Sieben Reisen hat er gemacht, und an jeder hängt eine wundersame Geschichte, die den Verstand verwirren kann: Die Erzählungen Sindbads des Seefahrers zählen zu den berühmtesten aus Scheherazades Tausendundein Nächten. Im Auftrag des SWR haben der Komponist und zweimalige Preisträger des Stuttgarter Kompositionspreises, Gordon Kampe, und seine Librettistin Gabriele Adams aus diesem legendären Stoff ein musikalisches Hörspiel gemacht. Die Hauptakteure: 26 Sänger des SWR-Vokalensembles als Geräusche- und Neue-Musik-Macher, zirka 500 Grundschüler als Produzenten gigantischer Vokalcluster und anderer „Maulwerkereien“ sowie KiKa-TV-Moderator Malte Arkona, der im Dialog mit dem Sprecher Hubertus Gertzen seine Lust an der Live-Aktion auf der Bühne unter Beweis stellte.
In der Reihe SWR Young Classix bieten die SWR Orchester & Ensembles in Zusammenarbeit mit dem baden-württembergischen Ministerium für Kultur, Jugend und Sport Angebote für Vorschulkinder, Grundschulen und weiterführende Schulen an, die sehr gern angenommen werden. Auch Kampes „Sindbad der Seefahrer“ war komplett ausverkauft. Dennoch konnte von Routine keine Rede sein, ja es war ein gewisses Lampenfieber bei Künstlern und Veranstaltern zu spüren, denn es war das erste Mal, dass der SWR Chor einen derartigen Kompositionsauftrag vergeben hatte: Ein Hörspiel für Chor und zwei Sprecher für die Zielgruppe Grundschüler. Nachdem die Uraufführung unter dem tosenden Applaus und Zugabe-Rufen der jungen Zuhörer zu Ende gegangen war, kann man nun auf die reine Hörspielfassung gespannt sein, die am 7. Juli dieses Jahres auf SWR 2 ausgestrahlt wird.
Neue Musik ganz selbstverständlich hören war das Ziel der Unternehmung, das mit Kampes musikalisch illustrierter Erzählung auch eingelöst wurde. Beim Hören allein konnte es bei einem Publikum wie diesem natürlich nicht bleiben. Mitmachteile waren im Vorfeld der Premiere von Coaches aus dem Chor intensiv mit den Klassen geprobt worden, so dass sich die Kinder von Anfang an auch als Akteure und nicht nur als „passive“ Zuhörer verstanden.
Die Coaches hatten ganze Arbeit geleistet und die Grundschüler aus Stuttgart – gefühlt 50 Prozent Migrationshintergrund ließen auch die Vermutung zu, dass bei der Wahl des Sujets „Faszination Orient“ und „Heimat Orient“ gar nicht so weit auseinander liegen – waren präsent im Amphitheaterrund der Musikhochschule. Welche Rolle Architektur fürs Konzerterlebnis spielen kann, machte der Saal im Turm der Hochschule deutlich, in dem die Zuhörer steil gestaffelt um die Bühne herum sitzen und allein schon durch diese Situation eine Sogwirkung entsteht, die einem verdunkelten Kinotheater um nichts nachsteht. Alle sind fokussiert auf die Bühne, die üblichen Unternehmungen, die man als Teil eines Klassenkollektivs etwa beim Museumsbesuch oder etwa auch ganz banal im Klassenzimmer unternehmen könnte, unterblieben.
Etwa eine Stunde dauerte das Stück, geplant waren etwa 50 Minuten und in dieser Stunde geschah im konzertanten Hörstück derart viel und Aufregendes, dass an Langeweile nicht zu denken war. Spaß hatten aber nicht nur die Kinder, auch die Chorsänger waren mit sichtlichem Vergnügen bei der Vermittlungsache – egal ob es um Atmosphärisches aus dem Morgenland ging, um Naturbeschreibungen, um den legendären Vogel Roch oder einen Fisch groß wie eine Insel im Ozean.
Komponist Kampe machte Musik für Kinder und Kenner, indem er nicht nur virtuos mit den Möglichkeiten neuer Vokalmusik spielte, sondern auch mit einigen adaptierten Zitaten aus der Musikgeschichte wie etwa „Komm! Senta! Wend‘ Dich doch um“ aus Wagners Fliegendem Holländer, das zu „Komm Sindbad“ (gerufen von den Kindern) wurde – oder mit Erinnerungen an Debussys „La mer“. Kampes Kinderhörspiel brachte Gesangstechniken Neuer Musik wie selbstverständlich ins Spiel – organisch aus der Handlung entwickelt und subkutan wirksam wie gute Filmmusik.
Offen bleibt nach diesem vergnüglichen Vormittag, ob Kampe nach seinem neuerlichen Erfolg im Kinderkonzert-Genre nun noch stärker auf Vermittlung abonniert werden wird? Die Premiere für sein Musiktheater ab sechs Jahren „Kannst du pfeifen, Johanna?“ an der Staatsoper Hannover ist jedenfalls schon auf den Mai 2014 festgesetzt. Die Frage wird er sicher mit weiterer aufregender Musik beantworten. Und falls er mal wieder die Zielgruppe Kinder und Jugendliche anvisiert, dann vielleicht auch mit einem Stoff, der keine Verbrämung einer frühkapitalistischen Kaufmannsethik darstellt, sondern mehr mit der Lebenswirklichkeit des jungen Publikums zu tun hat. Oder sind Sindbads Abenteuer zwischen Luxusleben auf der einen und Armut auf der anderen Seite der kindlichen Realität möglicherweise viel näher, als wir glauben?