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Die unerträgliche Leichtigkeit des Musikmachens

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Der „start-ab“-Wettbewerb 2002 des Landesverbands der Musikschulen in Nordrhein-Westfalen
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Variationswerke in gemeinschaftlicher Autorenschaft sind in der klassischen Musik recht selten. Dass ausgerechnet ein Musikverleger, nämlich Anton Diabelli, mit dem Projekt der 50 Variationen verschiedener Autoren über ein Thema hier eine Ausnahme schuf, ist kein Zufall. Denn zu seiner Zeit war die Veröffentlichung und Verbreitung von Musik an die Schriftform und damit an einen Verlag gebunden. Heute, wo durch neue Medien die Musikvermittlung nicht mehr zwangsläufig der Schrift bedarf, bekommt das musikalische Grundprinzip des Variierens eine neue Ausdrucksform.

Variationswerke in gemeinschaftlicher Autorenschaft sind in der klassischen Musik recht selten. Dass ausgerechnet ein Musikverleger, nämlich Anton Diabelli, mit dem Projekt der 50 Variationen verschiedener Autoren über ein Thema hier eine Ausnahme schuf, ist kein Zufall. Denn zu seiner Zeit war die Veröffentlichung und Verbreitung von Musik an die Schriftform und damit an einen Verlag gebunden. Heute, wo durch neue Medien die Musikvermittlung nicht mehr zwangsläufig der Schrift bedarf, bekommt das musikalische Grundprinzip des Variierens eine neue Ausdrucksform. Bereits vor zwei Jahren nahm sich der Landesverband der Musikschulen in Nordrhein- Westfalen erstmals neuer musikalisch-technischer Möglichkeiten an und startete den ersten Aufruf zum Wettbewerb „start-ab“. 18 Teilnehmer beteiligten sich damals aktiv per Internet am ersten „Remix-Wettbewerb“ deutscher Musikschulen. Im darauffolgenden Jahr 2001 waren es 52, und beim diesjährigen Wettbewerb, der am 15. Juni mit der Preisverleihung im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung des deutschen Musikschultags im Audimax der Universität Bochum zu Ende ging, waren es schon über 300 – eine gewaltige Steigerungsrate. Drei Klangspuren in Form von Tonaufnahmen waren vorgegeben und stellten das gemeinsame Ausgangsmaterial dar. Alle Teilnehmer hatten zwei Tage Zeit, diese Klänge nach ihrem Geschmack und ihren musikalischen Fähigkeiten mit allen Möglichkeiten der digitalen Klangbearbeitung zu verändern, zu ergänzen, zu rhythmisieren oder zu harmonisieren, um sie dann in variierter Form wieder per Internet zurückzuschicken.

Initiator war Manfred Grunenberg, Leiter der Musikschule Bochum, unterstützt durch die Musikschulen Oberhausen und Essen und die Tonstudios „flatline media“ und „look at me“ in Oberhausen. Das Ausgangsmaterial stellte die Berliner Formation „2Raumwohnung“ aus einer bis dahin unveröffentlichten Komposition zur Verfügung. Nach einer Vorauswahl wurden von namhaften Rundfunkredakteuren, DJs und Managern der Tonträgerindustrie die besten Einsendungen ausgewählt. Den ersten Preis, einen kompletten Musik-PC mit entsprechender Software, gewann Ron Schickler. Über den zweiten Preis, bestehend aus zwei Softwarepaketen, freute sich Fred Adrett, und der dritte Preis, ein Softwarepaket, ging an den Vorjahressieger, den 18-jährigen Schüler Kostia Rapoport. Zusätzlich wurden zwei Förderpreise vergeben, die mit einer professionellen studiotechnischen Verfeinerung der jeweiligen Beiträge in den beteiligten Oberhausener Studios dotiert waren. Diese Förderpreisträger, Martin Funke und Stefan Gubatz, wurden von Inga Humpe und Tommi Eckart („2Raumwohnung“) persönlich ausgewählt. Inzwischen war auch das Original, dessen Gerüst das Ausgangsmaterial für den Wettbewerb gestellt hatte, fertig geworden und auf der Preisverleihung erstmals vorgestellt. In Form von frisch gepresstem Vinyl wurde es den Preisträgern als Zugabe überreicht.

Nachdem nun der Vergleich der eingereichten Remixe mit dem Original möglich war, setzte sich unter den Besuchern der Preisverleihung die Meinung durch, einige Wettbewerbsbeiträge seien dem Original durchaus ebenbürtig. Die Gruppe „2Raumwohnung“ zieht nun in Erwägung, die besten Beiträge des Wettbewerbs in ihr Konzept aufzunehmen und zu veröffentlichen.

Viele Teilnehmer sind musikalische Autodidakten. Auch ohne musikpädagogische Unterstützung äußert sich hier eine enorme musikalische Kreativität. Die undogmatische Herangehensweise an Klänge ohne jeden hemmenden Respekt vor den kompositorischen Leistungen längst Verstorbener eröffnet Chancen, die sich gerade hier, nämlich jenseits der Lehrpläne von Schulen und Musikschulen, entfalten können. Andererseits fällt beim Hören auf, dass das Gros der Bearbeitungen, die alle aktuellen Stile der elektronischen populären Musik abdecken, sich auf das rhythmische und klangtechnische Moment beschränkt. Die anspruchsvolle Gestaltung von harmonischen und melodischen Strukturen erfordert dagegen tiefere Kenntnis in der Beherrschung traditioneller Musiklehre und zeichnet deshalb nur einen Teil der eingereichten Beiträge aus.

Hieraus ergeben sich unmittelbar Anknüpfungspunkte für die Arbeit der Musikschulen. Insofern leistet dieser Wettbewerb auch einen Beitrag zur Standortbestimmung der Musikpädagogik im 21. Jahrhundert. Sie könnte künftig noch stärker von mehreren unterschiedlichen Seiten wirken: In einer Verbindung aus der erfrischenden Respektlosigkeit der Jugend, die ihre Musikalität viel direkter umzusetzen weiß, als es viele Pädagogen ahnen, und den Fähigkeiten, die die ältere Generation in traditionellen musikalischen Strukturen beisteuern kann – sei es im Umgang mit Klaviatur, Harmonielehre oder Notenschrift. Die Ausstattung mit modernen Hilfsmitteln in Form von neuen Medien wird in Musikschulen jedenfalls, sofern sie es noch nicht ist, in der nächsten Zeit auf die Tagesordnung kommen. Auch auf dem Gebiet von Theorie, Gehörbildung, Arrangement, Improvisation und Notation bieten neue Medien interessante Ansatzpunkte.

Dass der Computer auch darüber hinaus ein kreativ einsetzbares Werkzeug ist, beweisen auch die beiden neuen Wettbewerbe, die dieses Jahr erstmals das „start-ab“-Konzept ergänzten. „Sound-art-net-work“ und „clip-ab“. „Sound-art-net-work“ richtet sich an Musiker, die ihr Betätigungsfeld weniger im Pop, sondern eher im Bereich der „ernsteren“ elektronischen Musik sehen. Hier waren 16 Beiträge zu bewerten, deren Gestaltung keine klanglichen Vorgaben zu berücksichtigen hatte. Einzige vorgeschriebene Gemeinsamkeit war der Bezug zum Thema „Zeit“. Erster Preisträger wurde Alexander Suppe mit seinem Opus „Hymne auf das digitale Zeitalter“. Im ebenfalls erstmals ausgetragenen Wettbewerb „clip-ab“ ging es um die Visualisierung von Musik durch selbst entworfene und produzierte Videoclips. Hier wurde von der Jury keine Rangliste unter den sechs eingegangenen Filmen erstellt. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass zwei Tage Zeit für diese Art des Wettbewerbs nicht ausreichen und künftig wohl entscheidend ausgeweitet werden müssten.

Insgesamt stellen diese Wettbewerbe einen viel versprechenden Ansatz dar, den kreativen Umgang mit neuen Medien zu einem Thema der Musikschulen zu machen. So bewahrheitet sich schließlich auch in der Musikpädagogik ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Dirigenten Leopold Stokowski dessen Vision: „One can see coming ahead a time when a musician who is a creator can create directly into tone, not into paper.“

Fragwürdig nur, dass sich bei „start-ab“ etwas zu bestätigen scheint, was manch einer in der Geschichte der musikalischen Komposition inzwischen überwunden geglaubt haben könnte: Der Anteil der weiblichen Teilnehmer lag zwischen einem und zwei Prozent.

http://www.start-ab.com;
http://www.clip-ab.com
http://www.sound-art-net-work.de

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