Minister appellieren, Hygienebeiräte werden gegründet, Lehrer fürchten um ihre Gesundheit, Eltern pochen auf sicheren Unterricht für ihre Kinder und Schüler versuchen Abstand zu halten. Und immer wieder werden Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrpersonen in Quarantäne geschickt. Der Schuljahresbeginn 2020 in Deutschland ist ein Experiment. Wie sich der Schulbeginn in 16 Bundesländern gestaltet, wollte die neue musikzeitung von Dr. Jürgen Oberschmidt, Professor für Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Präsident des Bundesverbandes Musikunterricht (BMU), wissen. Lesen Sie das Gespräch, das Chefredakteur Andreas Kolb Ende August mit ihm führte.
neue musikzeitung: Die Schule hat begonnen (oder beginnt demnächst): Steht auch regulärer Musikunterricht auf dem Stundenplan?
Jürgen Oberschmidt: Grundsätzlich hat die KMK in ihrer Sitzung am 18. Juni 2020 beschlossen, dass der Unterricht nach Stundentafel regulär und nach Möglichkeit im Präsenzmodus erteilt werden soll. Nachdem wir uns also vor den Sommerferien im Krisenmodus befanden, hier eine Konzentration auf den Unterricht mit Prüfungsrelevanz und in den Kernfächern angeordnet war, wurde jetzt nun ein Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen zur neuen Normalität erklärt, die eben nicht die alte ist. Damit soll aber der Musikunterricht an allen Schulformen grundsätzlich wieder stattfinden. Aus der Risikopolitik im Krisenmodus wurde somit eine Risikopolitik im Dauerbetrieb. Regelunterricht heißt hier also zu allererst, dass dieser Unterricht an bestimmte Regularien gebunden ist.
nmz: Was kann stattfinden, wo liegen die Probleme?
Oberschmidt: Zunächst einmal ist insgesamt ja die Personalsituation an den Schulen äußerst angespannt. Daher wird an vielen Schulen der Musikunterricht zumindest in bestimmten Jahrgangsstufen weiterhin ausfallen, um die Unterrichtsversorgung in Deutsch, Englisch, Mathematik und den Naturwissenschaften sicherzustellen. Oberstes Prinzip ist der Unterricht in festen Kohorten, weil man davon ausgeht, dass Abstandsregelungen ohnehin schwerlich einzufordern sind und man Maskierungen möglichst vermeiden wollte.
Insgesamt bleibt es ein komplexes Thema mit 16 Improvisationen. Das hängt bereits damit zusammen, dass man marode Schulgebäude nicht innerhalb von wenigen Monaten in ein Hygiene-Institut umbauen kann. Klassenräume waren vielfach für den Regelunterricht vor Corona zu klein, Lüftungen nicht vorgesehen, Fenster waren aus Sicherheitsgründen fest verschlossen, weil das Fassadenklettern nicht zu den Kernkompetenzen der Heranwachsenden gehören sollte.
In vielen Ländern gilt, dass die Klasse im Verlauf des Vormittags nicht den Raum wechseln darf. Mit solchen Einschränkungen müssen auch die Naturwissenschaften leben, die genauso wie wir vom praktischen Experimentieren ausgehen, nun ohne Fachraum auskommen und damit ebenso improvisieren müssen.
Es bleiben aber auch 16 Improvisationen, weil jedes Bundesland auch auf seine Nachbarn schaut und sich von den Publikumsreaktionen auf bestimmte Entscheidungen leiten und beeinflussen lässt, weil sich das Infektionsgeschehen überall unterschiedlich darstellt und weil sich die wissenschaftliche Erkenntnislage immer auch im Fluss befindet. Jeder Pianist, der Beethovens op. 111 aufschlägt, begibt sich immer wieder neu auf die Suche nach Wahrheit. Auf eine solche Suche begeben sich auch Virologen und Epidemiologen. Die Suche nach Wahrheit ist immer auch das Prinzip von Wissenschaft. Klare Aussagen, ein richtig und falsch ist hier nicht zu erwarten und es ist ein Merkmal unserer Gesellschaft, dass wir solche Prozesse nicht mehr aushalten können. Ist hier vielleicht auch unsere Schule mit ihren übersichtlich proportionierten Wahrheiten und der damit transportierten Auffassung von Bildung schuld? Wie kann man die gebotene Tiefe erreichen, wenn einzelne Fächer im 45-Minutentakt aufscheinen und gleich wieder verschwinden? (Auch das sollte sich beim Home schooling als ein zentrales Problem erweisen) Hinzu kommt, dass die sich herauskristallisierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dann mit Prozessen des politischen Abwägens gepaart werden müssen. All dies betrifft auch die Maskenpflicht in den Pausen, im Unterricht, auf dem Schulweg.
nmz: Was ist mit AGs, Schulchor und Schulorchester?
Oberschmidt: In den meisten Bundesländern ist die Situation so, dass der Unterricht in festen Lerngruppen stattzufinden hat. Jahrgangsübergreifende Arbeitsgemeinschaften sind also grundsätzlich ausgeschlossen. Wird dies in aller Konsequenz durchgeführt, dann bedeutet dies zugleich, dass es am Ende des nun beginnenden Schuljahres keinen Schulchor, keine Bigband, kein Schulorchester mehr geben wird. Die genauen Formulierungen sind aber in den einzelnen Ländern unterschiedlich offen. Manchmal ist etwa nicht genau klar, ob unter einer festen Lerngruppe die Klassengemeinschaft zu verstehen ist, oder ob ein Streichorchester aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen auch als eine feste Lerngruppe definiert werden kann.
Individuelle Lösungen gefragt
Aber darf dann morgens um 9.30 Uhr der Schulchor gemeinsam proben, wenn zuvor jede Klassenstufe einen eigenen Eingang benutzen musste, um das Schulgebäude zu betreten? Hier wird deutlich, dass es keine Verordnungen geben kann, die mit einem Federstrich sagen, was sein darf oder nicht. Die Situation ist an den einzelnen Schulen äußerst unterschiedlich und hier muss es immer auch individuelle Lösungen geben: Diese sind abhängig von der räumlichen Situation, der Klientel der Schülerinnen und Schüler auch hinsichtlich ihrer digitalen Erreichbarkeit, der unterschiedlichen Schulprofile, der Situation im Kollegium. Die Verordnungen der Ministerien geben dies in den günstigen Fällen auch her.
nmz: Welchen Spielraum haben die einzelnen Schulen bei der Auslegung der Corona-Auflagen?
Oberschmidt: Die Schulleitungen sind in der nicht zu beneidenden Situation, die Auflagen und damit auch die offenen Formulierungen für ihre Schule entsprechend auszulegen. Vieles hängt vom Standing des Faches an der jeweiligen Schule ab, wenn die Schulleitung sich damit auseinandersetzen soll, was die Formulierung „in der Regel“ bedeutet, wenn sie ohnehin zu wenige Räume und zu wenige Lehrer hat. Hier fühlen sich die Lehrerinnen und Lehrer oft alleingelassen. Wir haben vor den Sommerferien unsere Mitglieder nach der Situation an ihrer Schule befragt. Hier stellte sich heraus, dass die Regelungen oft sehr phantasievoll und meist zum Nachteil des Musikunterrichts ausgelegt wurden: Der Keyboardraum blieb wegen der Infektionsgefahr geschlossen, der Computerraum wurde weiter genutzt. Schließlich haben hier die „Instrumente“ einen Virenschutz. Musiklehrerinnen und Musiklehrer führen oft ein Einzelkämpferdasein und fühlen sich dabei alleingelassen. Über den Musikunterricht, der erst gar nicht erteilt wird und über die Schulen, an denen nicht einmal ein Einzelkämpfer für das Fach eintritt, sollten wir hier in diesem Zusammenhang nur schweigen.
nmz: Am 14.7. hat der BMU-LV Baden-Württemberg eine Petition „Rettet die Schulmusik“ gestartet und fordert ein verantwortungsvolles Hygienekonzept verglichen mit anderen Ländern. (Anlass: Das Verbot von Singen und Musizieren bedroht den Musikunterricht und die musikalischen Arbeitsgemeinschaften.) Wo liegen die Probleme im Südwesten?
Oberschmidt: In Baden-Württemberg gibt es wohl die weitreichendsten Einschränkungen, die nicht nur das Singen und Spielen von Blasinstrumenten in geschlossenen Räumen grundsätzlich untersagen, sondern auch jahrgangsübergreifende Chor- und Orchesterproben kategorisch verbieten. Hinzu kommt, dass hier vor den Sommerferien der Musikunterricht an den Grundschulen grundsätzlich verboten war. Das hat insgesamt zu einer Welle des Protestes geführt. Modifizierungen, die neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen, sind uns angedeutet worden. Wir dürfen gespannt sein, wie diese genau aussehen werden. Niemand meint, das Virus wegsingen zu müssen. Aber dem Musikunterricht darf auch nicht die Luft zum Atmen fehlen.
nmz: Was ist mit Angeboten von Musikschulen unter anderem im Ganztagsunterricht? Gelten hier die Auflagen für die allgemeinbildenden Schulen oder die für Musikschulen?
Oberschmidt: Das lässt sich nicht einfach beantworten. Es gibt freiwillige Angebote im Ganztagsbereich, es gibt aber auch Kooperationen, die in den Pflichtunterricht auf unterschiedlichste Weise eingebunden sind. Dann gibt es auch die Situation, dass Räumlichkeiten außerhalb eines institutionalisierten Ganztags von Musikschulen genutzt werden. Die stellen nun fest, dass dies womöglich nicht mehr ermöglicht wird. Auch Musikschullehrkräfte sind Teil der Schulgemeinschaft! Andererseits bleibt festzuhalten, dass eine allgemeinbildende Schule eben keine Angebotsschule ist, die auf Freiwilligkeit beruht. Hier herrscht Schulpflicht für alle. Damit müssen die Schulleitungen der allgemein bildenden Schulen immer auch einer größeren Verantwortung nachkommen. Und ich kenne keine Musikschule, vor der sich jeden Tag über 1.000 Kinder und Jugendliche versammeln, um dort in Großgruppen ihren neunstündigen Ganztag zu verbringen.
Innerhalb der Länder wird hier auch nicht immer stringent gehandelt: In Schulen mit gebundenem Ganztag ist jenes jahrgangsübergreifende Lernen erlaubt, das an der Nachbarschule ohne diesen Ganztag untersagt ist. Auch dies ist wiederum eine augenblickliche Momentaufnahme, die erst recht nicht für alle Länder gilt. Hier sieht man, dass es politische Abwägungsprozesse sind, die hier greifen. Bei all diesen Überlegungen wurde die Musik nicht immer in angemessener Weise berücksichtigt.
nmz: Eine Meldung der dpa vom 14. August 2020: Vertreter von Bund und Ländern haben sich am Donnerstagabend im Kanzleramt auf konkrete Schritte für eine bessere Bildung geeinigt. Schnelles Internet für Schulen, bezahlbarer Internetanschluss für Schüler und Laptops für Lehrer. Profitiert hier auch der Musikunterricht?
Oberschmidt: Der Musikunterricht profitiert wie jedes andere Fach auch von solch einem Ausbau der Infrastruktur. Am meisten profitiert der Musikunterricht jedoch von den engagierten Kolleginnen und Kollegen, die sich trotz der weggebrochenen Routinen den Herausforderungen stellen und individuelle Konzepte für den Fachunterricht und für die Arbeitsgemeinschaften verwirklichen. Natürlich können geübte Sänger auf Abstand singen. Aber wenn sich junge Männer einer 8. Klasse auf die Suche nach ihrer Stimme begeben, dann braucht es eine direkte Nähe zu denen, die sich am Ende dieser Suche bereits gefunden haben. Hier kann es eben auch sinnvoller sein, andere Formen des Musizierens zu entdecken. Ähnliches gilt für Arbeitsgemeinschaften: In erster Linie muss es darum gehen, die mühsam aufgebauten Strukturen zu halten. Einzelne Jahrgänge können „auf Abstand“ im wöchentlichen Wechsel proben, eine Bigband kann sich als „Neue Musik AG“ neu gründen, Saxophone und Posaunen werden dann für eine gewisse Zeit zwar nur noch in häuslicher Quarantäne und im Instrumentalunterricht belebt, aber die Gruppe musiziert weiterhin zusammen und der Kontakt zu den Gleichgesinnten bleibt erhalten. Denn gerade das ist es, was die Arbeitsgemeinschaften als wichtigen Teil einer Schulgemeinschaft ausmacht.
Der Musikunterricht profitiert auch, wenn wir den „Just-in-Time-Modus“ nachhaltig hinterfragen, der während der Pandemie sowohl im schulischen Kompetenzgetriebe als auch in unserem Wirtschaftsleben außer Kraft gesetzt wurde. Input geben. Maschine läuft. Output präsentieren. Wenn die Großraumklasse zum Großraumbüro wird, in dem Lernmaschinen sich von Lernbegleitern unterstützen lassen, um vor sich hin und her zu werkeln, ohne ihren eigenen Fragen nachzugehen, dann funktioniert das im Homeoffice erst recht nicht. Da hilft auch kein schnelles Internet. Wir müssen aufpassen, dass Schule nicht zur MP3-Datei wird, die alles wegschneidet, was man angeblich für das Leben nicht braucht.
nmz: Aber gibt es denn keine Modelle geglückten Online-Unterrichts?
Oberschmidt: Online-Unterricht kann nur glücken, wenn die kreativen Möglichkeiten der für viele neuen Medien aufgenommen werden, wenn er die Schüler*innen auch in die Selbstständigkeit entlässt, wenn sie ihre eigenen Anliegen verfolgen und individuellen Potenziale ausschöpfen können, wenn Gruppenarbeitsräume genutzt werden. Aber dazu muss dieser Unterricht auf den geeigneten Plattformen erst einmal stattfinden. Das verschicken und einsammeln von Aufgabenblättern hat nichts mit Online-Unterricht zu tun. Große Probleme gibt es eigentlich nur im praktischen Musikmachen. Aber hier gibt es genügend Möglichkeiten des experimentellen Musizierens und das kann weitaus mehr beinhalten als das Bedienen der gängigen Anwendungssoftware für die Musikproduktion. All dies setzt natürlich nicht nur die Kreativität der Schülerinnen und Schüler, sondern auch die ihrer Lehrer voraus!
Der Wandel kam unbemerkt
nmz: Kann man vor dem Hintergrund des hohen Tempos des schulischen Wandels schon ein Fazit ziehen?
Oberschmidt: Der Wandel kam nicht im hohen Tempo, er kam eher schleichend, fast unbemerkt durch die Hintertür, weil er Teil einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist. Wir müssen uns insgesamt viel mehr auf das besinnen, was unser Leben lebenswert macht. Das gilt letztlich auch für die Schule und für den Musikunterricht: Wir müssen Musik und Musikunterricht neu denken: Was möchten wir mit unserem Fach bei den jungen Menschen erreichen? Wie können wir – auch wenn wir nicht immer auf ein erhofftes Vorwissen zurückgreifen können – das Elementare der Musik erleben und hinterfragen? Musik lässt alle Menschen Staunen vor dem Unsagbaren, vor ihren Rätseln, vor den großen Geheimnissen ihrer Schönheit. Wie ergründen wir all das, was Musik im Innersten zusammenhält? All dies ist auch in Zeiten der Corona-Pandemie möglich: In solch einer Krisensituation ist Musik mit Abstand am besten!
Ständig aktualisierte Informationen zu den Verordnungen in den einzelnen Ländern sind auf der Homepage des BMU zusammengestellt. www.bmu-musik.de/