Der an der angesehenen Harvard-University lehrende deutsche Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann, hat – vielfach berichtet – den Musikpreis 2001 der Ernst von Siemens Stiftung erhalten. In seiner Dankesrede in München hat sich der Musicus laureatus zu grundsätzlichen Fragen einer künftigen Musikwissenschaft geäußert und wünschenswerte neue Horizonte für seine eigene Disziplin in sechs Visionen aufzuzeigen versucht (siehe nmz 7/8-2001, S. 3). Es lohnt sich, sie im Blickwinkel musikpädagogischer Befragung zu kommentieren, zumal das Verhältnis der beiden Disziplinen Musikwissenschaft und Musikpädagogik seit Kestenberg – gerade im Hinblick auf die Lehrerbildung – immer wieder Gegenstand ausführlicher Erörterungen gewesen ist.
Der an der angesehenen Harvard-University lehrende deutsche Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann, hat – vielfach berichtet – den Musikpreis 2001 der Ernst von Siemens Stiftung erhalten. In seiner Dankesrede in München hat sich der Musicus laureatus zu grundsätzlichen Fragen einer künftigen Musikwissenschaft geäußert und wünschenswerte neue Horizonte für seine eigene Disziplin in sechs Visionen aufzuzeigen versucht (siehe nmz 7/8-2001, S. 3). Es lohnt sich, sie im Blickwinkel musikpädagogischer Befragung zu kommentieren, zumal das Verhältnis der beiden Disziplinen Musikwissenschaft und Musikpädagogik seit Kestenberg – gerade im Hinblick auf die Lehrerbildung – immer wieder Gegenstand ausführlicher Erörterungen gewesen ist. Das Ergebnis war bekanntlich zwiespältig. Zwischen gleichgültiger, bisweilen auch arroganter Distanzierung bis zu ehrlichen, weil notwendigen Verständigungsversuchen schwankte die konkurrierende Geschwisterschaft jahrzehntelang hin und her. Manche hofften darauf, die Musikpädagogik – die ja mehr umfasst als die „Schulmusik“ – als Angewandte oder Praktische Musikwissenschaft wiederzufinden. Andere setzten auf das von der Historischen Musikwissenschaft argwöhnisch beäugte Nachbarzimmer der „systematischen“ Schwester als einer Brücke zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit. Im Prinzip blieb es dabei, dass der Partner sich auf einer (Halb-)Insel mehr oder weniger reiner Wissenschaft einrichtete, während die Musikpädagogik sich in den Mehrfrontenkrieg gesellschaftlicher Realität zu stürzen hatte, um dabei naturgemäß von Kurzatmigkeit und auch ideologienahen Verkrampfungen heimgesucht zu werden.Die Folge war: den Schwestern ist diese rigide Trennung nicht gut bekommen. Die Musikologen nehmen kaum wahr, was in der Musikpädagogik sich tut und die Musikpädagogen haben keine Zeit, dem manchmal recht abseitigen Diskurs ihrer Schwester Aufmerksamkeit zu schenken. Gewiss hat der Status quo – auch dank einer jüngeren Generation – das unbefriedigende Nebeneinander etwas entschärft. Auch ist ortsweise persöhnliches Vertrauen zueinander gewachsen. Aber eine bleibende, auch institutionell befriedigende Dauerlösung ist dies nicht. Das Problem muss offensichtlich neu verhandelt werden. Die Diskussion über die Zukunft der Musikwissenschaft hat begonnen. Brinkmanns Dankesrede trägt ebenfalls dazu bei. Ihr sollen hier einige Anmerkungen gelten.
Große Erwartungen
Zunächst nimmt man etwas enttäuscht wahr, dass Brinkmanns Postulat einer stärkeren Wirklichkeitsbezogenheit der Disziplin an keiner Stelle von Musikpädagogik spricht. Man hätte erwarten können, dass der einst in Hamburg ausgebildete und examinierte Schulmusiker die Kritik an seiner eigenen Disziplin am Paradigma der unbefriedigenden Arbeitsteilung im Praxisbezug festmacht. Aber leider hat der Preisträger diese Chance nicht genutzt. Die Keimzelle seiner eindrucksvollen Karriere bleibt so im Dunklen – wie übrigens so häufig auch in Künstlerbiografien. Was gibt es da eigentlich zu verbergen? Nun, meine Enttäuschung soll nicht verdecken, dass ich nach der Lektüre der in der neuen musikzeitung gekürzt wiedergegebenen Rede große Erwartungen hatte. Der vollständige Text aber hat insgesamt eine etwas andere Färbung. Dennoch: es ist beachtlich, dass sich ein Musikologe mit Harvard-Weihen am Ende seines beruflichen Lebens auf die Bühne der Öffentlichkeit wagt und von einer neuen (anderen) Musikwissenschaft träumt, die er selbst nur partiell realisiert hat. Die Autorität für diesen gewagten Vorstoß gewinnt Brinkmann aus der unbestreitbaren Tatsache, dass er – wie wenige seiner Kollegen – die deutsche wie die nordamerikanische Tradition des Faches hinreichend übersieht. Tenor seiner Überlegungen ist – wen wundert es – die Einsicht, dass die einst führende deutsche Musikologie ihre Vorbildfunktion jenseits des Atlantik verloren habe und nun bei ihren Schülern von einst in die Lehre gehen müsse. Das Stichwort heißt: „Cultural studies“. Mit dieser Öffnung soll die in Deutschland allzu verborgene Orchidee Musikwissenschaft an das Tageslicht der öffentlichen Wahrnehmung gezogen werden. Eine solche „sich als gegenwärtig verstehende Wissenschaft“ (Brinkmann) müsse sich an einer grundlegenden Öffnung für die Belange und Erwartungen der musikinteressierten „Gesellschaft“ messen lassen.
Da kann ein Musikpädagoge nur zustimmen und sagen: „endlich“. Das ist es, was wir brauchen: Musik herauszuholen aus dem Elfenbeinturm einer dogmatisierten Autonomie-Idee des vorletzten Jahrhunderts und sie als Spiegel gelebten Lebens erkennen zu lernen, in dem nicht nur Strukturen, sondern der Mensch selbst zum Klingen kommt.
Sechs Visionen im Visier
Im Folgenden halten wir uns an die eingangs erwähnten sechs „Visionen“ Brinkmanns, stellen sie kurz vor und schließen Fragen an – gleichsam als Initiierung eines neuen Dialogs zwischen den musikbezogenen Disziplinen. In seiner ersten Vision plädiert Brinkmann für „das Ende jeglichen Eurozentrismus als ideologisierten Umgehens mit anderen Musikkulturen“. Der Begriff „Weltmusik“ sei zu vermeiden. Es gehe um „diejenige Musik, die ,auf der Welt‘ ist, also alle originalen Musiken der Kulturen der Welt, die von der Wissenschaft in ihren jeweils eigenständigen Erscheinungen gleichberechtigt und aus sich selbst zu untersuchen sind.“
Hier wird offen für eine Ethnologisierung und Internationalisierung der Musikologie plädiert. Sie ist im Zuge kultureller Globalisierung offensichtlich unabwendbar und von daher auch nicht bestreitbar. Freilich kann ein Musikpädagoge, dem seit mehr als 30 Jahren die Überwindung des musikkulturellen Eurozentrismus auch im Unterricht empfohlen wird, nicht umhin, anzufragen, wie ein solches Programm umsetzbar ist, wenn der gleiche Globalisierungsprozess, der Anlass ist, den Eurozentrismus hinter sich zu lassen, zugleich die Herrschaft der europäisch-westlichen Perspektive so verfestigt, dass die „originalen Musiken“ kaum noch so „original“ auffindbar sind. Eine andere Frage ist, ob wir unseren eigenen Kulturkreis und seine Blickhorizonte mit einem solchen einsichtigen Monitum einfach hinter uns lassen können. Müssen wir nicht eurozentrisch denken wie andere asien- oder australzentriert, damit ein sinnvolles Gespräch zwischen „den“ Kulturen entsteht und nicht einfach ein gut gemeinter Wissenschaftstourismus? Immerhin: die gegenseitige Wahrnehmung ist bedeutsam genug. Aber wo sind die Verständigungskriterien?
Die zweite Vision sucht eine Musikwissenschaft, „die ihre Methoden von der gesellschaftlichen Dimension der Musik, von deren Kontext her wählt und bestimmt.“ Das klingt – offen gestanden – noch ein wenig nach 1968. Was ist damit 2001 gemeint? Es könnte sein, dass Brinkmann eine „Produktions- und Darstellungsästhetik“ nach Robert Jauß im Sinne hat, die „in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren sei“, also einer Erweiterung des Kunst- und Musikbegriffs das Wort redet, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit (was auch immer das meint) näher kommt. Der Begriff „Kontext“ legt diese Deutung nahe.
Die dritte Vision mahnt eine Musikwissenschaft an, die „die Meriten des analytischen Zugangs zum musikalischen Werk nicht vergisst und diese einst beherrschende Methode jetzt funktional definiert und das heißt partial einsetzt. Innerhalb dieser Zentrierung sind Sicherstellung und Bearbeitung der westlichen Musiktradition ein notwendiger Arbeitsbereich. Diese Philologie im engeren Sinn ist allerdings kein Selbstzweck.“
Auch hier muss gefragt werden, was mit der Gleichstellung von „funktional“ und „partial“ und mit der Warnung vor einer Philologie des „Selbstzwecks“ gemeint ist. Wenn meine Vermutung zutrifft, dann hat der Verfasser eine Erweiterung des analytischen Methodenzugriffs im Sinn, der nicht nur dem Notentext – also dem schriftlichen „ergon“ – gilt, sondern seinem „Sitz im Leben“ einst und jetzt. Das würde das Postulat von Jauß aufnehmen, die rezeptiven und wirkungsgeschichtlichen „Funktionen“ des Musikwerks (warum nur „Werk“?) in die Reflexion einzubeziehen. Aber ist das so neu, dass man davon träumen muss? In der seit 1970 andauernden musikpädagogisch-hermeneutischen Reflexion ist es schon lange das Thema Nr. 1.
Die vierte Vision sucht nach einer Musikwissenschaft, „die sich konsequent von der Gegenwart her definiert“. Musikpädagogen werden dabei Adorno mithören, der in den 50er-Jahren als Aufgabe einer „wahren musikalischen Pädagogik“ anmahnte, sie müsse sich orientieren am „Verständnis dessen, was in der Kunstmusik ihrer Epoche verbindlich sich zuträgt.“ (Zur Musikpädagogik). Dabei durfte man den Darmstädter Altmeister schon damals nicht missverstehen. Er wollte keineswegs einen allzu schlichten Präsentismus empfehlen, sondern wusste – gerade er! – von der Historizität unserer so genannten „Gegenwart“. Man denke nur an seine Ästhetik des musikalischen Materials als Sediment der Geschichte! Ich nehme an, dass Brinkmann auch in diesem Sinne verstanden sein will. Es geht ihm offensichtlich um eine geschichtsphilosophische Position, deren Fragestellung vom Problembewusstsein der jetzt Lebenden bestimmt ist, nicht von dem vergangener Jahrhunderte. Freilich darf diese Position nicht überfordert werden, etwa durch die fortschrittseuphorische Arroganz von Avantgarden, die vorgeben, sie allein hätten den Ruf in die Zukunft. Nein: auch „Gegenwart“ muss sich auch immer wieder korrigieren lassen von Geschichte und Tradition. Insofern setzt wissenschaftliches und politisches Handeln ein be- und nachdenkendes Wechselspiel zwischen Tradition und Gegenwart voraus. Eine Gegenwartsorientierung per se gibt es gar nicht.
Spürbare Skepsis
Die fünfte Vision akzentuiert die vierte durch die Forderung nach „aktualisierten Themen“, die „eine verstärkte öffentliche Präsenz“ der Musikwissenschaft erreichen sollen. Im Hintergrund steht dabei eine spürbare Skepsis Brinkmanns im Hinblick auf die Überlebensfähigkeit der „klassischen bürgerlichen Musikkultur“. Sie brauche Erneuerung und Musikwissenschaft könne und müsse dazu beitragen.
Nun, in der Musikpädagogik muss man das schon wieder bremsen, um der Geschichte der europäischen Musik den ihr gebührenden Platz zu erhalten. Die Aktualisierungswelle ist so en vogue, dass weniger in den Curricula als in der schulmusikalischen Praxis die Balance zwischen musikkultureller „Herkunft“ und „Ankunft“ gefährdet erscheint. So gesehen ist die Berufung auf die Dominanz der „Gegenwart“ auch zweischneidig. Wichtiger scheint heute der Blick in die großatmige Tiefe der Geschichte, zu der die Gegenwart gehört. Und von einer Krise der „bürgerlichen“ Musikkultur spüre ich noch nicht viel. Eine steigende Zahl von Kinder-, Jugend- und Familienkonzertangeboten vonseiten der Musikpädagogik spricht bislang noch eine andere Sprache.
Die letzte sechste Vision fordert die „Kommunikation mit einem Laienpublikum... Ich sehe Musikwissenschaftler bei Poeten in die Lehre gehen und eine verständlich und doch reich nuancierte Sprache sprechen und schreiben. Die Entwicklung dieser dem ästhetischen Gegenstand angemessenen und den Adressaten gleichwohl erreichenden hermeneutischen Sprache wird die Umwandlung der Musikwissenschaft in ein auch öffentlich relevantes Fach krönen.“
Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass dieses Monitum Brinkmanns ein verschlüsseltes Bekenntnis zu einer Musikwissenschaft ist, die sich nicht nur der Musikpädagogik öffnet, sondern vor allem erkennt, dass sie auch einen öffentlichen musikerzieherischen Auftrag wahrzunehmen hat, der die Professionalität ihrer Fachvertreter nicht mindert, sondern eher ganz neu herausfordert. Eine solche Musikwissenschaft wäre eines der Goldkörner in der Musiklehrerausbildung. Denn sie hat endlich konsequent den Laien im Auge. Er – und das kann auch der Fachmann sein, wenn er Privatmann ist – sucht Musik als Spiegel von Leben.
Hermeneutische Sprache
Dieser Spiegel scheint ihm mehr zu zeigen als er selbst von sich weiß. Es ist dieser Gewinn an „Erbauung“, Infragestellung und neuer Erfahrung, den der Laie vor allem und gerade in der Musik sucht. Musik nur als Problemfall für analytische Laboruntersuchungen zu sehen, ist ihm fremd. Sie tendieren für ihn zur Esoterik. Die Angst vor ihr reicht bis in höchste Kreise hinein, woraus erklärbar wird, warum die Musik in Philosophie, Anthropologie und Theologie oft ein Randdasein – oder gar keines – führt. Freilich stutz man, wenn ein Spitzenvertreter der Musikwissenschaft schlicht von „hermeneutischer Sprache“ zu reden wagt, als sei sie nicht bis vor kurzem noch diffamiert worden, ja als existiere eine solche Sprachsorte überhaupt. Blickt hier noch die alte, seit Kretschmar gängige und ebenso häufig verfemte Hermeneutik einer naiv-bildassoziativen Kommentierung von Musik durch, die seit Heidegger und Gadamer längst in höheren und grundlegenderen Arealen weilt? Es ist zu hoffen, dass Brinkmann hier in Wahrheit das freilich gewichtige Problem einer der Musik angemessenen Sprache der Vermittlung musikalischer Prozesse anspricht, die sich von der Wichtigtuerei blanker Strukturdeskription distanziert und sich auf das Feld der offenen Verweisung durch Vergleich, Bild, Gleichnis, Metapher und Symbol wagt, ohne gleich die Sprachklischees überholter Konzertführer zu wiederholen. Freilich: ob man da Poeten bemühen muss und wie weit das überhaupt lernbar ist, darüber wäre sinnvoll zu streiten.
Meine kritischen Anfragen sollen nicht verdecken, dass Reinhold Brinkmann vor allem zu danken ist. Er stößt mehr an als nur die Erneuerung seines „Orchideenfachs“. Trotz mancher Präzisionsdefizite in seinem Aufruf ist erst einmal die Einsicht anzuerkennen, dass es eine gesamtkulturelle Mitverpflichtung der Wissenschaft gibt, die Musik zum Thema haben. Sie beginnt nicht erst in der Universität, sondern im Kindergarten, in der Schule und dort, wo Laien unsere Musikkultur mittragen.
Dabei würde ich das von Brinkmann zitierte Motto des späten Schönberg gerne aufnehmen. „Research into the profundities of musical language“ – das ist die Aufforderung, nach dem Humanum im Klingenden zu suchen, nach „dem unerschöpften Potenzial an Menschlichkeit“, wie Reinhold Brinkmann es am Schluss seiner Rede umschreibt. Ob es einen neuen Anfang im Miteinander der Schwestern geben kann? Es wäre zu hoffen.
Reinhold Brinkmanns Dankesrede ist vollständig abgedruckt in: Ernst von Siemens Musikpreis 2001: Reinhold Brinkmann, Zug 2001, S. 54–71. ernst-von-siemens-musikstiftung.org