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Der VIII. Parteitag 1971 und seine Folgen

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Radiokultur in der DDR bis zum Fall der Mauer · Von Heide Riedel
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Wenn es auch schien, als wären Gorbatschow und seine Glasnost- und Perestroika-Politik in den 80er-Jahren der DDR zum Schicksal geworden, wissen wir es heute besser: Die DDR-Wirtschaft war zutiefst marode, die alten Männer in Wandlitz längst fern von gut und nur noch böse, die Stasi partout: die DDR ein Sinnbild der klassischen Diktatur. Auch ohne den Reformer Gorbatschow, der den Ostblock zum Einsturz brachte, wäre die DDR nach den Regeln des Marxismus, nach denen die Freiheit eines jeden die Voraussetzung für die Freiheit aller ist, zum Scheitern verurteilt gewesen: Sie hat den Menschen nicht geachtet. Der DDR-Bürger hatte aber mittlerweile etwas wiedergefunden, was der Westen längst verschollen glaubte: Zivilcourage und den aufrechten Gang. Nicht Gorbatschow öffnete das Brandenburger Tor, wie vom amerikanischen Präsidenten Reagan 1987 gefordert, das taten die Bürger, die sich erstmals als Souverän empfanden und artikulierten. "Wir sind das Volk!" Lenin Denkmal (Foto: Martin Hufner) Grundlage für dieses sensationelle Geschehen waren die zwei bedeutendsten Ereignisse Anfang der 70er-Jahre: 1. Der VIII. Parteitag der SED (15.–19. Juni 1971) beendete mit der Wahl Erich Honeckers zum Ersten Sekretär der Partei die Ära Walter Ulbrichts. 2. Die Paraphrasierung des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik Ende 1972 verschaffte der DDR die weltweite diplomatische Anerkennung, gekrönt durch die Aufnahme in die UNO am 18. September 1973. Der Machtwechsel an der Parteispitze blieb nicht ohne Auswirkungen auf innenpolitische Maximen. Die Ideologie der Euphorie, vertreten in Ulbricht und seinen "sozialistischen Pionieren" der ersten Stunde, wich einer realitätsbezogeneren, nüchterneren Politik der Technokraten um Honecker. Nicht mehr der abstrakte Sozialismus und die reine Lehre der Partei, sondern die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit wurden nach diesem Parteitag zur politischen Hauptaufgabe erklärt, womit eindeutige Liberalisierungstendenzen im System einhergingen. Gleichzeitig erfolgte eine Abkehr der bisherigen offensiven Deutschlandpolitik, die im Namen des Sozialismus nationale Ansprüche an die Bundesrepublik gestellt hatte. Schon auf dem 14. Plenum des ZK der SED im Dezember 1970 hatte Honecker erklärt, dass sich zwischen der "sozialistischen DDR" und der "imperialistischen BRD" ein Prozess der Abgrenzung und nicht der Annäherung vollziehe. Konsequente Folge dieser Abgrenzungspolitik war die bereits erwähnte Umbenennung von Institutionen, die das Wort "deutsch" in ihrem Namen enthielten. Beim Hörfunk war es die am 15. November 1971 erfolgte Umwandlung des Deutschlandsenders zur "Stimme der DDR", womit gleichzeitig der Anspruch aufgegeben wurde, gezielt für Hörer in der Bundesrepublik senden zu wollen. Stattdessen galt es, eine neue Aufgabe zu bewältigen, nämlich über die Aktivitäten der DDR in der Welt, also außerhalb des Machtbereichs zu informieren. Die "Stimme der DDR" wurde zum "Fenster der Welt", alle speziell auf die Bundesrepublik und West-Berlin ausgerichteten Programme wurden eingestellt (Berliner Welle, der Deutsche Freiheitssender 904, der Deutsche Soldatensender 935). Werner Lamberz, Chef der Abteilung Agitation und Propaganda beim ZK der SED, hatte die neue Marschrichtung angegeben: "Wir haben nicht die Absicht, die Revolution zu exportieren, aber die Einführung von Konterrevolution wird schon gar nicht zugelassen." (Zit. in: Konferenz des Zentralkomitees der SED über Agitation und Propaganda am 16./17.11.1972, Berlin 1975.) Der außenpolitischen Anerkennung folgte, wollte man sie nicht verspielen, eine notgedrungen flexiblere innenpolitische Einstellung, die in dem Honecker-Satz gipfelte, dass in der DDR die westlichen Massenmedien von jedem nach Belieben ein- oder ausgeschaltet werden könnten. Um eine dadurch allerdings mögliche Konterrevolution von vorne herein zu unterbinden, klang es aus dem Radio zunehmend hörerfreundlicher. Dienstleistungs- und Ratgebersendungen traten in den Vordergrund. Alle vier Hörfunk-Sender hatten vier getrennte, fest umrissene Gebiete programmlich abzudecken: 1. Die "Stimme der DDR" interpretierte außenpolitische Themen in Bezug auf die DDR. 2. Der "Berliner Rundfunk" präsentierte die Hauptstadt. 3. "Radio Berlin International" produzierte Propagandaprogramme für das Ausland, sendete in den 70er-Jahren in elf Sprachen und hatte sich zu einem der renommiertesten und umfangreichsten Propagandasender des Ostblocks entwickelt. Nur Radio Moskau und Radio Peking waren noch größer. 4. "Radio DDR" beschäftigte sich mit dem innerstaatlichen Bereich, wobei sich seine zwei Programme inhaltlich unterschieden: "Radio DDR I" produzierte unter dem Motto "Nachrichten und Unterhaltung", war also als Massenprogramm konzipiert. "Radio DDR II" sollte die Hörer mit "Problemen und Meinungen" konfrontieren, war ein kulturell und wissenschaftlich ausgerichtetes Programm für anspruchsvolle Hörer. Das Kulturprogramm DDR II wurde in den Vormittagsstunden allmählich stärker regionalisiert, ohne dass den Bezirksstudios allerdings wichtige Entscheidungsbefugnisse zugestanden wurden. Der stetig gesteigerte Musikanteil in den vier Landesprogrammen, der den Wortanteil auf etwa 30 Prozent sinken ließ, unterschied sich zunehmend weniger von dem der "imperialistischen BRD". Es war in den 70er-Jahren immer undurchsichtiger, ob der Kampf um die "Antennen in den Köpfen" durch ergänzende oder inhaltlich sich dem Westen angleichende Radioprogramme erreicht werden sollte. Hilflos erschienen auch die Abgrenzungsbemühungen, wenn zum Beispiel die Dienstleistungssendungen im DDR-Hörfunk mit dem Ziel gesellschaftlicher Wirkungen, ja "revolutionärer Entwicklung" beschrieben wurden, die der BRD aber allein für den "Dschungelkrieg in der bürgerlichen Gesellschaft" gut seien. Seit der Biermann-Ausbürgerung im November 1976 befand sich die DDR-Kulturpolitik in der Dauerkrise. Es begann die lange Agonie, in der es den Instanzen nur noch gelang, kleine Krisenfälle zu bewältigen. In Theorie und Praxis herrschte von nun an pragmatische Willkür. Das DDR-Radio verlor mehr und mehr die mühsam gewonnene Attraktivität. Die Hörer wandten sich zunehmend den Regionalprogrammen, dem Jugendradio DT 64 und den Sendern der Bundesrepublik zu. In der Zeit vor der Wende versuchten die DDR-Medien die Quadratur des Kreises. Über die aktuellen und das ganze Land bewegenden Probleme wie Fluchtwelle, oppositionelle Bürgerbewegungen und kirchliche Aktivitäten durfte nicht berichtet, andererseits sollten die "Positionen des Sozialismus" aktiv vertreten werden. Da war der letzte Rest von Glaubwürdigkeit bei den Massen bereits verspielt, sie holten sich ihre Informationen aus den Westmedien. Die berichteten von der offenen Grenze in Ungarn, während die DDR-Medien über Planerfüllung in den Betrieben schwadronierten. Der Sturz Honeckers und der anderen alten Männer in der SED-Spitze am 18. Oktober 1989 ermöglichte die große Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Sie brachte die eigentliche Wende. Nach Auflösung der Staatlichen Komitees für Rundfunk und Fernsehen brach in den Funkhäusern und Studios eine Zeit des Umbruchs an: Mit dem Zusammenbruch des Staates war auch das Medienmonopol der SED beendet, Fernsehen und Hörfunk, hier vor allem die neuen Programme "Radio aktuell" und "DS Kultur", berichteten erstmals frei und offen über die Lage im Land, die Bedürfnisse der Menschen und ihre möglichen Zukunftsaussichten, es entstanden neue Sendeformen und -reihen. Die Medien wurden tatsächlich zu einer Tribüne, von der herab für eine kurze Zeit das Volk seine Meinungen artikulierte. Nie wieder war die Reaktion der Bevölkerung auf die Medien so positiv wie zu diesen "herrlichen Zeiten der Anarchie". Diese innovative Phase endete mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990. Mit dem Wahlsieg der konservativen ehemaligen Blockparteien der SED wurde die Föderalisierung von Hörfunk und Fernsehen sowie die Etablierung des dualen Rundfunksystems nach bundesdeutschem Vorbild vorangetrieben. Abdruck aus der MDR-Radiozeitschrift "Triangel" 10/1999 (siehe auch MDR)

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