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Fordert uns die KI nicht geradezu dazu heraus, verstärkt Orte musikalischer Praxen aufzusuchen? Foto: L‘art pour l‘art

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Wo entsteht die Kunst?

Untertitel
Die Frage nach den Orten der Kreativität und Inspiration immer wieder neu stellen
Vorspann / Teaser

„Musik fängt im Menschen an“, so ließe sich mit Carl Orff die Frage nach dem Ausgang der Kunst und dem Ursprung kreativen Handelns beantworten. Natürlich bezieht sich Orff hier auf Franz Werfels Gedicht „Lächeln Atmen Schreiten“, dessen Text er auch vertonte und wo behauptet wird, die Welt fange im Menschen an. „So allgemein, so umfassend, so von innen heraus“ beginne jeder Umgang mit Musik, man solle nicht an sie „herangehen“, Musik müsse sich „einstellen“. Solch eine Haltung, die mit den Erfahrungen einer von ihm so benannten „Urmusik“ verbunden sind, scheinen uns heute abhandengekommen zu sein, verbannen wir doch seine Gedankenwelt in das Reservat kindlichen Tuns, womöglich mit dem nach ihm benannten Instrumentarium. Stattdessen scheint es viele Ausgangspunkte für ein musikalisch Seiendes zu geben, von denen wir heute zu wissen glauben.

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Und wenn wir den Ursprung künstlerischer Produktion mittlerweile künstlichen Intelligenzen zuschreiben und dahinter eine uns bedrohende oder gar verschlingende neue Urmacht vermuten, dann beschreibt diese Angst das Ende einer hier nun zu erzählenden Geschichte, die damit beginnt, dass wir Musik ausschließlich als etwas Anerzogenes erleben und die urtümliche Verbindung zu ihr längst verloren haben. Das gilt für die Musik, die wir machen, die wir hörend erleben, das gilt für das Bemühen ihrer pädagogischen Vermittlung, aber auch für den professionell sich verstehenden Umgang mit ihr.

Für uns hat die Musik viele Orte und sie kennt ebenso viele Anfänge: Im Anfang war das Wort, heißt es zu Beginn des Johannes-Evangeliums, was aber für das Musizieren dann bedeuten möge, dass ihr Anfang in der Meisterlehre der uns am Instrument instruierenden Gottheiten und in einer rechtsprechenden Urtextausgabe begründet liege. Beides stellt uns vor ein Fait accompli und drängt uns in vielfacher Hinsicht in eine auf das Reproduzieren beschränkte Ecke. Goethes Faust reagiert darauf, ihm ist das „Wort“ zu passiv: „Im Anfang war die Tat“, beschließt er, weil er wusste, die „Tat“ sage mehr als das „Wort“. Solch eine Hinwendung zu sinnlichen Welterfahrungen dürfte uns nicht fremd sein, wo wir uns doch mit etwas beschäftigen, das immer wieder neu zum Klingen gebracht werden muss. Hier ist es der Mensch, der selbst schöpferisch tätig ist und in direkter Verbindung zu dem ist, was er produziert, hier ließe sich sagen, die Musik fange im Menschen an.

Zum ersten Mal sollte diese Verbindung durch die Erfindung der Schrift verloren gehen: Platon berichtet über Sokrates, dass er Kritik übe an der analogen Schriftkultur, würde doch dieses Medium das Gedächtnis schwächen und den Menschen vom Seienden fernhalten. Jede Vermittlung von Wissen sei ein Kommunikationsprozess, der nur in der mündlichen Auseinandersetzung möglich sei. Der Untergang des Abendlandes wurde also bereits ausgerufen, als es gerade erst im Begriff war, aufzugehen. Als dann Guido von Arezzo im Jahr 1028 dem Papst ein frisch erfundenes musikalisches Betriebssystem aus vier Linien vorstellte, das es erlaubte, tradiertes Wissen extern zu speichern, stellte sich schnell dabei heraus, dass dieses neue Medium auch zum Erstellen einer Komposition zu gebrauchen war. Im 19. Jahrhundert gehörte es dann zur Urreligion des Komponierens, dass die Komposition im Kopf und nicht aus einer lebendigen Praxis heraus zu entstehen habe.

Im Notentext fand die Musik ihren dritten Ort, von dem aus sie nun ihr Eigenleben führen konnte. Warnungen wurden ausgegeben, nicht am Instrument zu komponieren, dieses würde die Kreativität begrenzen. Und wenn Arnold Schönberg davon sprach, seine Musik solle eher gelesen als gehört werden, sollte dies den Diskurs entfachen, ob Musik überhaupt noch eine akustisch sich mitteilende Kunst sei oder sein müsse.

Mysterium Kreativität

Wie die Musik in ihren externen Speicher gelangte, blieb im Verborgenen und wurde dank der Künstlerromane im 19. Jahrhundert zu einem geheimnisvollen Mysterium. In solch ein Halbdunkel kriecht nun die künstliche Intelligenz: Statt göttlichen Funkenflugs bedient sie sich der uns ebenso unzugänglichen Logarithmen, lernt von menschlichen Vorbildern, die sie ins binäre System überträgt, ein Weg vom Einfall zum Kunstwerk muss nicht mehr beschritten und kann auch gar nicht mehr nachvollzogen werden. Und im letzten Punkt gleicht sie so manch einem irdisch-komponierenden Schöpfergott. Künstliche Intelligenz bedroht uns, sie macht überflüssig: Schöpfende und Nachschöpfende werden nervös, wenn jetzt bereits Szenarien ausgemalt werden, dass auch der als zukunftssicher geltende Ärztestand bald nicht mehr gebraucht werde.

Nicht jedem Anfang wohnt also ein Zauber inne und wir müssen akzeptieren, dass die künstliche Intelligenz wie einst Mephisto zum festen Bestandteil unseres Weltgeschehens geworden ist. Aber müssen wir deshalb zurückgehen an den Anfang eines martialischen Götterkampfes, in dem der Stärkere sich behaupten muss? Müssen wir jetzt über substanzielle Unterschiede zwischen einer von künstlicher Intelligenz kreierten Komposition und einem seriellen Rechenstück oder einer Minimal Music nachdenken, weil letztere analog konstruiert wurde? Wenn Igor Strawinsky – zugegebenermaßen aufgrund eines aufgrund der damaligen Quellenlage noch etwas eingeschränkten Vivaldi-Bildes – einst behauptete, dieser hätte ein Konzert vierhundert Mal komponiert, was dann auch nicht einmal eine übermäßige menschliche Intelligenz erfordere, dann berührte dies bereits die heute so oft gestellte Frage nach Originalität. Und damit legte Stravinsky der Musik Vivaldis die Elle seiner Zeit an, die dem 18. Jahrhundert noch fremd war.

Vivaldis Virtuosenstücke waren eng mit ihren meist weiblichen Interpretinnen verknüpft, so entstanden die handschriftlich überlieferten Werke doch in den Rahmungen eines direkten musikalischen Interaktionsgeschehens. Für den Markt der Masse hingegen war die in Amsterdam gedruckte Konsumware gedacht. Hier hätte der „prete rosso“, dem unser Urheberdenken ohnehin fremd war, zur Steigerung seines Umsatzes bestimmt auch moderne Assistenzsysteme und künstliche Intelligenzen eingesetzt, wenn ihm diese zur Verfügung gestanden hätten.

Von einer Entfremdung des Schaffensprozesses vom reproduzierenden Künstlertum und einem sich damit ausbreitenden Spezialistentum war bereits die Rede. Musik fängt nicht mehr im Menschen an, sondern dieser wird Teil einer Spielapparatur: Als das Clavichord seine Seele verkaufte, weil die neue Hammermechanik ein Modulieren des Tons durch den unmittelbaren Tastenkontakt zur Saite nicht mehr zuließ, wurde der Mensch Teil einer technisch immer weiter zu optimierenden Reproduktionsmaschine. Wir kennen die an Folterwerkzeuge erinnernden Hilfsapparaturen für das pianistische Gerätetraining und die nicht nur auf das Klavier beschränkten Schulen der Geläufigkeiten. Die Beschleunigungsszenarien und kapitalistischen Optimierungsstrategien fanden auch in der Musik ihren Niederschlag, zwangsläufig führten sie zu den mit Lochstreifen gefütterten Spielmaschinen, die sich von menschlichen Begrenzungen nicht mehr aufhalten lassen mussten.

Offener Kunstbegriff

In der Bildenden Kunst fängt die Kunst noch im Menschen an, hier ist seit Joseph Beuys nicht nur jeder Mensch ein Künstler, sondern versteht sich zugleich als Komponist. Ist es nicht auffällig, dass KI in diesem Diskurs eher er als Erweiterung künstlerischen Tuns angesehen wird? Hier geht es um geschickte Nutzung von Illusionen, um experimentelle Umgänge mit KI, die mal mit Klassifizierungsalgorithmen, mal mit Wahrnehmungsverschiebungen unsere Sinne schärfen sollen. Hier wird eher darüber nachgedacht, wie die Verführungen künstlicher Intelligenz die Kunst weiterentwickeln können. Bei einem herkömmlichen Teufelspakt ist es schließlich klar, dass der Teufel dem Menschen auf der Erde zu dienen hat. Liegt solch ein entspannter Umgang mit KI vielleicht daran, dass hier mit einem offeneren Kunstbegriff operiert wird und die für die Musik benannten Entfremdungsprozesse nicht stattgefunden haben? Welche Konsequenzen können oder müssen sich für die Musik daraus ergeben?

Vielleicht müssen wir uns wieder darauf besinnen, dass Musik eben doch nur einen Anfang hat: Wer die Neue-Musik-Szene betrachtet, wird einstimmen, dass hier ein Stückweit zu den Ursprüngen des Musizierens zurückgekehrt wird. Musik entsteht wieder verstärkt im Miteinander, Komposition und Reproduktion wird zur gemeinsamen Ensemblearbeit, in solchen Interaktionen wird Musik wieder „social media“. Verstärkt müssen wir wieder Orte musikalischer Praxen aufsuchen, an denen die Musik noch im Menschen anfängt, von Mensch zu Mensch weitergegeben und der Improvisation ein größerer Raum zugestanden wird. Musik lässt sich auch vermitteln, wenn ihr vorläufiges Gehäuse in der Partitur einmal nicht aufgesucht werden muss.

So wie wir in anderen Kontexten immer wieder darüber nachdenken, wann und wo das Leben beginnt, und die Errungenschaften der Technik dazu führen, dass solche Fragen immer wieder neu diskutiert werden, müssen wir auch unseren Umgang mit Musik hinterfragen. Angefangen vom System der Ausbildung bis hin zu unserem Konzertleben und der Frage, wie sich unsere Kulturen hier in ihrer Diversität abbilden und sich wiederfinden, muss die Frage nach dem Ort der Kreativität, nach dem Anfang der Musik und nach dem, was sie uns Menschen schenkt, immer wieder neu gestellt werden.

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