Das kurze Orchesterstück „Furioso“ von 1947 ist eine atemlose, tempogeladene Musik mit kantigen, synkopischen Akkorden im Bigband-Stil. Es atmet den Geist der ersten Nachkriegsjahre: Weg mit dem Dunst und Gebräu völkischer Metaphysik – hin zu Offenheit, Dynamik, zu neuen Ufern. Und zwei Jahre später, in der Zweitfassung der „Sinfonie 1949“, werden Baudelaires berühmte Zeilen zitiert: „Tod, alter Fährmann, komm die Anker lichten! Segel gehißt! Wir sind der Erde satt.“ Aufbruch ist das Stichwort, das einem aus Rolf Liebermanns Werken der späten vierziger Jahre entgegentönt, Aufbruch wohin auch immer, nur weg vom apokalyptischen Gestern. Im Trümmerfeld Europa war er ein Mann der ersten Stunde, nicht nur als Komponist. 1948 fuhr er von der Schweiz aus mit einem Autotransporter voller Partituren nach Darmstadt, um dort den Grundstein für das Archiv der zwei Jahre zuvor gegründeten „Ferienkurse für internationale neue Musik“ zu legen. 1949 gehörte er zu den Organisatoren des „Ersten internationalen Zwölftonkongresses“ in Mailand, an dem Komponisten aus vielen Ländern teilnahmen. Komponieren und Organisieren gingen bei ihm von Anfang an Hand in Hand.
Der 1910 in Zürich geborene Liebermann hatte in seiner Heimatstadt Jura studiert, betätigte sich dann als Bridge-Lehrer, Kabarett-Pianist und Kritiker und verkehrte in den Emigrantenkreisen, die sich ab 1933 um das Züricher Schauspielhaus versammelten. 1936 landete er schließlich in einem Dirigentenkurs bei Hermann Scherchen. Der brachte ihm Beethoven, Mahler und zeitgenössische Musik nahe, lehrte ihn Genauigkeit des Hörens und Arbeitsdisziplin. 1940 nahm er seinen ersten Kompositionsunterricht bei Wladimir Vogel, politischer Flüchtling wie Scherchen. Bei ihm lernte er die Dodekaphonie, die er fortan sein ganzes Komponistenleben lang konsequent, doch in undogmatischer Weise anwenden sollte. So wurde der Halbjude Liebermann mitten im nazistisch dominierten Europa zum Zwölftonpionier. Nach dem Krieg gehörte er als Komponist und Organisator zu den engagierten Verfechtern der neuen Musik. Seine internationale Komponistenkarriere, die um 1950 einsetzte, gründet sich vor allem auf drei Opern, die in den fünfziger Jahren Furore machten. Die ersten beiden waren „Zeitopern“ und beruhten auf wahren Begebenheiten. In „Leonore 40/45“ ging es um eine Liebesgeschichte zwischen einer Französin und einem deutschen Landser – eine aktuelle Lesart von Beethovens „Fidelio“-Stoff. Der Librettist war wie bei den nächsten beiden Bühnenwerken Heinrich Strobel, Musikabteilungsleiter im Südwestfunk, der während des Kriegs in Frankreich gelebt hatte und für solche Geschichten ein Faible hatte. Bei der Uraufführung in Basel 1952 war das Stück ein großer Erfolg. Die darauffolgenden Premieren in Mailand und Berlin endeten hingegen mit einem gigantischen Debakel. Das Mailänder Publikum war so verstört, daß es ohne jede Reaktion, weder Beifall noch Protest, einfach den Saal verließ – ein Begräbnis erster Klasse. In Berlin gab’s dafür dann umso mehr Lärm, und als der Komponist auf die Bühne kam, flogen ihm Gegenstände an den Kopf. Liebermanns zweite Oper „Penelope“, wieder nach einem Libretto von Heinrich Strobel, wurde 1954 zu einem durchschlagenden Erfolg bei den Salzburger Festspielen, übertroffen nur noch drei Jahre später von der Buffa „Die Schule der Frauen“ nach Molière. Auch „Penelope“, eine Semiseria in zwei Teilen, griff wieder travestierend eine Kriegsthematik auf. Es ist die tragische Geschichte einer Frau, die zwischen Kriegsheimkehrer und neuem Ehemann steht und beide verliert. Liebermann und sein Librettist Strobel machten daraus eine neuzeitliche Variante von Homers Odysseus-Erzählung, mit Penelope, die den Heimkehrer erwartet. Die Antikriegshaltung der Oper verfehlte 1954 ihre Wirkung beim Publikum nicht. Liebermann schrieb dazu eine Musik, die hochexpressive Zwölftönigkeit mit bühnengerechter Dramaturgie zu verbinden weiß. Der Komponist Liebermann zeigt schon hier das Verständnis für die Gattungstradition und die Tessitura der Stimmen, das den Intendanten Liebermann später auszeichnen sollte. Dieser Heimkehrertragödie folgte das Konzert für Jazzband und Sinfonieorchester. Von der Idee her war es der Oper diametral entgegengesetzt, hatte aber mit ihr doch eines gemeinsam: Das Gespür für den Zeitgeist. Nur spricht aus ihm nun schon der Geist des Aufbruchs in eine neue, sorglosere Zeit. In diesem Konzert, das man heute unter der Rubrik „Crossover“ einordnen würde, verbindet sich der Respekt vor traditionellen Gattungsgrenzen mit einem Instinkt für das Neue, im besten Sinn Interessante; seine Qualitäten vermitteln sich über das spontane Hören. Uraufgeführt wurde das Stück am 17. Oktober 1954 in Donaueschingen unter der Leitung von Ernest Bour – am gleichen Tag, als John Cage und David Tudor ihr historisches Debut in Donaueschingen gaben. Mit seiner unbeschwerten Mischung von Saxophonsoli, Boogie-Woogie- und Mambo-Rhythmen mit zwölftönigen „sinfonischen“ Riffs ist es bis heute nicht umzubringen. Triumphe und Rekorde Liebermanns dritte Oper, „Die Schule der Frauen“ nach Molière, entstand zuerst als Auftrag der Rockefeller Foundation für Louisville, Kentucky. Es ist eine reine Buffa. Die Uraufführung der dreiaktigen Version 1957 in Salzburg wurde mit nicht weniger als 67 Vorhängen ein Triumph. Ein absoluter Rekord in Salzburg, auf den Liebermann immer wieder mit Stolz verwies. Am Weg von „Leonore 40/45“ über „Penelope“ zu „Schule der Frauen“ läßt sich nicht nur über die Entwicklung des Komponisten, sondern auch über den Wechsel des Zeitgeistes der fünfziger Jahre einiges ablesen. Klein war der Schritt vom Kriegsschock zum Wirtschaftswunderfrohsinn. Nach dieser Premiere hätte der siebenundvierzigjährige Liebermann beste Chancen gehabt, der konkurrenzlose Publikumsliebling der internationalen Opernszene zu werden. Es sollte anders kommen. Im gleichen Jahr wurde er Musikabteilungsleiter am Norddeutschen Rundfunk, zwei Jahre später Intendant der Hamburgischen Staatsoper, und die Rolle eines Lieblings des mondänen Opernpublikums erfüllte nun alsbald ein anderer: Hans Werner Henze. Die vierzehnjährige Hamburger Intendanz begründete Rolf Liebermanns Ruf als „legendärer Operndirektor“. Sie nimmt auch den größten Platz in den Nachrufen ein, die nach seinem Tod in großer Zahl erschienen sind. Der Komponist Liebermann kommt darin praktisch nicht vor. Die Einseitigkeit ist irgendwie verständlich: Die Tatsache, daß hier einer das traditionell autokratische Amt eines Opernintendanten mit einem demokratischen Geist erfüllte, daß er die gesellschaftliche Legitimation der Institution Oper neu definierte und Begriffen wie Ensemble, Repertoire und Publikumswerbung ganz neue Inhalte gab – all das sind zweifellos historische Verdienste. Auch daß er in den 14 Jahren seiner Amtszeit nicht weniger als 23 Opernuraufführungen, 21 davon als Auftragswerke, auf die Bühne brachte: das war damals beispiellos und ist es auch heute noch. Viele davon sind inzwischen vergessen, was dem üblichen Schicksal von Uraufführungen auch anderswo und zu andern Zeiten entspricht. Aber daß Liebermann der zeitgenössischen Produktion einen festen Platz im Repertoire einräumte, zeigt, daß er von seinen Lehrern Hermann Scherchen und Wladimir Vogel mehr gelernt hat als Taktschlagen und Notenschreiben. Dazu kam: Er gehörte nicht zu jener Sorte von Intendanten, die mit eiskalter Selbstverständlichkeit am Theater A den Intendantenlohn beziehen und ihre Zeit mit gut bezahlter Regiearbeit an den Theatern B, C und D verbringen. Er sah es als Pflicht, jeden Abend auch die letzte Repertoireaufführung von seinem Sitz im Parkett vorne rechts aus zu verfolgen und hinterher mit den Ausführenden Erfolg und Mißerfolg der Aufführung zu besprechen. Seine Erfolge als Intendant erkaufte er sich mit dem Opfer des Komponierens. In Hamburg und auch während der darauffolgenden Intendanz an der Pariser Oper, die von 1973 bis 1980 dauerte, ließ er vom Komponieren praktisch völlig ab. Eine Ausnahme war das 1964 für die Schweizerische Landesausstellung in Lausanne entstandene Stück „Les Echanges“, ein Konzert für Büromaschinen. In einem Ausstellungspavillon, der dem Thema Handel gewidmet war, brachte er 156 Büromaschinen der damals modernsten Art mittels Lochstreifensteuerung zum Klappern und Rattern. Diese neo-futuristische Maschinenmusik war ein „typischer Liebermann“: eine präzise Idee, brillant in Szene gesetzt und mit einem Augenzwinkern serviert. Das war weit entfernt vom spekulativen Denken in abgeschlossenen elektronischen Studios, und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb auf frappierende Art neu und aufregend. Nach seinem Rückzug von den Institutionen des Musikbetriebs, denen er ein Vierteljahrhundert gedient hatte, stürzte sich Liebermann noch einmal mit voller Kraft auf das Komponieren. In anderthalb Jahrzehnten entstand nun ein bewundernswertes Alterswerk, das er mit beispielloser Energie und jugendlicher Begeisterung vorantrieb, vielleicht auch ein wenig mit der Angst im Hinterkopf, nicht mehr genug Zeit zu haben, um alles niederzuschreiben, was an Plänen vorhanden war. Im Nachhinein schien es ihn manchmal zu jucken, daß er sich so lang mit Organisationsaufgaben herumgeschlagen hatte statt zu komponieren. Neben den beiden Opern „Der Wald“ und „Medea“ entstanden nun Orchesterwerke, ein Violin- und ein Klavierkonzert, Kammermusik und, als letztes Werk, ein fetziges, swingendes Stück, das von ferne an die Perkussionssoli des Jazzkonzerts erinnerte: „Mouvance“ für neun Schlagzeuger und Klavier. Bei der Salzburger Aufführung im Sommer 1998 stand der muntere Tonfall der Musik in beklemmendem Gegensatz zur gebrechlich wirkenden Erscheinung des Komponisten, der schwer atmend die Stufen zur Bühne hinaufging, um den Applaus entgegenzunehmen. Wer den Weg des Komponisten Liebermann in den letzten Jahren aus der Nähe verfolgen konnte, mußte den frischen Optimismus bewundern, mit dem da einer im hohen Alter seine zweite künstlerische Existenz entwarf – und verwirklichte. Er fühlte sich wieder als der Profi, als „einer vom Bau“, wie er sagte. Einer, der mit einem gewissen Handwerkerstolz sein altes Werkzeug wieder aus dem Kasten holte und ausprobierte. Die neuen, von der jungen Generation salopp gehandhabten Technologien interessierten ihn nicht übermäßig. Er knüpfte da an, wo er als Schüler Wladimir Vogels und früher Zwölftonpionier begonnen hatte: bei der Reihentechnik Schönbergscher Prägung. Grenzerkundungen Sie gab ihm die Sicherheit im musiksprachlichen Ausdruck und in der Form. Das virtuose Violinkonzert von 1994 mit seinem trauernden Mittelsatz, das Chorstück über Heinrich Heines revolutionäres Gedicht „Die Weber“ von 1997, oder das krebsförmig angelegte, schattenhafte Orchesterstück „Enigma“, von dem Liebermann sagte, er wisse eigentlich gar nicht, was es sei: in allen diesen Werken wird subjektiver Ausdruck durch zwölftönige Konstruktion gebändigt. Unverwüstlicher, lebenszugewandter Optimist, der er war, wollte er noch einmal bis an die Grenzen und vielleicht auch darüber hinaus gehen und konnte sich dabei stets auf die Unterstützung erstklassiger Interpreten verlassen. Als erfahrener Organisator wußte er, daß Erfolg oder Mißerfolg einer Uraufführung ebenso sehr von der Veranstaltung wie von der Partitur abhängt. Deshalb kümmerte er sich bei einem neuen Stück schon im Projektstadium um Interpreten und Aufführungsbedingungen, wobei ihm sein weitgespanntes Netz persönlicher Verbindungen natürlich zugute kam. Dem Ethos des soliden Zwölftonarbeiters entsprach Liebermanns Aufrichtigkeit im Umgang mit Menschen. Ob Gesangsstar oder Bühnenarbeiter, Student oder Sponsor – er zollte allen den gleichen Respekt für das, was sie leisteten. Im Theaterbetrieb, noch immer bevorzugte Spielwiese für tobende Autokraten und neurotische Versager, ist das Maß an künstlerischer und sozialer Kompetenz, wie er es an den Tag legte, nicht eben häufig anzutreffen. Das ist wahrscheinlich das Geheimnis seiner Faszinationskraft, der alle erlagen, die mit ihm je zu tun hatten. Das Geheimnis auch von dem, was in diesem Zusammenhang dann Erfolg und Charisma genannt wird. Für ihn ging es dabei aber vor allem um eine zivilisatorische Selbstverständlichkeit: Um Freundlichkeit mit den Menschen.Der Künstler hinter dem Intendanten
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Zum Tod des Komponisten Rolf Liebermann
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