Vom 29. August bis zum 11. September 2022 fand in München der 71. Internationale Musikwettbewerb der ARD statt. Anders als noch im von Corona verunsicherten Vorjahr konnte der Wettbewerb vom 1. Durchgang bis zu den Preisträgerkonzerten vollständig in Präsenz von Künstlern und Publikum veranstaltet werden.
Die diesjährigen Kategorien waren Flöte, Posaune, Streichquartett und Klavier, jene Fachrichtungen, die nach der Absage des Wettbewerbs 2020 jetzt nachgeholt wurden. Mit 670 Bewerbern aus 55 Ländern, allein 330 im Fach Klavier, wurde erneut ein nomineller Rekord gebrochen, wodurch der Veranstaltung ihre Bedeutung und mediale Wahrnehmung bestätigt wurde. Dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine angemessen zu begegnen, sah man sich indirekt verpflichtet. Laut Meret Forster, künstlerische Leiterin des ARD-Wettbewerbs, soll der Wettbewerb „die Musik ins Zentrum stellen“, weshalb man alle Wettbewerber sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland teilnehmen ließ. Die Bewerbungen, die dem ersten Durchgang vorangingen und als Videomitschnitt online einzusenden sind, lägen der Jury generell anonymisiert vor, damit möglichst keine Benachteiligungen der Teilnehmer entständen. Nach Video-Vorrunde und erstem Durchgang hatten 10 Streichquartette und zwischen 12 bis 21 Solisten in den jeweiligen Kategorien den zweiten Durchgang erreicht. Schon hier spürte man viel musikalisches Können und den starken Willen weiterzukommen.
Spätestens in den Halbfinals konnte man ein herausragendes Niveau der Musiker hören. Neben traditionellem Repertoire wurde der Vortrag einer für das Event in Auftrag gegebenen Komposition erwartet. „Die Aufträge werden an Komponisten vergeben, die eine hohe Affinität zum Instrument aufweisen, dieses selbst spielen oder schon reichhaltige Literatur dazu publiziert haben“, so Forster. Die Werke sollten „nicht zu komplex sein, keine unverständliche Legende mit Sonderanweisungen haben, aber trotzdem im Ausdruck individuell sein“. Mit den Werken prüfe man die Fähigkeit der Teilnehmer zur Interpretation von Ungehörtem. Die Komponisten in diesem Jahr waren Beat Furrer mit „melodie“ (Flöte), Mike Svoboda mit „Concert Etudes 6 & 7“ (Posaune), Dobrinka Tabakova mit „The Ear of Grain“ (Streichquartett) und Márton Illés mit „Négy tárgy, Vier Objekte für Klavier“. Furrers Stück hinterfragt die Bezeichnung „melodie“ durch Changieren zwischen fast tonlosen, rauschenden Akzenten und Klangfetzen mit wilden Tonkaskaden. Die Etüden für Posaune spiegeln dagegen ihren Namen sehr gut wider. Für das Instrument übliche, lang gehaltene kantable Klänge wechseln sich mit raschen „jazzigen“ Figurationen ab. In kürzester Zeit wird ein virtuoser Ambitus bespielt. Größtes Interesse und Begeisterung löste die „Getreideähre“ Tabakovas aus. In einer Antithese von gleißendem Licht und eisiger Kälte erwecken die Streicher melancholische Gedanken an ein in Sonnenstrahlen gedecktes goldenes Weizenfeld. Die Komposition für Klavier dagegen wurde mit weniger Begeisterung aufgenommen. Mit fragenden Blicken beobachtete das Publikum, wie die Pianisten den Konzertflügel mit Hilfsmarkierungen präparierten. Sie waren neben rhythmisch differenzierten und virtuosen Läufen an der Klaviatur auch durch interpretatorisch variables Spiel auf den offenen Saiten des Flügels gefordert. Dass mit der zweiten Hälfte des Klavier-Halbfinals die Zuschauer sukzessiv weniger wurden, mag wohl diesem Werk geschuldet gewesen sein.
In den Finals – die Solisten wurden vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks begleitet – trafen jeweils die von der Jury auserkorenen besten Künstler im Herkulessaal der Münchner Residenz aufeinander. Das erste Konzert bestritten die Flötisten Yubeen Kim, Mario Bruno und Leonie Virginia Bumüller. Die Herren entschieden sich für ein Konzert für Flöte und Orchester des französischen Komponisten Marc-André Dalbavie, Bumüller wählte ein etwas älteres Werk des Finnen Einer Englund. Mit äußerster spielerischer Präzision legitimierte Kim die Wahl der Jury für den 1. Preis. Auch Bruno und Bumüller, die schon bei der Auftragskomposition interpretatorische Individualität zeigten, bestätigten ihre Klasse, wobei man der technischen Raffinesse der einzigen Dame im Finale allein schon für ihre Interpretation eines Werkes von Carl Philipp Emmanuel Bach im Halbfinale mindestens einen 2. Preis hätte zugestehen müssen. Wiedergutmachung wurde durch den Publikumspreis geleistet, der an Bumüller ging.
In die Endrunde im Fach Posaune zogen Roberto de la Guía Martínez, Jonathon Ramsay und Kris Garfitt. Alle drei spielten ein Konzert für Posaune und Orchester von Henri Tomasi, wobei sich der drittplatzierte Martínez und der zweitplatzierte Ramsay geschlagen geben mussten. Garfitt konnte Publikum und Jury gleichermaßen mit seinem einwandfreien und distinguierten Spiel und den klaren Betonungen dieses elegischen Konzerts überzeugen.
Den Anfang in der Kategorie Streichquartett machte das mit dem dritten Platz prämierte Chaos String Quartet mit Béla Bartóks Streichquartett Nr. 4 und Ludwig van Beethovens Streichquartett in B-Dur, op. 130. Wo in der Auftragskomposition des Halbfinals noch die Fähigkeit zur interpretatorischen Eiseskälte herrschte, präsentierte es hier ein feuriges und temperamentreiches Spiel. In der Mitte des Programms positioniert war das Barbican Quartet, das mit dem ersten Preis belohnt wurde. Neben dem zweiten Streichquartett in a-Moll von Bartók spielte es Beethovens Streichquartett in e-Moll, op. 59 Nr. 2, das mit seinen kraftvollen wie elegisch-melodischen Passagen, eine gelungene Möglichkeit zur Kostprobe ihres Könnens darstellte. Von vergleichbarer Stärke präsentierte sich zum Schluss das zweitplatzierte Quartet Integra. Mit Beethovens gravitätisch-schwermütigem cis-Moll-Quartett op. 131 und dem teils chromatisch-depressiven teils von Atonalität durchzogenen Streichquartett Nr. 6 von Bartók konnten sich die vier Streicher, die schon im Halbfinale durch exzellente farbige Tonsprache und kraftvolle Bewegung Begeisterungsstürme auslösten, die Gunst des Publikums verteidigen und erhielten dessen Preis.
Den Abschluss bildeten die Pianisten Junhyung Kim, Johannes Obermeier und Lukas Sternath. Kim brillierte mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur, op. 58. Er verstand es, die starken Kontraste zwischen der majestätischen Attitüde des ersten Satzes, der Niedergeschlagenheit des rezitativischen zweiten Satzes und der lebendigen Bewegtheit des dritten Satzes zu inszenieren und sich so den zweiten Preis zu erspielen. Obermeier und Sternath wählten das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 in g-Moll von Sergej Rachmaninow. Obermeier lieferte eine gelungene Interpretation des Werks ab, musste sich aber der abwechslungsreicheren Darbietung Sternaths geschlagen geben, der es verstand, zwischen kraftvollen Akzentuierungen und impressionsreicher Bewegung zu changieren. Schon mit seiner zwischen weichem Anschlag und ernster Betonung wechselnden Interpretation von Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 in A-Dur, KV 488, setzte Sternath Maßstäbe. Dem Konzertflügel entlockte er prägnante Akkordsprünge ebenso wie flüssige Läufe und überzeugte damit Jury und Publikum gleichermaßen.
Der unter großem Publikumszuspruch durchgeführte Wettbewerb ist für die nächsten beiden Jahre gesichert, muss aber auch in kommenden Jahren um seine Fortführung ringen. Zur Frage, mit welchen Innovationen die Veranstaltung ihre Aktualität erhalten kann, sagt M eret Forster: „Das Etablieren neuer Projekte spielt eine große Rolle“. So gäbe es seit 2019 Meisterklassen für die Teilnehmer der ersten und zweiten Runde. Darüber hinaus versuche man mittels neuer Partner im Konzertbetrieb, die Preisträgerkonzerte auszuweiten, etwa in Gestalt einer Kooperation mit dem Salzburger Mozarteum ab 2024. „Letztlich bleibt auch der ARD-Wettbewerb im Kern eine kompetitive Veranstaltung, aber wir haben auch in Zukunft den Anspruch, neue Wege zu gehen“. Die Kategorien des kommenden Jahres stehen bereits fest. Zuschauer wie Teilnehmer können sich dann über Bratsche, Kontrabass, Harfe und Klaviertrio freuen.