Einen guten Monat zurück liegt inzwischen der 3. Bundeskongress Musikunterricht in Koblenz – lange genug, um eine erste Einschätzung zu wagen, was er als Podium gegenseitiger Verständigung, Orientierungspunkt oder gar Wegweiser für die Zukunft des Schulfaches Musik geleistet haben könnte. Ein Gesamtbild der fünftägigen Veranstaltung zu zeichnen, ist nicht die Absicht; dazu fehlt dem Verfasser als Mitglied des ausrichtenden BMU-Landesverbandes zum einen die nötige journalistische Distanz. Zum anderen stellt sich bei 400 Kursen in fünf Tagen mit bis zu 29 (!) gleichzeitig laufenden Parallelveranstaltungen ohnehin jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin einen eigenen Kongress zusammen. Vielleicht lässt sich zum Gesamteindruck Folgendes sagen: Dass über der gesamten Veranstaltung eine Grundstimmung von Zufriedenheit lag, hat sicher auch mit der Qualität des Angebots zu tun, und nicht nur mit dem wunderbar freundlichen Septemberwetter.
Nach einer langen Phase des musikdidaktischen Aktionismus hatte der BMU-Vorstand mit dem Bindestrich-Motto „Musik erleben – Musik reflektieren“ im Grunde die Weichen hin zu neuer Nachdenklichkeit und Selbstbesinnung richtig gestellt. Die von BMU-Präsident Ortwin Nimczik bei der Eröffnung präsentierte Hörcollage gehörte sicher zu den erhellendsten Momenten der Gesamtveranstaltung. Da sagte doch eine Schülerin oder ein Schüler im Orientierungsstufen-Alter den schönen Satz: „Bei netten Lehrern darf man Instrumente spielen, bei bö-,“ – und man merkt, wie der junge Sprecher im letzten Moment höflich das Wort „böse“ verschluckte, „bei den nicht so netten muss man Noten lernen.“ Da war sie wieder, die bei Schülern und auch bei Musiklehrern verbreitete Entgegensetzung von „guter“ Praxis und „böser“ Theorie. Sie ist natürlich ein Klischee, aber eines, das sich nicht schlecht von der Schulwirklichkeit im Fach Musik nährt, die all zu oft Praxis um der Praxis willen und Theorie um der Theorie willen zu betreiben scheint. Natürlich wissen die meisten Lehrkräfte, dass beides „irgendwie“ zusammengehört, aber über dem guten Willen, die Kinder bei Laune zu halten, und der bösen Verpflichtung, objektivierbare und nötigenfalls gerichtsfeste Zensuren zu erteilen, fällt ihnen beides wieder auseinander. Und bei der Frage, wie denn aus dem „Irgendwie“ der Zusammengehörigkeit eine fachlich, didaktisch und methodisch stimmige Wechselbeziehung wird, gibt es eine große Unsicherheit.
Feindliche Biotope?
Mit der Entscheidung, die Gesellschaft für Musiktheorie (GMTh) als Mitveranstalterin nach Koblenz einzuladen, tat der BMU sicher einen Schritt in die richtige Richtung. Mit einiger Überraschung las man als musikdidaktischer Praktiker im Programm die Diagnose: „Musikpädagogik und Musiktheorie haben viele Gemeinsamkeiten. Beide Fächer verorten sich zwischen Wissenschaft, Didaktik und Kunst, beide begreifen sich als interdisziplinär und beide sehen sich für die Musiklehrerbildung zuständig. Dennoch gibt es zwischen den VertreterInnen der beiden Fächer häufig Reibungen – von gelingenden Kooperationen ist nur selten die Rede.“ Während die mutigen Musiktheoretiker/-innen, die sich als Workshop-Leiter ins „feindliche Biotop“ der Musikpädagogen wagten, durchaus interessierte Teilnehmer fanden – sogar für ein scheinbar so esoterisches Thema wie die „Oktavregel“ –, wollte es mit der interdisziplinären Verständigung auf offizieller Ebene nicht so recht klappen.
Beide Verbände luden zu je einer eigenen Podiumsdiskussion. Diese hätten sich nun im optimalen Fall sinnvoll ergänzen können, doch obwohl sich die Diskussionsleiter jeweils mit ihren Impulsen große Mühe gaben, kam am Ende wenig Erhellendes heraus. Das Podium der GMTh über die problematische Beziehung der beiden Fächer verblieb zu stark im akademischen Bereich, und das Podium des BMU kreiste letztlich ums falsche Thema. Die Frage nämlich „Wieviel Musik-Theorie braucht die Unterrichts-Praxis?“ lässt sich mit dem frühneuzeitlichen Arzt und Philosophen Paracelsus relativ schnell pauschal beantworten: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.“ Wirklich interessant für den Arzt und ebenso für den Musikpädagogen ist nämlich erst die Frage: In welcher Absicht gebe ich welche Dosis von welchem Mittel? Es kommt immer auf die Musik an, die man machen oder verstehen will. Deutlicher als auf dem Koblenzer Kongress kommt das zum Beispiel in einer Sendung des Musikproduzenten Hans Jörg Bodin („Non-Eric“) mit Diskutanten aus dem Jazz- und Popbereich zum Thema „Wieviel Musiktheorie braucht man zum Musik machen?“ heraus, die Bodin schon am 4. Juni 2015 in seinem VideoBlog MusoTalk auf YouTube ausgestrahlt hat.
Musikalische Geländekenntnis
Überlegt man schließlich, wo Schülerinnen und Schüler die Spaltung in eine recht trockene Theorie und eine eher spannende Praxis ziemlich klaglos akzeptieren, so kann einem das im Grunde banale, aber doch aufschlussreiche Beispiel des Führerscheinerwerbs einfallen. Entscheidend für die Motivation ist hier das Ziel: am Ende Auto fahren zu können und zu dürfen. In eine ähnliche Richtung zielt das von Udo Petersen (Landesinstitut Hamburg) zitierte Wort Heinrich Jacobys von der musikalischen „Geländekenntnis“. Die hat sich aber nach dem jeweiligen Gelände zu richten, und sie fehlt oft schon den Unterrichtenden. Dass es um den gerade mal ein paar Jahre alten „aufbauenden Musikunterricht“ so still geworden ist, halte ich in diesem Zusammenhang für kein gutes Zeichen, denn immerhin liegt hier ein Konzept der methodischen Vernetzung von Praxis und Theorie vor, dessen Tragfähigkeit wohl geringer ist als von den Initiatoren erhofft, aber doch stärker als von den Skeptikern bemängelt. Natürlich muss das Konzept angemessen dosiert, alters- und lerngruppenspezifisch akzentuiert, flexibel gehandhabt und sicher auch in verschiedene musikalische Richtungen weitergedacht werden. Es ergibt aber keinen Sinn, einen etwas dünn gewordenen roten Faden fallen zu lassen und dann über das Fehlen eines solchen zu lamentieren.
Erfrischend war dagegen das neue Format „Aus der Forschung“, das in 90 Minuten drei Kurzbeiträge aus aktueller musikpädagogischer Forschung präsentierte. Besonders erhellend für die Situation des Musikunterrichts ist die Studie von Viola Cäcilia Hofbauer (UdK Berlin) „Motivation von Musiklehrern – Zum Einfluss der Motivation und Expertise auf Bewältigungsstrategien von Musiklehrern“. Hofbauer hat mittels einer Kombination von schriftlichen Befragungen und mündlichen Interviews ermittelt, dass in einer Musiklehrer-Biographie Studienabschluss und Referendariat zwar zunächst als Höhepunkte der beruflichen Belastung wahrgenommen werden, dass aber der Berufseinstieg und später das zunehmende Altern im Beruf als noch stärker belastend erlebt werden. Entlastung innerhalb des Berufsweges verschaffen nach Hofbauer die Wahlfreiheit bei Studieninhalten, Fortbildungen zum Musikunterricht, die Kooperation im Kollegium, eine gute Organisation und Arbeitsumgebung im Schulalltag sowie ein zweites Unterrichtsfach neben dem besonders anstrengenden Fach Musik.
Praxisschock
Mit dem „Jungen Forum“ hat der BMU die Unterstützung der Referendare und Berufseinsteiger inzwischen fest im Blick, aber es stimmt doch nachdenklich, wenn eine junge Kollegin einen Praxisschock nach dem Berufseinstieg andeutet und ihre Bewältigungsstrategie mit den Worten beschreibt: „Ich merke, dass die Initiative hauptsächlich von mir kommen muss.“ Wie will man das ein Leben lang durchhalten? Nicht von ungefähr bemängelt der jüngste OECD-Bildungsbericht am deutschen Schulsystem die fehlenden Unterstützungssysteme für Unterrichtende und deren hohe unterrichtliche Belastung. Nun sind aber in der musikpädagogischen Diskussion des BMU vor allem Ausbilder der 1. und 2. Lehrerbildungsphase präsent und engagiert. Professorin oder Fachleiter – beide haben naturgemäß die Menschen in ihren Institutionen im Blick und suchen die Schaltstellen für Veränderungen vor allem in ihrem Bereich. Wer aber spricht mit den Lehrkräften (und für sie), die noch oder schon 20 Jahre im Dienst sind und nicht einmal zu Fortbildungen kommen, weil ihnen das enge Terminkorsett ihrer Schule keine Luft lässt, weil sie ihren ohnehin überlasteten Kolleginnen und Kollegen nicht noch mehr Arbeit aufbürden wollen, weil die Schulleitung die Beurlaubung verweigert oder das zuständige Ministerium fachliche Fortbildung für überflüssig hält? Die in der BMU-Mitgliederversammlung verabschiedete Agenda 2030 mit ihrer Forderung nach einem Gesamtkonzept musikalischer Bildung gibt hier immerhin Anlass zu vorsichtiger Hoffnung.