Heiner Goebbels inszeniert zur Eröffnung seiner zweiten Ruhr-Triennale-Saison Harry Partchs „Delusion of the Fury“ in der Bochumer Jahrhunderthalle. Platz für ein Orchester gibt es hier nicht, höchstens für ein paar Darsteller, denn die Bühne in der Jahrhunderthalle Bochum steht voller wunderlicher Gegenstände und Aufbauten: an Gestellen hängende Glasballons, verschiedene systematisch montierte Röhren, meterlange gepolsterte Bohlen auf hölzernen Resonanzkästen. Es handelt sich ausschließlich um Musikinstrumente, einige sehen aus, als hätte jemand an ihnen herum gebastelt, andere sind kleine Bühnen auf der Bühne. Sie tragen Namen wie Chromomelodeon, Cloud-Chamber Bowls, Marimba Eroica, Blue Rainbow, Castor & Pollux, Zymo-Xyl, und das Tonsystem ihrer Stimmung hat nichts mit Chromatik zu tun, sondern basiert auf Helmholtz’ „Lehre von den Tonempfindungen“ und einer daraus abgeleiteten 43-teiligen Skala, die Harry Partch seiner Musik zugrunde gelegt hat. Der Klang des vorwiegend perkussiven Instrumentariums entspricht in puncto Wunderlichkeit und Eigenart dem Anblick der Instrumente. Heiner Goebbels hat die europäische Erstaufführung von Harry Partchs Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts entstandener letzter Musiktheater-Arbeit „Delusion of the Fury“ inszeniert und als Eröffnungs-Produktion an den Anfang der aktuellen Ruhr-Triennale-Saison gesetzt.
Harry Partchs Musiktheater verzichtet auf bühnenübliche Arbeitsteilung. Es gibt keine Musiker, die nicht auch Darsteller und Sänger wären, und keine Instrumente, die nicht auch Bühnenbild wären. Partch greift mit spekulativem und höchst eigenständigem Geist weit zurück in die Geschichte der Menschheit, in eine unbestimmte, universelle Zeit, die das Medium Theater schon kannte, aber noch nicht Kategorien wie „Event“ oder „Unterhaltung“. „Delusion of the Fury“ ist absichtsvoll archaisch-rituelles Theater, eine eklektizistisch geformte Geschichte aus verschiedenen Zeiten, Weltgegenden und Mythen – vom alt-fernöstlichen Japan über Eingeborene des US-amerikanischen Südwestens bis ins frühantike Griechenland –, die von Wut und Wahn, von Irrtum und Missverständnis als Grundtatsachen menschlichen Zusammenlebens erzählt und von einer Rechtsprechung, die nicht auf Wahrheitsfindung gründet, sondern auf Schwerhörigkeit, Kurzsichtigkeit und hohler Autorität.
Harry Partchs künstlerische Vision setzt seinen durch eigene Erfahrung resignativ gefärbten Gesellschafts-Diagnosen einen Wahrheitsbegriff entgegen, der naturphilosophisch begründet ist und in der Tonalität seiner Musik und der Bau- und Spielweise seines Instrumentariums ebenso erscheint wie in der ruhigen, aber schonungslosen Ironie der Geschichte.
Harry Partchs eigenes Leben (1901 bis 1974) am Rande der Gesellschaft, als Hobo während der großen Depression, als zutiefst eigensinniger und darum chronisch armer Tonkünstler, dessen Arbeit eher unter Naturwissenschaftlern auf Interesse stieß als im Kulturbetrieb, beglaubigt seine ästhetische Unangepasstheit eindrucksvoll. Sein mit unbeirrter Kreativität geschaffenes künstlerisches Universum hat sich von jeglicher westlicher Alltäglichkeit abgewandt und ist auf einen un-aggressiven Konfrontationskurs gegangen, der einen grundlegenden Dissens mit – mindestens – der US-amerikanischen Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts signalisiert.
Heiner Goebbels, Theaterkünstler und Komponist, ist mit Harry Partchs Werk seit den achtziger Jahren bekannt geworden, als erstmals in Europa Schallplatten mit seiner Musik auftauchten. In der eigensinnigen theatralen Ästhetik, dem weiten thematischen Einzugsbereich und den kritischen Haltungen Partchs hat Goebbels einen Geistesverwandten ausgemacht. Die Arbeit an einem nicht-arbeitsteiligen Musiktheater, die künstlerische Gestaltung politisch akzentuierter und kulturhistorisch ausgeweiteter Gedankengebäude – das sind zwei grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen beiden. Kein Wunder also, wenn Thomas Meixners vorbildgetreue Nachbauten von Partchs Musikinstrumenten auf der Bühne ein wenig an Goebbels’ Installations-Musiktheater „Stifters Dinge“ erinnern (das die Ruhr-Triennale ab 22. September in einer „Unguided Tour“ präsentiert). Kein Wunder auch, wenn man Parallelen etwa zur Ästhetik älterer Bühnen-Produktionen Heiner Goebbels’ mit dem Ensemble Modern erkennt.
Goebbels’ Regiearbeit ist keine monomanische Aneignungsbewegung, sondern respektvolle Teamarbeit. Es ist ein großes und durchaus naives Vergnügen, den Musikern des Ensembles musikFabrik zuzusehen, wie sie mit Präzision und Engagement die Bühne bespielen, mit sich und mit einer Musik, deren Fremdheit, Eigentümlichkeit und Bühnenpräsenz dem Anblick der Instrumente entspricht; ihnen zuzuhören, wie sie als Instrumentalisten und Sänger konsequent eine anfangs nachdrücklich „falsch“ klingende obertonbasierte Stimmung gegen gängige Spiel-, Sing- und Hörgewohnheiten realisieren, es ist eindrucksvoll zu erleben, wie man nach einiger Zeit das alles zu akzeptieren und sich darin zu Hause zu fühlen beginnt und dabei immer wacher und aufmerksamer wird. Unterdessen entfalten die weichen Tiefstton-Impulse der riesigen Marimba Eroica ihre Wirkung unterhalb des hörbaren Spektrums, also weniger an den Gehörknöchelchen im Innenohr als am Brustbein, den Mittelfußknochen und am Schienbein, sodass von ihnen eine tief beunruhigende Wirkung ausgeht, die andererseits vom beruhigend linearen, belebenden Pulsieren des verspielten Perkussions-Instrumentariums wieder eingefangen wird.
Harry Partchs Musik klingt nicht wie Opernmusik irgendeiner vertrauten Provenienz. Heiner Goebbels’ Theater sieht nicht aus wie eine Inszenierung. Der Stoff und seine Realisierung fügen sich zu einer weltabgewandten Gegenwärtigkeit. Ihre Wirkung ist nicht neutönerisch provokativ, sondern suggestiv und magnetisch. Ironische Einsprengsel durchziehen ein grundierendes archaisches Pathos mit ikonografischen Kostümierungen, wulstigen Landschaftsteilen, mit Feuerstellen, mit Wasser, das seinen Weg abwärts durchs Bühnenbild nach vorn findet, auf dem Boden des alten Industriereviers, in der schwingenden Luft einer eigentümlichen Musik.