Hauptbild
„Üben, bis die Finger bluten“. Foto: Hannah Otto

„Üben, bis die Finger bluten“. Foto: Hannah Otto

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Sieben Quadratmeter

Untertitel
Kommentare und Kritzeleien in „Übezellen“
Vorspann / Teaser

Sieben Quadratmeter, ein Milchglasfenster in der Decke, ein Klavier, ein Spiegel an der Tür. Die beschädigte Soundisolierung lässt die Geräusche in mein Bewusstsein dringen. Links von mir spielt jemand Cello, rechts von mir übt jemand Klavier. 

Autor
Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Die Betrachtung des kleinen Raums liefert Einblicke in eine Umgebung, die weder privat noch öffentlich ist. Es handelt sich um einen Ort, an dem Musikstudierende meist mehrere Stunden täglich verbringen. Die Atmosphäre wird durch die zahlreichen Kommentare und Kritzeleien an den Wänden nuanciert. Vor allem sexuelle Referenzen und politische Themen werden an den Wänden ausgetragen. Das verändert die Stimmung in diesen Räumen enorm. Von Flirtversuchen über religiöse Diskussionen und die Darstellung von Körperteilen ist alles dabei. In manchen Räumen wurden gespreizte Beine über Lichtschalter gemalt, sodass man beim Betätigen des Lichtschalters zwischen die Beine eines weiblich gelesenen Körpers greifen muss. In anderen Räumen findet man Blutspuren an den Wänden und Sätze wie: „Üben, bis die Finger bluten“. 

Die nötige Disziplin für das Üben in diesen Räumen (umgangssprachlich „Zellen“) beginnt schon beim Buchungsprozess über die Plattform Asimut: Zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Raum buchen, bevor es jemand anderes tut. Ein weiteres relevantes Thema an den Wänden ist mentale Gesundheit. Während einige Studierende ihre Ängste oder suizidalen Gedanken teilen, kommentieren andere Studierende Hilfestellungen oder Lebensweisheiten. 

Dies wurde zuletzt auch popkulturell im digitalen Raum diskutiert, ausgelöst von Taylor Swifts neuem Album „The Tortured Poets Department“. Eine Zeile aus dem Song „Who’s Afraid of Little Old Me?“ ist auf Instagram und TikTok viral gegangen: Mit den Worten „Du würdest keine Stunde in der Anstalt überleben, in der sie mich aufgezogen haben“ (engl. „You Wouldn’t Last An Hour In The Asylum Where They Raised Me“) posten Nutzer*innen Orte aus ihrem Leben – und Musikstudent*innen Fotos von ihren Überäumen. 

Von üblen „Zellen“ und ­enttäuschenden Bubbles

In den Kommentaren dieser Videos tauschen sich Personen weltweit über ihre negativen Erfahrungen mit diesen sehr spezifischen Räumen aus. Ähnlich wie an den Wänden der Überäume sorgt die Kommentarsektion für einen vermeintlich anonymen Austausch. Ein Diskurs, der aus unhierarchischen Positionen heraus verhandelt wird.

Die Diskussionen an den Wänden der Überäume enden häufig mit Beleidigungen, die dann ihrerseits kommentiert und bearbeitet werden. „Und ich dachte, Musiker seien weniger dumm und unsolidarisch, sondern links, grün und cool“ steht an einer Wand, jemand antwortete darauf: „Nein. Enttäuscht von Deiner Bubble?“. Diese Frage stelle ich mir während des Übens immer wieder: Bin ich enttäuscht von meiner Bubble?

Ort
Autor
Print-Rubriken