„Raue Zeiten“ lautet das Motto der 76. Frühjahrstagung des Instituts für neue Musik und Musikerziehung in der Akademie für Tonkunst Darmstadt. Leserinnen und Leser werden dazu ähnliche Assoziationen haben wie Darmstadts scheidender OB Jochen Partsch. Der schreibt in seinem Grußwort zur Tagung vom ständigen Krisenmodus, in dem sich die Stadtgemeinschaft befinde: „Bei allen Herausforderungen dieser Tage bleibt uns kaum die Zeit zum Durchschnaufen, Innehalten und zur Reflektion.“ Robin Hoffmann, Vorstandsvorsitzender des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM), zitiert ein wenig kokett den Passus mit den „rauen Zeiten“ aus der Weihnachtansprache des Bundespräsidenten, betont aber, man sei ursprünglich von klingender Musik ausgegangen, und es gehe um „Rauheit im Sozialen wie im Ästhetischen“. Damit spannt er einen Bogen zwischen zwei Polen, die man vor 40 Jahren vielleicht „engagierte Musik“ und „l’art pour l’art“ genannt hätte.
Nicht „im eigenen Saft schmoren“ wollte man und intensiviert den Seitenblick auf die Nachbarfächer Kunstgeschichte, Architektur, Medienwissenschaften und Philosophie. Jeweils ein Komponistinnenporträt ist Milica Djordjević und Iris ter Schiphorst gewidmet. Wer, wie der Berichterstatter, aufgrund von Terminzwängen erst nach der Hälfte des Programms dazustößt, kommt aber doch ein wenig ins Staunen darüber, wie stark der phänomenologische und philosophische Aspekt von „Rauheit“ in den Vordergrund rückt und wie stark um die Terminologie gerungen wird – teils anschaulich und unterhaltsam, teils mit wissenschaftlicher Gründlichkeit.
Taugt die Dichotomie von „rau“ und „glatt“, oder erweist sich nicht spätestens unter dem Elektronenmikroskop auch eine vorgeblich glatte Oberfläche als „aufgeraut“? Ist denn „rau“ wirklich der passende Gegenbegriff zu „glatt“, oder passt „disparat“, „unvermischt“, „gebrochen“ oder „widerständig“ besser? Geht es vielleicht vor allem um „Reibung“ und „Das-sich-reiben-können“? Nachfragen, Ergänzungen, Querverweise und Stellungnahmen aus dem Auditorium zeigen: Der Besucher ist in einen laufenden Prozess gelingenden Austauschs „hineingeschneit“. „Wir haben einen Konsens, dass wir nicht glatt sein müssen“, sagt Katrin Szamatulski vom gastierenden „Broken Frames Syndicate“ beim Abschluss-Podium und berichtet, ihr Ensemble habe sich für ein Videoporträt als Symbol einen Pflasterstein gewählt. Der sei hässlich, habe aber interessante Strukturen und stehe für revolutionäre Traditionen. Dieser deutliche Rekurs auf die „rauen Zeiten“ bleibt eher die Ausnahme.
Äußerst verschiedene Aspekte von Rauigkeit bietet das Konzertprogramm am Freitagabend. Dabei setzen sich die Trends zum Geräuschhaften und zum Digitalen fort. César Larenas reibt in „splitting 19.1“ von Michael Maierhof in zyklischen Bewegungen mit Glaskugeln über ein Konstrukt aus Gittern und überrascht durch die entstehenden Rhythmusfolgen. Der Komponist ordnet das Stück in seine „Studien über Motoren“, auch wenn er mit rein mechanischen Mitteln arbeitet. Zehn Studierende der Akademie für Tonkunst präsentieren in einer Tischreihe sitzend James Saunders’ Stück „imperfections on the surface are occasionally apparent“, bei dem Kaffeetassen auf verschiedene Weise über verschiedene Oberflächen gezogen werden. Dass beim Hören wenig Spannung aufkommt, liegt auch daran, dass man die Bewegungen und Materialien auf dem Podium vom Saal aus nur schlecht oder gar nicht erkennt. Unter einem ähnlichen Handicap leidet die einfallsreiche und spannungsvoll präsentierte Vorführung des Kompositionskurses für Kinder und Jugendliche: Viele der auf dem Bühnenboden benutzten Klang- und Geräuschobjekte sind von hinten kaum zu identifizieren. Je ungewöhnlicher das Instrumentarium, desto mehr möchte das Auge „mithören“. In Farhard Ilhagi Hosseinis aktuellem Stück „Blei“ für Schlagzeugquartett und Live-Elektronik bearbeitet das Ensemble Rot gut sichtbar vier längliche Platten des schweren, aber leicht formbaren Metalls, während der aus dem Iran stammende Komponist die Klangregie übernimmt. Dabei stellt das Reiben eines Streicherbogens über den Plattenrand die wohl auffälligste Aktion dar. Der Musik hat Hosseini ein Gedicht beigefügt, das Materialeigenschaften des Metalls benennt. Mit dem unerwarteten Satz „Blei kann durch die Haut, Herz, Brust und Rücken der Demonstranten aufgenommen werden“ und der Schlusswendung „Blei ist rot“ weitet sich die handwerkliche Perspektive unversehens ins Politische. uSeine Fortsetzung findet das Programm im Keller des Darmstädter Jazz-Instituts. Dort soll das Jazz-Duo „Matsch und Schnee“ laut Programmheft „die Zustände zwischen Sublimation und Kondensation der Avantgarde“ ergründen. Tatsächlich spielen Maike Hilbig (Kontrabass) und Silke Eberhard (Altsax) kraftvollen Jazz im Duo und harmonieren dabei trotz rauer Tongebung des Saxophons und stark unterschiedlicher Melodielinien prächtig. Nach längerer Wartepause schließt dann der Abend mit einer 20-minütigen Soloperformance des jungen brasilianischen Komponisten Ricardo Eizirik. Er lädt das Publikum im Kellerraum ein, aufzustehen und sich zu bewegen und führt es mit einem zunehmend ohrenbetäubenden Soundtrack in die Klangwelt und Atmosphäre eines Techno-Clubs.
In der Abschlussdiskussion vertritt der junge, aus Brasilien stammende Komponist klare Positionen: Er will die Leute „von den Stühlen holen“ und wirbt dafür, europäische Konzerttraditionen hinter sich zu lassen, sich der Körperlichkeit von Musik zu überlassen und die Trance nicht zu scheuen. Die Herstellung von absoluter Musik müsse man „kaputtschlagen“. Im Gegenzug könnte man allerdings auch fragen, ob die Position eines DJs, der Menschen per Wischbewegung und Klick am Rechner in die Ekstase treibt, nicht auch etwas hochgradig Manipulatives hat, ob das konzentrierte Zuhören im Konzert nicht auch einen Akt der Befreiung von Beschleunigungszwängen und medial gepushten Aufgeregtheiten darstellt, und ob „raue Zeiten“ womöglich sogar mehr Kontemplation erfordern als ruhige. Auch wenn in Diskussionen immer wieder die Furcht vor der engen Filterblase der Neuen Musik „mit großem N“ anklingt und die ideelle Dominanz des klassischen Komponierens in Frage gestellt wird, gibt es durchaus Gegenbeispiele. Rainer Nonnenmann etwa stellt das „Scorching Scherzo“ von Bernhard Gander vor, der gängige Kunstformate mit Heavy-Metal-Einflüssen verbindet. Martin Schüttler entwickelt das Konzept der Heterophonie, das „die Sehnsucht nach musikalischer Intaktheit“ aufgibt und das Nebeneinander unterschiedlicher Klangwelten teils toleriert, teils thematisiert. In einem spannenden Vortrag zeigt er unter anderem, wie Akkorde von Ravel und Strawinsky als Samples in die Pop-Musik eingewandert sind, und wie er sie in eigenen „post-digitalen“, das heißt die Digitalität reflektierenden Kompositionen wieder zurückübersetzt. Inspiriert hat ihn dabei das „archipelische Denken“ des franko-karibischen Philosophen Édouard Glissant, das den alteingesessenen Kulturen mit ihren Ordnungsvorstellungen die chaotisch-kreativen kreolischen Mischkulturen gegenüberstellt. Man müsse die verschiedenen Kulturen ansehen, „als ob sie gleichzeitig eine Einheit und eine befreiende Vielfalt ins Werk setzen“. Dabei brauche es keinen vereinheitlichenden Zugriff. „Denn du hast das Recht, unverständlich zu sein, zu allererst für dich selbst.“
Darüber wäre dringend zu diskutieren, nicht zuletzt aus der Sicht von Pädagogik und Musikpädagogik. Leider kommt letztere diesmal kaum vor; ein einsamer Hilferuf aus der von Unterrichtsausfall geplagten brandenburgischen Provinz verhallt ungehört in der angeregten und anregenden Abschlussdiskussion.