Die Gewinner sind genannt, Jury und Publikum, wenn auch beileibe nicht immer einig, wieder versöhnt und friedlich miteinander im Gespräch. Die kleinen und größeren Pannen sind vergessen. Die abschließenden Gala-Konzerte in Moskau in Anwesenheit des Präsidenten Vladimir Putin und in St. Petersburg waren wahre Krönungsfeste nach drei Wochen Daueranstrengung und -aufregung.
Ursprünglich geplant war die Gründung des Tschaikowsky-Wettbewerbs für das 100-jährige Geburtstagsjubiläum von Peter Tschaikowsky im Jahr 1940. Der Krieg verhinderte sie. Erst in der politischen Tauwetterphase unter Nikita Chruschtschow wurde der Wettbewerb 1958 erstmals durchgeführt. Und welch eine Sensation war das, als der 23-jährige Amerikaner Van Cliburn den Klavierwettbewerb gewann und die Siegestrophäe aus den Händen Dmitri Schostakowitschs entgegennahm.
Renovierungsmaßnahmen
Ziel des Tschaikowsky-Wettbewerbs ist es, „junge Talente zu finden und zu unterstützen“. In der Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten führte das freilich dazu, die eigenen Begabungen Russlands auszuzeichnen und mit dieser Rückenstärkung auf den internationalen Musikmarkt einzuschleusen. Das Ansehen des Wettbewerbs litt darunter ganz erheblich, sein Ruf nahm Schaden. Das veranlasste Valery Gergiev als neuen Leiter des 14. Tschaikowsky-Wettbewerbs seit 2011 dazu, mit der „Tradition“ zu brechen und neue Strukturen und Auflagen einzuführen. Seit 2011 wird der Wettbewerb nicht mehr nur in Moskau, sondern auch mit zwei von insgesamt vier Disziplinen in St. Petersburg durchgeführt. Das war vor vier Jahren dem Umstand geschuldet, dass aufgrund von umfassenden Renovierungsmaßnahmen im Moskauer Konservatorium der Wettbewerb dort nicht in seinem ganzen Umfang durchführbar war. Gergiev hielt in diesem Jahr daran fest, den Wettbewerb mit jeweils zwei Disziplinen in Moskau und St. Petersburg durchzuführen. Das freilich empört die Moskauer, die sich durch Gergiev, den mächtigsten und einflussreichsten Protagonisten des russischen Musiklebens, geradezu beraubt fühlen.
Doch ohne Frage hat der Wettbewerb dadurch im Land selbst nochmal an Popularität und an Teilnahme durch die Öffentlichkeit gewonnen. Verstärkt wird diese Entwicklung noch dadurch, dass der französische TV-Klassik-Produzent Medici alle Vorspiele und Auftritte der Kandidaten live samt Begleitprogramm in Form von Interviews und Hintergrund-Features weltweit ausstrahlt und zugänglich macht. Man kann nur staunen, welch großes weltweites Interesse – mehr als sieben Millionen Menschen – dadurch dem Tschai-kowsky-Wettbewerb zuteil wurde.
Damit freilich war es nicht getan. Es wurde ein neues Bewertungssystem eingeführt, vorgeschlagen von Peter Grote aus Deutschland, der dem Wettbewerb als Künstlerischer Leiter vorsteht. Es orientiert sich an dem international bewährten Punktesystem und sieht dabei eine Transparenz und Offenheit der Bewertungen vor, die den Jurymitgliedern höchste Verantwortung ans Herz legt. Alle Teilnehmer können ihre Punkte gleich im Internet nachschauen. Eine entscheidende Veränderung gegenüber früheren Wettbewerben betrifft die Zusammenstellung der Jurys. Hier hat man mit Bedacht auf eine internationale Breite gesetzt und die Dominanz der russischen Juroren so von vornherein begrenzt.
Gergiev hat vornehmlich aktive Künstler für die Jurytätigkeit gewinnen können; viele von ihnen sind Preisträger dieses Wettbewerbs. Doch das bringt bei der dreiwöchigen Dauer des Wettbewerbs auch Probleme mit sich, da nicht alle Juroren durch alle Runden hindurch aufgrund ihrer Konzert-Verpflichtungen anwesend sein konnten. Verschiedene Künstler wie beispielsweise Leonidas Kavakos im Fach Violine konnten nur in der ersten Runde als Juror teilnehmen und wurden „ersetzt“, Kavados durch Vadim Repin in der zweiten Runde, der aber wiederum zum Finale verschwand. Dafür tauchten dann dort die drei „Heroen“ Maxim Vengerov, Juri Baschmet und Nikolaj Znaider auf. Mischa Maisky und Mario Brunello fehlten bei der 1. Runde bei dem sehr starken Konkurrenzkampf unter den Cellisten. Das kann man als ein echtes Manko ansehen. Dafür gab es andererseits eine beachtliche Stabilisierung dadurch, dass in allen vier Jurys bedeutende Persönlichkeiten aus den Intendanzen von Konzert- und Opernhäusern sowie Festivals vertreten waren.
Ein wichtiges Novum war in diesem Jahr, dass Gergiev den Jury-Mitgliedern verordnet hatte, keine eigenen Schüler in den Wettbewerb einzubringen. Dmitri Bashkirov sah das sehr kritisch, weil das den Juroren von vorneherein eine gewisse Parteilichkeit unterstelle. Doch er meinte auch, durch zu viele Lehrer-Schüler-Verhältnisse im Wettbewerb würden so manche Wege für mutige, neue und hochinteressante, vielleicht auch provozierende und anfechtbare Werkdeutungen und Interpretationen verstellt und verhindert.
Faszinierend ist es mitzuerleben, welche Strahlkraft und Anziehung vom Tschaikowsky-Wettbewerb ausgeht. Er ist ein gesellschaftliches Ereignis ers-ten Ranges in Russland und nimmt einen außerordentlichen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein ein. Es ist, als suche man über den Wettbewerb nach einer wieder neuen Kultfigur, nach einem Künstler, der mehr als nur Künstler ist, den man als Leitfigur, ja vielleicht sogar als Propheten verehren kann.
Wie bei jedem Wettbewerb konnte man auch in Moskau und St. Petersburg feststellen, dass die Einschätzungen, Bewertungen und Urteilsbildungen von Jury und Publikum nicht unbedingt deckungsgleich ausfallen. Beim Tschaikowsky-Wettbewerb kommt noch hinzu, dass es zu Beginn eine Vorrunde gibt, in der alle zugelassenen Kandidaten auftreten. In dieser Vorrunde wurde so mancher schon namhafte Interpret aus dem Rennen geworfen.
Einig war man sich am Ende aber doch, dass das Niveau des Wettbewerbs 2015 insgesamt sehr hoch war; und unverkennbar war, dass vor allem auch auf Seiten des Publikums sehr verbreitet eine überaus große musikalische Kompetenz herrschte und sich auch bemerkbar machte. 620 junge Musiker aus 45 Ländern hatten sich für die vier Disziplinen Gesang, Violine, Violoncello und Klavier angemeldet, etwas mehr als die Hälfte davon kam aus Russland. Davon wurden insgesamt pro Disziplin 30 (bei Klavier 36) nach Vorauswahl und öffentlichem Vorspiel nach Moskau und St. Petersburg eingeladen. Nach der ersten Runde wurde wieder „aussortiert“; jeweils zwölf Kandidaten wurden dann in die zweite Runde und schließlich sechs zum Finale zugelassen.
Mythos Russische Schule
Jeder Kandidat, der sich dem Wettbewerb stellt und aussetzt, sieht sich mit dem Phänomen und Mythos der russischen Interpretationsschule konfrontiert. Deren Eigenart sei, so Dmitri Bashkirov im Gespräch, „die Schönheit der klingenden Töne, die Schönheit und natürliche, lebendige Schwingung in einer Melodie, in Klang und Rhythmus, in der harmonischen Proportionalität aus Spannung und Entspannung. Das ist mehr als Perfektion.“ Heute, so Bashkirov weiter, „gibt es Tausende von Pianisten, die technisch perfekt spielen, und sie kommen aus allen Ländern und Erdteilen. Die Frage aber ist: Ist das das Ziel, der Zweck der Musik? Und verliert man gar vor lauter ‚Artismus‘ die Idee und den Sinn des Werkes, seine Fragen und existenziellen Anrührungen aus dem Kopf? Was verbirgt sich hinter einer Vorschrift wie ‚so schnell wie möglich‘ oder in der Vorschrift eines dreifachen piano oder auch eines sforzato? Was ‚spricht‘ daraus? Oder dient es nur der Demonstration technisch-virtuoser Fertigkeit und künstlicher Artistik?“ Den Verlust im Suchen nach dem Sinn der Musik, darin sieht der anerkannte Pianist die Gefahr für die jungen Leute.
Cello- und Klavierhöhepunkte
Die spannendsten Wettbewerbe beim diesjährigen Tschaikowsky-Wettbewerb fanden in den Fächern Klavier und Violoncello statt. Im Violinwettbewerb vergab man schon zum zweiten Mal keinen 1. Preis, und die Preise zwei und drei (dieser sogar dreimal) gingen an keine Unbekannten, sondern an die Preisträger von anderen großen Wettbewerben: an den 20-jährigen Taiwanesen Yu-Chien Tseng sowie an Alexandra Konunova (Moldawien), Pavel Milyukov und Haik Kazazyan aus Russland (jeweils ein dritter Preis). „Keiner war mit den Leistungen zufrieden“, so der Juror Maxim Fedotov.
Eine „phänomenale Begabung“ nannte er Clara-Jumi Kang aus Deutschland, die nur den 4. Platz erreichte, deren Darstellung von Beethovens Violinkonzert sich jedoch durch ein sehr eigenes und besonderes Charisma auszeichnete.
Hochinteressant dagegen waren die Auftritte der Cellisten, die bemerkenswert viele Werke aus dem Bereich der Neuen Musik zur Diskussion stellten. So spielte der 22-jährige Amerikaner John-Henry Crawford die berühmte Solocellosonate von György Ligeti; der 19-jährige Japaner Michiaki Ueno „Bunraku“ von Toshiro Mayuzumi und der Moskauer Fjodor Amosov eine eigene Sonate, wobei Letzterer aber vor allem mit einer ungewöhnlich brillanten Interpretation des C-Dur-Konzerts von Joseph Haydn überzeugte, was ihm einen verdienten Sonderpreis eintrug. Zum ersten Preisträger kürte man den 21-jährigen rumänischen Andrei Ionita, einen Schüler von Jens Peter Maintz an der UdK Berlin, der im vergangenen Jahr den zweiten Preis beim ARD-Wettbewerb belegt hatte. Von seiner innigen und dann wieder von spielerischer Leichtigkeit und feinstem Klanggespür geprägten Spiel- und Interpretationsweise ging eine geradezu magische Wirkung aus.
Den schwächsten Eindruck hinterließ der Gesangswettbewerb, der im Mariinsky-Theater in St. Petersburg ausgetragen wurde. Thomas Quasthoff meinte, die jungen Talente hätten sich zuviel schweres Repertoire vorgenommen. Das sei schädlich für die Stimme, dazu brauche es Kondition und Erfahrung, die in jungen Jahren erst noch entwickelt werden müsse. Hier gewannen bei den Männern der Mongole Ariunbaatar Ganbaatar, bei den Frauen die russische Mezzosopranistin Yulia Matochkina.
Dieser Wettbewerbsteil litt erkennbar unter dem Mangel an wirklich internationaler Beteiligung. Natürlich machte man dafür auch die politische Weltlage verantwortlich, vielleicht auch die Schwierigkeit, auf russisch singen zu müssen. „Heute singen auch auf den internationalen Bühnen meis-tens Russen, Koreaner und Chinesen.“ So kommentierte ein junges Mitglied der Akademie für junge Sänger in St. Petersburg sehr lakonisch die Teilnehmerbeteiligung.
Außerordentlich spannend hingegen verlief der Klavierwettbewerb, der in Moskau traditionell im Mittelpunkt auch des öffentlichen Interesses steht. Hier stiegen und fielen die Sympathie- und Emotionskurven am heftigsten, zumal schon nach der ersten Runde der erfahrene und in Moskau beliebte Andrei Korobeinikov aus dem Rennen geworfen wurde. Zum Verhängnis wurde ihm eine extrem langsame Tempogestaltung im zweiten Satz von Beethovens Sonate op. 111, was die Juroren auf die Palme gebracht hatte, weil jeglicher Zusammenhang in der Musik zunichte gemacht wurde und man darin eine Masche, einen kalkulierten Effekt sah.
Eine echte Überraschung aber war der 24-jährige Lucas Debargue aus Frankreich. Er ist ein Spätzünder, hat sich erst vor vier Jahren für die professionelle Pianistenlaufbahn entschieden und ist Schüler von Rena Shereshevskaya an der Ecole Normale de Musique Alfred Cortot in Paris, einer Absolventin des Moskauer Konservatoriums. Debargues Interpretation von Ravels „Gaspard de la nuit“ war eine Sensation und wurde so gefeiert, dass man das Saallicht löschen musste, um das Publikum endlich nach draußen schicken zu können. Erstaunlich war dann aber sein hilfloser Auftritt mit den Klavierkonzerten von Tschaikowsky und Liszt in der Finalrunde. Die Anstrengungen in den drei Wochen des Wettbewerbs zeigten bei allen Spuren. Und trotzdem erstaunten die emphatisch-intensiven Darstellungen des 19-jährigen Amerikaners George Li oder des 16-jährigen (!) Daniel Kharitonov aus Moskau. Deren Freude an ihrem schier grenzenlosen technischen Vermögen produzierte eine Ausdrucksfülle, die das Publikum in Begeisterung versetzte. Debargues Antipode in der Finalrunde war der russisch-litauische Pianist Lukas Geniusas, ein emotional eher zurückhaltender, aber sorgfältig und strategisch denkender Künstler, dem dann in Rachmaninows 3. Klavierkonzert allerdings auch die gestalterische Kraft ausging. Den 1. Preis erkannte man Dmitry Masleev zu, geboren in der sibirischen Ulan-Ude Wüste und in Moskau ausgebildet. Seine entscheidende „Tat“ war in der zweiten Runde die Interpretation von Mozarts d-Moll-Klavierkonzert KV 466. Eine geradezu ans Metaphysische reichende Musikalität zeigte sich da und verwandelte den Raum in eine Atmosphäre des Unwirklichen. Das setzte sich in der Finalrunde mit Tschaikowskys b-Moll-Konzert und Prokofjews 3. Klavierkonzert auf anderer ästhetischer und stilistischer Ebene fort. Der Jubel und die Entspannung auf den Gesichtern – vor allem der Juroren – sagten es: Es war ein würdiger erster Preisträger gefunden. Ein Held? Wer weiß…