Ein wenig zeigte sich sein Verleger Peter Hanser-Strecker vom Mainzer Schott-Verlag immer noch konsterniert: György Ligeti beschloss sein Spätwerk nicht mit repräsentativen Großwerken wie Opern, Sinfonien oder Solokonzerten, sondern bosselte jahrelang an Klavieretüden herum, die gemeinhin eher als Stoff für Spezialisten gelten. Dass es ihm dabei nicht nur um neue Herausforderungen für zeitgenössische Pianisten, sondern auch um neue kompositorische Wege ging, wissen die Kenner. Mit ihrem Symposium „György Ligetis Klavierwerk“ setzte die Mainzer Hochschule für Musik nicht nur zu einer beachtlichen musikwissenschaftlichen Tiefenbohrung an, sondern verschaffte dem anwesenden Konzertpublikum auch ein seltenes Hörerlebnis.
Um einen Meisterkurs Klavier bei Prof. Thomas Hell (Klavierkammermusik) zu den Klavier-Etüden gruppierten sich ein Bündel öffentlicher Veranstaltungen. Ein von Prof. Immanuel Ott (Musiktheorie) konzipiertes wissenschaftliches Symposium, ein Podiumsgespräch „Weggefährten erzählen“, ein Konzert „Ligeti und der Jazz“ mit Thomas Hell und Prof. Sebastian Sternal (Jazzklavier) und eine Kombination von Vortrag und Konzert mit Prof. Eckart Altenmüller (Direktor des „Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin“ (IMMM) an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover). Insgesamt erklangen dabei zwar nicht alle 18 Etüden, aber doch eine repräsentative Auswahl, die allermeisten live am Flügel, etliche von ihnen auch mehrfach und in unterschiedlichem Kontext. Dabei setzte Hell einen beachtlichen Maßstab, was die Durchhörbarkeit, Anschaulichkeit und Emotionalität der raffiniert durchgearbeiteten Musik betrifft. Immer wieder vergaß man die pianistischen und kompositorischen Schwierigkeiten und fühlte sich zum Zuhören eingeladen.
Geradezu raffiniert muss man das Konzertprogramm „Ligeti und der Jazz“ nennen, das sich Hell und Sternal partnerschaftlich teilten. Hell begann mit der Etüde Nr. 5 „Arc-en-ciel“ („Regenbogen“), die die Spielanweisung „Andante con eleganza, with swing“ trägt, Sternal antwortete am Flügel gegenüber mit einem passenden Titel des amerikanischen Jazzpianisten und -komponisten Bill Evans; die Harmonik von „Time rememembered“ ist ähnlich stark durch Septimakkorde geprägt. Auf die Etüde Nr. 5 „Fanfares“ folgte „Epistrophy“ von Theolonius Monk. Weitere Kombinationen mit Evans und Monk schlossen sich an, wobei Hell Ligeti den komplexen Notentext elegant reproduzierte und Sternal ebenso elegant die improvisatorischen Möglichkeiten des Jazz nutzte. Bisweilen war kaum auszumachen, wo der Jazz aufhörte und Ligeti anfing oder umgekehrt. Mit ihren sich ergänzenden Erläuterungen sorgten die beiden Hochschulprofessoren dann aber wieder für Klarheit und stellten kompositorische und pianistische Feinheiten heraus. Den abrundenden Abschluss bildete das Stück (Nr. 7) aus Ligetis früher „Musica ricercata“ in einem improvisatorisch angereicherten Arrangement für zwei Flügel. Ein völlig unverkrampftes, dabei ebenso unterhaltsames wie instruktives Konzertformat!
Ein wenig zur Kaminplauderei geriet das Podiumsgespräch „Weggefährten erzählen“, das Thomas Hell mit Ligetis Verleger Peter Hanser-Strecker, seinem Kompositionsschüler Sidney Corbett und seiner Nachlassverwalterin Dr. Heidy Zimmermann von der Paul-Sacher-Stiftung in Basel führte. So manche persönliche Erinnerung wurde so leise vorgetragen, dass man sie trotz Mikrofon im Saal kaum verstand. Allerdings vertiefte das anschließende Symposium dann noch einmal das Bild des Komponisten. Deutlich wurde, dass sich Ligeti nur mühsam von seinen Werken trennte und sich auch nach mehreren provisorischen Versionen schwer tat, eine Fassung letzter Hand festzulegen. Corbett, heute selbst Professor für Komposition an der Musikhochschule in Mannheim, zeichnete das Bild eines umfassend gebildeten und interessierten Menschen, dessen Unterricht ebenso anregend und spannend wie fordend und anstrengend war. Er jedenfalls kam oft eher ausgelaugt als aufgemuntert aus der regelmäßigen Dienstagsrunde in der Hamburger Wohnung des Meisters. Trotz der recht schnell erfolgten Distanzierung von Karlheinz Stockhausen habe Ligeti von diesem stets mit Respekt gesprochen und auch seine Werke analysiert. Dagegen reagierte er auf den Namen Hans-Werner Henze offensichtlich ebenso allergisch wie auf die Nachahmung seiner Kompositionen durch seine Schüler.
Das wissenschaftliche Symposium bemühte sich mit Erfolg, Ligetis Klaviermusik von innen und außen zu beleuchten. Heidy Zimmermann („Eine neue Musik aus dem Nichts“?) stellte die „Musica ricercata“ als frühes Gegenstück der späten Etüden vor. Sidney Corbett widmete sich dem musikalischen Umfeld der Klavieretüden, zu denen außer dem Jazz vor allem Conlon Nancarrows „Studies for Player Piano“, die subsaharische Musik Afrikas und die Ars Nova des 14. Jahrhunderts gehörten. Birger Petersen (Mainz) besprach die Orgeletüden „Harmonies“ und „Coulée“ von 1967 und 1969 und charakterisierte sie im Kontext der Orgeltradition als „Aufbrechen der kirchenmusikalischen Idylle“. Volker Helbing, Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Hannover, vertiefte sich in die kompositorische Struktur der Etüde Nr. 11.: „En suspens“ kombiniert zwei traditionelle (Dur-)Hexachorde im Tritonus-Abstand, die bei weitem Abstand für das Ohr gut auseinanderzuhalten sind, in enger Lage aber Chromatik entstehen lassen und im Zwischenbereich in der Wahrnehmung oszillieren. Besonders hervorgehoben sei der Beitrag von Oliver Korte, Professor für Musiktheorie in Lübeck, über „Alte Musik in Ligetis Spätwerk“, der als Ergebnis intensiver Recherche in anschaulichen Noten- und Hörbeispielen konkrete Bezüge zu Werken von Girolamo Frescobaldi, Johannes Ockeghem, Jacob de Senleches und Guillaume Machaut herstellte.
Überzeugend abgerundet wurde die Veranstaltung durch die interaktive Kombination von Vortrag und Konzert zum Thema „Anforderungen an das Gehirn eines Pianisten, Ligetis Etüden vortragend“. Thomas Hell spielte eine Auswahl und Eckart Altenmüller erläuterte die jeweiligen Herausforderungen nicht nur für den Spieler, sondern auch für den Hörer. In zahlreichen Nachfragen, die geduldig beantwortet wurden, dokumentierte sich ein hohes Publikumsinteresse. Dessen interdisziplinäre Zusammensetzung zeigte die Vorteile einer oft beargwöhnten Konstruktion: Die Mainzer Hochschule ist in die Universität und den Universitätscampus integriert.