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Foto: Philipp Ahner
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Musikunterricht mit Second-Hand-Lehrern?

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Über die schulischen Betriebskarambolagen mit Quer- und Seiteneinsteigern · Von Jürgen Oberschmidt
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Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in seiner Essaysammlung „Du mußt dein Leben ändern“ bemängelt, dass sich Schule in einem „Selfish-System“ bewegt und sich in diesem durch das ständige Schmoren im eigenen Saft und ohne nötige Impulse von außen immer wieder selbst erneuert. Einen doch recht zweifelhaften Eingriff in dieses geschlossene System erleben wir derzeit durch Quer- und Seiteneinsteiger, in anderen Lebensbereichen wird dieses Modell mit wechselndem Erfolg praktiziert: In der Unterhaltungsbranche machte uns ein Teamchef ohne Trainerlizenz bereits 1990 zum Fußballweltmeister, ein Schauspieler und Theaterwissenschaftler führte als 40. Präsident die Vereinigten Staaten, der Inhaber eines Mischkonzerns und erfolgreiche Immobilienmakler ist der nicht unumstrittene Nachmieter in Washingtons Pennsylvania Avenue.

Wer ohne eine formale Trainer­ausbildung eine Fußballmannschaft zum Erfolg führt, hat sich im Rahmen einer Bestenauslese gegen ausgebildete und lizenzierte Trainer durchgesetzt. Wer als Quer- oder Seiteneinsteiger den Weg in die Schule wählt, kann dies konkurrenzlos tun, weil lizenzierte Fachkräfte hier erst gar nicht im nötigen Umfang ausgebildet wurden und somit auch nicht zur Verfügung stünden. Oft haben sich die Bewerber einmal ganz bewusst gegen ein entsprechendes Lehramtsstudium entschieden, leider trägt oft auch der selbsterlebte Musikunterricht dazu bei. Manche fühlten sich einst von ihrem instrumentalen Hauptfachlehrer bestärkt, sich ganz dem Willen der Musen zu unterwerfen, um den Weg eines „richtigen“ Musikers zu gehen. Nach dem Studium stellten sie dann fest, dass nur wenig Planstellen für Konzertpianisten bereitstehen oder die Nachfrage für Doppelrohrblattschulungen im ländlichen Raum sich doch als recht begrenzt erweist. Es ist dann weniger eine innere Berufung als der Blick in den leeren Kühlschrank, der den Lehrerberuf mit seinen vitaminreichen Beigaben in neuem Licht erscheinen lässt.

Einer Statistik der Kultusministerkonferenz zufolge nimmt der Anteil an Quer- und Seiteneinsteigern beständig zu, im Bundesdurchschnitt liegt sie – bezogen auf alle Unterrichtsfächer – bei 5,9 Prozent. Überdurchschnittlich hoch sind hier die Quoten in Nord­rhein-Westfalen, in Berlin und in Rheinland-Pfalz. In unserer Bundeshauptstadt wird etwa jede dritte Lehrerstelle durch solch einen Alternativlehrer besetzt, lehramtsbezogen ausgebildete Musiklehrer sind hier kaum noch zu finden. Hier lösen sich Zeichen der Resignation spätestens dann auf, wenn die Quer- und Seiteneinsteiger bald ganz unter sich sind und eine solch entmutigende Gemengelage nicht mehr sichtbar ist.

Blicken wir nun auf unsere föderalistisch organisierte Schullandschaft mit ihren wohl 50 verschiedenen Schulformen in den 16 Bundesländern, so lässt sich feststellen, dass die Situation im gymnasialen Bereich hier insgesamt noch wenig besorgniserregend erscheint. Doch bricht aufgrund von Stundenkürzungen im Mittelstufenbereich und erschwerter Wahlmöglichkeiten der Oberstufenunterricht bereits vielerorts weg. Wie sollen sich junge Menschen hier in Zukunft noch für den Musiklehrerberuf entscheiden, wenn hier ein Schulfach marginalisiert wird und sie ihren eigenen Musiklehrer nur noch als Zeremonienmeister auf Schulfeiern erleben dürfen? Die Bewerberlage an den Hochschulen wird jetzt bereits dünner, das Buhlen um Studierende führt verstärkt zu attraktiv scheinenden Studiengängen mit Musik als Doppelfach. Ausgebildet werden hier Lehrer, die kein zweites Unterrichtsfach in ihrem Portfolio führen und dadurch nicht gerade leicht vermittelbar sind. Im Gymnasium werden längst auch jene Fächer zum Mangelfach, die zum heiligen Triumvirat der Kernfächer und ökonomisch verwertbaren MINT-Bereich zählen. Musiklehrer stehen durchaus bereit, aber warum sollte ein Schulleiter für die ihm fehlenden sechs Stunden im Wohlfühlbereich für empfindsame Seelen eine Planstelle ausschreiben, wenn ihm mittlerweile auch Englisch- und Mathematiklehrer fehlen? Schließlich gibt es ja den sendungsbewussten Kollegen, der in Klasse sieben gerne sein Hobby zum Beruf macht.

Im Sekundarbereich herrscht vornehmlich in jenen Bundesländern Mangel, die ihre universitäre Ausbildung durchlässig halten und es die meisten Studierenden in das vermeintlich attraktivere gymnasiale Lehramt zieht.

Fatal ist die Situation in den Grundschulen. Dass hier 80 Prozent des Musikunterrichts fachfremd oder gar nicht erteilt werden, ist eine längst beobachtete Tatsache. Hier sollte aber auch bedacht werden, dass in den Grundschulen gar nicht nach dem Fachlehrerprinzip unterrichtet wird. Ein ausgebildeter Musiklehrer führt hier seine eigene Klasse und bringt ihr in erster Linie Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Er dient seinem Kollegium als wertvolles Kompetenzzentrum, initiiert Kooperationsprojekte, gestaltet das Schulleben. Es liegt hier gar nicht in seinem Interesse, durch alle Klassen zu wandern, um eine ganze Schule mit ästhetischen Erfahrungsprozessen zu beschenken. Manche Länder setzen hier auf eine musikalische Basisausbildung für alle Lehramtsstudenten. Aber befähigt ein verordneter Glockenspielführerschein wirklich dazu, Kinder in dieser so wichtigen Lebensphase an Musik heranzuführen?

An vielen Grundschulen ist gar kein ausgebildeter Musiklehrer vorhanden. Die aus fünf Glockenspielen bestehende Infrastruktur modert im Putzmittelraum. Nur die sporadisch eingesetzte Triangel erinnert an bessere Zeiten: Er markiert ein Stille-Ritual, bevor der Ghettoblaster sein Regenlied abspielt, um dann anschließend die Wolkenbildung zu thematisieren. Keine Schulleitung würde bei solch einem Szenario von Unterrichtsausfall sprechen, sondern begeisternd auf das freiwillige Nachmittagsangebot der ortsansässigen Kirchenmusikerin hinweisen. In Baden-Württemberg hat man auf diese Situation reagiert: An drei Wochenenden können sich berufen fühlende Lehrkräfte nachqualifizieren und eine Lehrbefähigung für das Fach Musik erwerben. In die Statistik gehen diese dann als voll ausgebildete Musiklehrer ein. Für wohl alle Bundesländer gilt, dass dringend erforderliche Studienbewerber in das gymnasiale Lehramt gespült werden, weil ihnen aufgrund ihres Numerus clausus ein Studienplatz im Grundschulbereich versagt bliebe und auch die höhere Besoldungsstufe recht appetitlich lockt. Wegen des großen Mangels werden nun Gymnasiallehrer an Grundschulen eingestellt. Vielleicht gehen hier Berufswünsche dann doch noch in Erfüllung.

Der Eintritt in den Schuldienst ohne ein lehramtsbezogenes Studium ist klar geregelt: Zu unterscheiden ist hier zwischen Quer- und Seiteneinstieg: Quereinsteiger haben kein Lehramtsstudium, aber eine an das Referendariat angelehnte Ausbildung erfolgreich durchlaufen und treten dann als beamtete Lehrer regulär in den Schuldienst ein. In NRW ist neben einem Studien­abschluss eine mindestens zweijährige Berufstätigkeit im beliebigen Feld oder die zweijährige Betreuung eines minderjährigen Kindes nachzuweisen. Quereinsteiger sind Übermenschen, die schnell über menschliche Fähigkeiten eines üblichen Lehrers hinauswachsen: Sie steigen direkt mit einem 18-Stunden-Deputat in den Unterricht ein und erwerben ihr Staatsexamen en passant, während sie bereits alle Pflichten eines Lehrers tragen und dabei keine Schwächen zeigen. Handreichungen der Studienseminare geben Empfehlungen für einen musikpädagogischen Schnelldurchlauf, der auf den modernen Grundlagen neurologischer Erkenntnisse beruht (Wilfried Gruhn: „Der Musikverstand“), sie empfehlen für die fachwissenschaftliche Nachhilfe Eggebrechts „Musik im Abendland“ und einen triangulierenden Blick in die Lehrpläne. Mit dieser Literatur im Gepäck und ohne den Ballast eines Lehramtsstudiums reichen dann sechs beratende Unterrichtsbesuche bis zur Ordination im Rahmen des Staatsexamens.

Die Mehrzahl der Bundesländer lässt Seiteneinsteiger ohne Referendariat für alle Schulformen zu. Hier erfolgt die Einstellung befristet, sie passt sich damit flexibel auf den Bedarf an und erfolgt ohne Erwerb einer Lehrbefähigung. Bewundernswert ist, wie es hier in Handreichungen und rechtlichen Verordnungen insgesamt gelingt, aus jeder Not eine Tugend zu machen. Betont wird das innovative Potential, das man sich aus solch belebenden Elementen verspricht. Sloterdijk hätte sich die Umsetzung seines kritischen Einwurfs wohl anders gewünscht.

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