalisches Langzeitgedächtnis intakt blieb. 2015 wurde vom Max-Planck-Institut für Neuro- und Kognitionsforschung dann der wissenschaftliche Beweis dafür erbracht, dass diese Hirnregion von der Alzheimer-Krankheit so gut wie nicht befallen wird. Schon früh habe ich damals angefangen, die Stunden mit einem Aufnahmegerät aufzuzeichnen. So entstand ein riesiges Archiv, das ich zum Teil für meine Vorträge und Fortbildungen ausgewertet habe, die ich seit 2012 in verschiedenen Kontexten halte.
nmz: Wie kam es dann zur Webseite „Musik und Demenz“?
Feierabend: 2013 las ich von einer Fachtagung „Demenz und Musik“. Ansprechpartner war Prof. Theo Hartogh, den ich kontaktierte und ihm von meiner Arbeit berichtete. Fortan erhielt er meinen Newsletter, in dem ich schon vor Jahren angefangen habe, über die Entwicklung meiner Arbeit zu informieren. 2015 wurde ich dann als Vortragsreferentin von der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik (DGfMG) für die Fachtagung Musikgeragogik „Instrumentales Lernen im Alter“ an die Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden eingeladen. Schließlich fragte mich Theo Hartogh, ob ich Interesse hätte, an einem Uni-Projekt teilzunehmen. Das haben wir dann mehrere Jahre lang vorbereitet. Ende 2018 war es dann soweit, und jetzt sind wir leider schon am Ende – die Webseite ist das Ergebnis.
nmz: Kommentiert und ausgewertet wird dort der Unterricht mit nur einer Schülerin – warum?
Feierabend: Wir hatten einige Presseaufrufe gestartet mit der Frage, wer Interesse hätte, an einem solchen Projekt teilzunehmen. Es meldete sich aber nur eine Angehörige, was vermutlich daran liegt, dass ja das Einverständnis vorliegen muss, das durchaus intime Material zur Auswertung freizugeben und öffentlich zugänglich zu machen. Wir haben dann mit dieser einen Schülerin angefangen und merkten sehr schnell, dass alleine das schon so viel Zeit in Anspruch nahm, dass wir weitere Schüler mit dem bewilligten Stundenkontingent gar nicht geschafft hätten. So blieb es bei der einen Schülerin, was dann auch gut war, denn so konnten wir uns ganz darauf fokussieren.
nmz: Warum haben Sie sich für diese spezielle Art der Aufbereitung in Form kurzer, auf bestimmte Aspekte bezogener Ausschnitte entschieden?
Feierabend: Wir hatten vorher eine ungefähre Idee, aber dass es so ins Detail gehen würde, war zu Beginn nicht abzusehen. Wir wussten ja auch nicht, was in diesem einen Jahr mit der Schülerin möglich sein würde. Bei der Auswertung hat Dr. Kerstin Jaunich, meine Projekt-Kollegin, die die Auswertung durchgeführt hat, dann vieles bestätigt gefunden, was mir aus früheren Unterrichtserfahrungen mit meinen demenzerkrankten Schülern bereits bekannt war. Diese offenbar allgemeingültigen Aspekte wurden für die Webseite in Unterpunkte gegliedert. Interessierte können sich somit sehr gezielt Filmausschnitte zu den einzelnen Themen ansehen und die Kommentare dazu lesen.
Wertschätzung und Erfolgserlebnisse
nmz: Was wäre so ein Einzelaspekt?
Feierabend: Da gibt es zum Beispiel im Menü „Unterricht“ das Thema „Validierende Haltung“. Das ist ein Aspekt, der den Unterricht mit Demenzerkrankten stark von anderem Unterricht unterscheidet. Ich hatte eine über 90-jährige Klavierschülerin, deren Tochter eine Ausbildung in der von Naomi Feil entwickelten Methode „Validation“ gemacht hatte. Sie war im Unterricht immer dabei und sagte eines Tages: „Was Sie machen, ist validierender Musikunterricht!“ Damals kannte ich den Begriff noch gar nicht und war erstaunt: Für das, was ich machte, gab es ein Wort! Es kommt ja regelmäßig vor, dass ein Schüler etwas macht, das nicht in einen normalen Unterricht passen würde. Häufig wird zum Beispiel von einem Musikstück in ein anderes gewechselt: Da spielen wir vielleicht „Der Mai ist gekommen“ (singt die erste Zeile vor), die Schülerin spielt dann aber so weiter (singt „Weißt du wieviel Sternlein stehen“), wechselt irgendwann in „Muss i denn…“ und endet wieder mit „Der Mai ist gekommen“. Aus einem Potpourri verschiedener Lieder ist ein wunderschönes, neues Stück geworden. Für den Schüler ist eben das jeweilige Lied gerade präsent, seine Handlung ist also folgerichtig und in Ordnung. Da wäre es völlig kontraproduktiv und würde den „Flow“ des Schülers zerstören, wenn ich abbrechen und sagen würde: Das ist aber das falsche Lied! Meine Aufgabe ist es, ein Erfolgserlebnis zu schaffen. Die Freude und das Sich-selbst-wieder-positiv-Wahrnehmen sind wichtiger als die überraschenden Lernfortschritte.
nmz: Viele solcher Szenen, in denen auch vermeintlichen Kleinigkeiten diese Wertschätzung entgegengebracht wird, finden sich dann kommentiert und reflektiert auf der Webseite. An wen richtet sie sich?
Feierabend: An Musiker*innen, die so etwas gerne selbst machen wollen. Bei meinen Vorträgen merke ich, dass es immer mehr werden. Anhand der Webseite können sie sich einmal grundsätzlich darüber informieren, wie so etwas gehen kann, können aber auch tiefer einsteigen. Auch für Musikschulen und deren Lehrkräfte ist die Seite gedacht, die beim Unterricht mit älteren Erwachsenen zwangsläufig auf demenzielle Erkrankungen stoßen. Außerdem soll die Webseite auch dazu dienen, Akteure, die schon selbst auf diesem Gebiet aktiv geworden sind, miteinander zu vernetzen.
nmz: Und für Angehörige Betroffener, die so etwas in Betracht ziehen?
Feierabend: Ganz genau, oder auch Betreuungskräfte. In Heimen sitzen oft Menschen, die noch musikalische Schätze in sich tragen. Was man dort erleben kann, ist wundervoll. Oft kann das Potenzial dort nur nicht genutzt werden, weil niemand weiß, wie es geht.
nmz: Und weil es so individuell ist?
Feierabend: So ist es. Natürlich kann man auch Angebote für mehrere machen, das ist dann aber etwas anderes als der Einzelunterricht. Ich gebe seit Jahren Wunsch- und Mitmachkonzerte in Seniorenheimen. Ich frage die Menschen, was sie hören möchten – nach der Musik aus ihrem Leben, die für sie von Bedeutung ist – und spiele sie für sie. Jedes Konzert ist anders, die Zuhörer sind selbst Akteure und bestimmen das Programm. Wichtig ist dabei, dass ich mit der Geige nahe an die Menschen herankomme, von einem zum anderen gehen und jeden anblicken kann. Wenn sie sich persönlich wahrgenommen fühlen, werden sie wach.
nmz: Über die vielen Unterrichtsausschnitte lernt man Frau Schmidt – so das Pseudonym Ihrer Schülerin im Projekt – immer näher kennen. Da will man schließlich auch wissen, wie es ihr in den vergangenen Monaten ergangen ist…
Feierabend: Das findet man auch auf der Webseite, gegen Ende der Biografie von Sigrid Schmidt. Es ist leider ganz deutlich eine Verschlechterung eingetreten. Die Krankheit ist schneller vorangeschritten als gedacht. Frau Schmidt hat während des Lockdowns die Sprache verloren und ist viel verschlossener und niedergeschlagen, was sehr tragisch ist. Wir wollten ihr über das Uni-Projekt hinaus weitere Unterrichtsstunden geben, finanziert über den Verein „TonFolgen“, den ich 2014 gegründet habe. Dann kam Corona dazwischen. Mittlerweile habe ich die Information von der Tochter, dass wieder eine fremde Person in das Heim kommen darf, aber das Problem ist: Wir wären durch eine Glasscheibe getrennt…
Der Lockdown als Ausnahmesituation
Dazu muss ich eine wichtige Erfahrung erzählen: Wenn ein Demenzkranker sein Instrument nicht mehr in die Hand nimmt und spielt, dann bedeutet das keineswegs, dass er nicht mehr spielen kann. Bei meiner ersten Schülerin war es so, dass sie irgendwann die Geige nicht mehr auspackte, weil sie mit diesem Gegenstand nichts mehr anfangen konnte. Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, sich die Geige ans Kinn zu halten und zu spielen. Wenn ich das gemacht habe und ihr dazu den Bogen in die Hand gab, ging es wieder. Das Körpergedächtnis ist also noch da, nur die Verbindung zum Gegenstand Geige ist weg.
nmz: Die Glasscheibe hilft da nicht weiter…
Feierabend: Richtig. Das ist jetzt der Status quo, und wir müssen darüber nachdenken, wie es unter diesen Bedingungen weitergehen könnte. Die direkte, auch körperliche Begegnung mit den demenziell beeinträchtigten Schülern im Unterricht ist elementar, damit er gelingen kann. Jede Isolation führt zu einem schnelleren Verfall. Gemeinsam mit der Tochter überlegen wir derzeit, wie wir für ihre Mutter wieder einen Weg zur Geige ebnen können.