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„Nothing Is Real“ von Alvin Lucier. Foto: Christoph Rau

„Nothing Is Real“ von Alvin Lucier. Foto: Christoph Rau

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Unser aller Intelligenz wird ausgebeutet

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Die 77. Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt
Vorspann / Teaser

Geschickt gewählt ist das Motto der diesjährigen Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt. Die mehrdeutige Wortkombination „künstlerisch intelligent“ erlaubt nämlich verschiedene Assoziationen und Denkrichtungen. Schon im 2. Satz des Programmhefts kommt Darmstadts Oberbürgermeister Hanno Benz auf „künstliche Intelligenz“ zu sprechen. Ein naheliegender Schluss, aber vielleicht doch ein Trug- oder gar Kurzschluss? Welchen Unterschied sehen wir zwischen „künstlich“ und „künstlerisch“? Was ist überhaupt Intelligenz? Und wer steuert hier wen, und wohin?

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Wenn man die Lebendigkeit der Vorträge, die Bandbreite der Themen und die Intensität der Diskussionen zum Maßstab nimmt, trifft diese 77. Tagung ihrer Art in der Akademie für Tonkunst ins Schwarze. Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, dürfte sich in einem Jahr der Blick in den Tagungsband lohnen. Wer wichtige Gedankengänge schon jetzt nachverfolgen will, kann dies erfreulicher Weise in einem 86-seitigen Büchlein tun, das Anfang dieses Jahres unabhängig von der Tagung im Heidelberger Carl-Auer-Verlag erschienen ist. Die Berliner Kunsthistorikerin und Philosophin Dorothea Winter hat dort einen Essay unter dem Titel „KI, Kunst und Kitsch – ein philosophischer Aufreger“ herausgebracht. Er beginnt mit der knalligen Formulierung: „Entgegen der Wortbedeutung ist KI vor allem eines: dumm.“ So unhöflich formuliert das in Darmstadt niemand, aber in der Sache gibt es keinen Dissens. Der KI fehlt die Intentionalität; sie weiß nur, was ihr vorher eingegeben wurde; sie „liefert ihre Ergebnisse aufgrund der Daten, mit denen sie trainiert worden ist“, sie ist im Grunde „kaum mehr als ein überdimensionaler Taschenrechner“.

Was entfährt Kristian Kersting, dem Leiter des Labors für KI und Maschinelles Lernen an der TU Darmstadt, in der Diskussion? „Die Kisten erleben ja gar nichts!“ Und Wolfgang Rüdiger, Professor für Musikpädagogik aus Düsseldorf, sagt: „Wir können die KI etwas fragen, aber sie fragt uns nichts.“ Gerade dadurch könnte sie aber, wie die Diskussion ergibt, eine ausgezeichnete Projektionsfläche darstellen – ähnlich wie schon in E.T.A. Hoffmanns bekannter Erzählung „Der Sandmann“ aus dem Jahr 1816 die künstliche Puppe Olimpia für ihren unglückseligen Liebhaber Nathanael. (Olimpia antwortet ihm immerzu mit „Ach“, und er glaubt, er habe sich noch nie so gut unterhalten.) „Künstlerisch“ aber ist mehr als „künstlich“: Zum puren Handwerk oder der technischen Anwendung, sagt Dorothea Winter, kommt eine gedankliche Dimension hinzu, die der Freiheit bedarf, um sich auch über vorgegebene Regeln hinwegzusetzen: „Ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk, weil es Ausdruck meines schöpferischen Wollens ist.“ Hingegen gilt: „KI ist unfrei und kann deshalb keine Kunst.“ Wolfgang Rüdiger verweist auf die Rezeption: „Kunst ist ein Medium der Verwandlung, die mit dem beginnt, was uns leiblich und seelisch widerfährt.“ Erzeugnisse, die bloß gefallen wollen, die Stereotypen und Klischees verbreiten, sind laut Winter nicht Kunst, sondern Kitsch.

Künstliche Intelligenz kann allerdings durchaus als Werkzeug genutzt werden, höchst effizient, aber im Grunde vergleichbar dem Faustkeil, dem Pinsel oder der Geige. Wirkliche Kunst werde es allerdings immer schwerer haben, sich gegen den KI-generierten Kitsch zu behaupten, warnt Winter. Einige wenige Monopolisten beherrschen den Markt, unabhängige Akteure werden an den Rand gedrückt. KI stellt auch Fälschungen her und verbreitet Fake News. „Noch nie war es möglich, so schnell so viel zu lügen und diese Lügen so breit zu streuen.“ Zusätzlich erstellt die KI künstliche Gesprächspartner, die diese Lügen in den Filterblasen und Echokammern des Internets bestätigen. Inzwischen sei zwar das Bewusstsein für die politische Gefährlichkeit der KI gestiegen, nicht jedoch für die ästhetische, die in einer immer stärkeren Anpassung an den Publikumsgeschmack bestehe. „Wenn wir die KI immer wieder ‚alleine‘ Kitsch produzieren lassen, dann verändert dieser Kitsch schließlich unseren Geschmack.“

Anna Schürmer, Juniorprofessorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater in Köln, stellt fest: „Unser aller Intelligenz wird abgeschöpft, ausgebeutet und kommerzialisiert.“ Der doppeldeutige Titel ihres Beitrags „Ab- und Zu-Hören“ verweist nicht nur auf die zunehmende Beliebigkeit akustischer Wahrnehmung in der Smartphone-Gesellschaft, sondern auch auf die Herkunft digitaler Techniken aus dem militärischen Bereich und ihre Funktion im Dienste eines allumfassenden Überwachungskapitalismus. Kristian Kersting warnt als Informatiker und Entwickler: „Derzeit entscheiden chinesische und amerikanische Firmen, was die Welt ausmacht. Ich möchte zumindest mitreden dürfen.“ Man brauche in Deutschland dringend mehr öffentliche Investitionen in nicht-kommerzielle KI. Michael Harenberg, Musik- und Medienwissenschaftler in Bern, warnt davor, auf die Werbekampagnen hereinzufallen. „Künstliche Intelligenz“ sei eine fragwürdige Metapher. Die Maschine lerne nicht, sondern sie werde trainiert. Man hätte hier noch auf die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse der sogenannten Klickarbeiter verweisen können, die in Billiglohnländern diese Aufgabe übernehmen. Denken, so Harenberg, werde fälschlich immer wieder mit Rechnen gleichgesetzt und dabei übersehen, dass der Mensch die Entscheidungen trifft und treffen muss.

Findet man eine derartige Verkürzung nicht auch in der Bildungspolitik, die zunehmend kreatives Denken fordert, dabei aber vor allem auf Mathematik, Naturwissenschaft und Informatik setzt und die künstlerischen Fächer herabstuft und vernachlässigt?­ Spannend ist der Blick über die menschliche Spezies hinaus, den die Freiburger Meeresbiologin Kristin Kaschner vermittelt: „Intelligenz“ könne man anhand der Geschwindigkeit und des Erfolgs messen, mit denen Tiere, den Menschen eingeschlossen, die Probleme des Überlebens in ihrer natürlichen und sozialen Umgebung meistern. Über diese Fähigkeiten verfügen Wale und Oktopusse in hohem Maße, Maschinen allerdings nicht. Investitionen in KI im Schulbereich wären also auch daran zu messen, inwieweit sie die natürliche Intelligenz von Schülerinnen und Schülern fördern. Interessante Anregungen für den Musikunterricht kommen aus zwei weiteren Vorträgen. Marc Godau, Professor für empirische Musikpädagogik in Paderborn, kritisiert die herkömmliche Fixierung auf Tasteninstrumente als „Claviozentrismus“ und plädiert dafür, sich stärker auf andere Instrumente und Technologien einzulassen. Daniel Müllensiefen, Professor in London mit Schwerpunkt Musikpsychologie, informiert über eine laufende Studie zu den vielfältigen Ausprägungen von Musikalität. Letztere beschränkt sich eben nicht auf die landläufige Vorstellung, einen Ton treffen und einen Rhythmus halten zu können.

Das Konzertprogramm stellt das Zusammenwirken von Mensch und Technik in den Vordergrund. Ein besonderer Zauber geht von einem Klassiker dieses Genres aus: In „Nothing Is Real (Strawberry Fields Forever)“ von Alvin Lucier (1931–2021) wird das Klavier mit einer elektronisch verstärkten Teekanne kombiniert. Die Pianistin Yaxin Fang interpretiert nicht nur Melodiephrasen aus dem bekannten Beatles-Song, sondern dosiert auch deren Echo aus der Kanne, das durch die Lautsprecheraufnahme und -wiedergabe der Klavierklänge entsteht. „Boids“ nennt sich ein langes interaktives Stück von Orm Finnendahl (Jg. 1956), das auf der gleichnamigen Programmsoftware beruht und eine eher abstrakte Folge von Videoprojektionen mit Klang- und Geräuscheffekten verbindet. Als die Vorführung an einer Stelle wegen eines technischen Problems unterbrochen werden muss, kommt es zu einem witzigen Moment: In angeregter Spiellaune imitiert ein Teil des Publikums die Klang- und Geräuschspur mit der Stimme. Wie schreibt Dorothea Winter in ihrem Essay? „Mit zunehmender Digitalisierung wächst der Drang nach Analogem, Handfesten, Realen – nach dem Gegenstand.“ In diesem Fall ist der Gegenstand so etwas Zentrales wie die eigene Stimme.

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