Im Jahr 2012 verabschiedete die Konferenz der Landesmusikräte im Deutschen Musikrat das Grundsatzpapier „Musikalische Bildung in Deutschland“. Erstmals ist hier der Versuch unternommen worden, eine Synopse zur Situation der Schulmusik in Deutschland zu erstellen.
Auch wenn dieser erste Versuch in Teilen unbefriedigend verlief – Vieles ließ sich aufgrund der heterogenen Schulstrukturen in den 16 Bundesländern statistisch kaum erfassen, überdies gab es eine unverkennbare Neigung in manchen Bundesländern, die Defizite in der musikalischen Bildung zu verschleiern –, so gibt es gleichwohl unmissverständliche Befunde: Nach wie vor fallen bis zu 80 Prozent des Musikunterrichts an Grundschulen aus, und ganz grundsätzlich, heißt es an einer Stelle, müsse sich „musikalische Bildung erst wieder neu entwickeln“. Dies ist ein wahrlich niederschmetterndes Ergebnis, denn im Umkehrschluss besagt dies nichts anderes, als dass es musikalische Bildung letztlich kaum mehr gibt.1
Die Gründe dafür sind vielfältig und auch schon oft benannt worden. In diesem Zusammenhang ist immer wieder von einer Bildungspolitik die Rede, die sich zunehmend an Verwendungssituationen oder gar dem gesellschaftlichen wie (dem angenommenen) ökonomischen Nutzen einzelner Fächer orientiere. Und in der Tat kann man fast allwöchentlich beobachten, mit welcher Intensität etwa von Seiten der Wirtschaftsverbände diesbezüglich Druck ausgeübt wird. Man tut gut daran, einzuräumen, dass die Musik in dieser Hinsicht schlechte Karten hat. Seit der in erheblichen Teilen fragwürdigen Bastian-Studie (man kann von Glück sagen, dass selbige in aller Stille beerdigt wurde) hat es zwar immer wieder Untersuchungen gegeben, welche dem „Nutzen“ dieses Faches galten. Unabhängig von allen positiven Ergebnissen wäre es jedoch gerade für die Vertreter der (Schul-)Musik selbst in hohem Maße sinnvoll, nicht in den gemischten Chor aller Utilitaristen einzustimmen, sondern in aller Offenheit einzuräumen, dass Musik immer auch frei ist von außermusikalischen Zwecken, sich also vor allem primär auf sich selbst bezieht.
Von hier aus führt nämlich auch der direkte Weg zu dem, was Inhalte und Ziele des schulischen Musikunterrichts sein sollen. Die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass man darüber trefflich streiten kann. Dieser Diskurs ist wichtig, denn seine Ergebnisse und Konsequenzen geben Bildungsplanern wichtige Hinweise, welche Aufgaben und gegebenenfalls welche Legitimation dem Schulfach Musik zukommen kann. Im Jahr 2004 erschien in diesem Kontext die „Bildungsoffensive Musikunterricht“, herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. 2006 wurde darauf mit einer im Titel identischen Gegenpublikation reagiert, lediglich ergänzt um ein Fragezeichen. Im Jahr 2007 sodann kam es zu einem vorläufigen Ende der Kontroverse, als die Konrad-Adenauer-Stiftung ein weiteres Mal mit einem ausdifferenzierten Plädoyer für einen offenen Kanon und eine Kunstwerkorientierung in den Bildungsplänen an die Öffentlichkeit ging. Insbesondere wandte man sich hier gegen einen Musikunterricht, in welchem Fachstandards zugunsten eines nahezu inhaltsleeren Aktionismus aufgegeben worden waren – im Fokus seinerzeit die grassierenden heillosen Unterrichtsversuche eines „Komponierens“ mit Klingeltönen, Taschenlampen oder gar Klobürsten.2 Was ist seither geschehen?
Um die „Offensiven“ ist es still geworden
Zunächst einmal ist es um alle „Offensiven“ eigentümlich still geworden. Dies jedoch ist ein eher oberflächlicher Befund. Wirft man nämlich einen Blick in musikpädagogische Fachzeitschriften, so sind Grenzüberschreitungen in jene Abgründe, welche geeignet sind, die Legitimation des Faches grundsätzlich in Frage stellen zu können, nahezu vollständig verschwunden. Aussagen wie die eines Studiengangleiters Musikpädagogik auf einer Podiumsdiskussion während der Bundesschulmusikwoche 2008 in Stuttgart, wonach musikalisches Fachwissen allein dann noch von Nutzen sei, wenn man bei „Wer wird Millionär“ auf dem Stuhl säße, erscheinen heute kaum mehr denkbar. Und selbst die wissenschaftliche Musikpädagogik hat sich während der letzten Jahre klammheimlich weitgehend von dem verräterischen Terminus der „musikalischen Erfahrung“ verabschiedet, den man für den Musikunterricht an die Stelle der „musikalischen Bildung“ gesetzt hatte. Für „Erfahrungen“ musikalischer Art nämlich, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, braucht es im Grunde keinen Musikunterricht mehr, sondern selbige machen junge Menschen ohnehin rund um die Uhr auf den akustischen Rieselfeldern des Alltags, ohne dass ein „erfahrungsorientierter“ Musikunterricht imstande wäre, hier irgendetwas Wesentliches zu „klären“.
Historisch gewachsene Gemengelagen
Es geht mithin primär um musikalische Bildung, in dessen Gefolge auch musikalische Erfahrungen möglich sind. Die 2016 erschienene „Agenda 2030“ des neu gegründeten Bundesverbandes Musikunterricht (BMU) trägt dem in weiten Teilen Rechnung. Möglicherweise gibt es hier auch deshalb keine Berührungsängste mit dem Begriff „Bildung“, weil er – ganz im Sinne gesellschaftlicher Erwartungshaltungen an den Musikunterricht – vor allem in handlungsorientierten Bereichen durchdekliniert wird.3 Gleichwohl trifft man bei unterrichtspraktischen Beispielen nach wie vor auf offenbar historisch gewachsene Gemengelagen. Der erste Beitrag der neuen BMU-Verbandszeitschrift „Musikunterricht Aktuell“ rekurriert einmal mehr am Beispiel „Beethoven und wir“ auf das Erfahrungsprimat. Zwar wird eingeräumt, Musiktheorie und Formenlehre müssten auch ihren Platz im Musikunterricht haben. Das jedoch sei hier entbehrlich. Hier geht es um Erstbegegnung, um kreative Prozesse. So soll Beethoven „vom Sockel geholt“ werden, wie in Schulbüchern der 1950er-Jahre klopft erneut „das Schicksal an die Pforte“, und das Heiligenstädter Testament wird ebenso dem Szenischen Spiel anheim gegeben wie der langsame Satz aus dem 4. Konzert für Klavier und Orchester, letzterer als inspirativer Impuls, „die vermeintliche Auseinandersetzung guter und böser Mächte in einer gemeinsam entwickelten Bewegungsperformance auf die Bühne zu bringen“.4
Was aber bleibt an musikalischem Verstehen, von einem Musikunterricht, der sich als sinnliches Medium inszeniert und zugleich jegliche Abstraktion suspendiert hat? Die im Text abgedruckten Schülerreaktionen geben auf diese Frage mit entwaffnender Offenheit eine eindeutige Antwort: nämlich so gut wie nichts. Nun wäre es in diesem Zusammenhang unredlich, die Wirklichkeit des Musikunterrichts in manchen Bundesländern außen vor zu lassen – eine Wirklichkeit, die nicht selten von voraussetzungslosem Unterricht ebenso geprägt ist wie von einer Schülerklientel, in deren Sozialisation es zuvor keine Begegnung mit klassischer Musik gegeben hat. Voraussetzungsloser Unterricht, so ist zu vermuten, ist insgesamt in Deutschland wohl weitaus häufiger anzutreffen als ein Musikunterricht, der auf Vorwissen aus vorangegangenen Schuljahren rekurrieren könnte.
Die Frage nach dem Bildungswert
Und dennoch kann musikalische Bildung auch unter schwierigen Bedingungen mehr sein als eine eigentümlich diffuse, fast schon vegetative Erfahrungs-Größe, deren Bildungswert, wenn überhaupt, im Bereich von Sozialkompetenzen anzutreffen ist. Musikalische Bildung aber ist nicht nur in vielen Bereichen messbar, sie hat vor allem zu tun mit Herausforderungen, Niveausteigerung, Anstrengung und Können, Intuition und Wissen. An dieser Stelle sei eine Stimme jenseits der Musikpädagogik zitiert, nämlich aus „Die neue Bildungskatastrophe“ von Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer: Dort heißt es, es sei unangebracht, Musik „für andere Bildungsinhalte instrumentalisieren (zu) wollen, es gehört zur voll entwickelten Persönlichkeit, diese ästhetische Dimension des Lebens zu erfassen und Zugang zu ihr zu finden. Es ist ein dramatischer Verlust an Bildungsqualität, wenn diese Bereiche weiter abgewertet werden“.5
So möchte man denn hoffen, dass der Weg von der weitgehend voraussetzungslosen Projektarbeit im Einzelfall tatsächlich irgendwann dazu führen möge, den ästhetischen Dimensionen dieser Musik nahe zu kommen, auch wenn man solcherart kulturerschließende Beispiele in der musikpädagogischen Literatur immer noch viel zu selten findet und man befürchten muss, musikimmanente Bildungsinhalte seien „kein Selbstzweck“, sondern überhaupt Relikte eines Musikunterrichts, von dem man sich längst verabschiedet hat.
Die vom BMU veröffentlichte „Agenda 2030“ ist in jedem Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Umso mehr muss man bedauern, dass der Fusion der beiden früheren musikpädagogischen Verbände AfS (Arbeitskreis für Schulmusik) und VDS (Verband Deutscher Schulmusiker) zum BMU (Bundesverband Musikunterricht) die beiden Bundesländer Bayern und Niedersachsen fern geblieben sind. Dies umso mehr, als gerade diese beiden Bundesländer sich eine beachtliche Tradition des kunstwerkorientierten Musikunterrichts bewahrt oder (wie im Fall Niedersachsen) teils auch neu ausgebildet haben. Würde man sich dennoch vereinen, könnten beide Seiten davon profitieren – der BMU von der Stärkung eben genannter Bildungstraditionen im Fach Musik, und die Länder Niedersachsen und Bayern von einer nachhaltigen politischen Repräsentanz auf Bundesebene.
Anmerkungen
1 Musikalische Bildung in Deutschland. Ein Thema in 16 Variationen“, verabschiedet von der Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrats am 20. Oktober 2012. Siehe unter www.miz.org/dokumente/2012.
2 Jörg-Dieter Gauger (Hg.), „Bildung der Persönlichkeit“. Freiburg 2004, S. 448–467; Hermann J. Kaiser (et al.), „Bildungsoffensive Musikunterricht?“. Regensburg 2006; Jörg-Dieter Gauger/Hermann Wilske (Hg.), „Bildungsoffensive Musikunterricht“. Freiburg 2006.
3 Bundesverband Musikunterricht (BMU), „Agenda 2030 – Für Musikalische Bildung an Schulen“. Beilage in „Musikunterricht Aktuell“, Heft 4 (2016).
4 Dorothee Barth/Tobias Hömberg. „Beethoven und wir“. In „Musikunterricht Aktuell“, Heft 1 (2015), S. 4–13.
5 Julian Nida-Rümelin/Klaus Zierer, „Die neue Bildungskatastrophe“. Freiburg 2015, S. 96.