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Kai-Uwe Jirka (Sing-Akademie), Liane Kaven, Achim Zimmermann (Singakademie) und Petra Merkel (Chorverband Berlin) bei der Preisverleihung. Foto: Otto
Kai-Uwe Jirka (Sing-Akademie), Liane Kaven, Achim Zimmermann (Singakademie) und Petra Merkel (Chorverband Berlin) bei der Preisverleihung. Foto: Otto
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Die alten Gräben sind zugeschüttet

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Die Geschwister-Mendelssohn-Medaille 2019 ging an beide Singakademien Berlins · Von Thomas Otto
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Am 11. November 2019 verlieh der Chorverband Berlin die Geschwister-Mendelssohn-Medaille, mit der herausragende Verdienste um die hauptstädtische Chorszene gewürdigt werden. Neben Wolfgang Erlat von der Berliner Singegemeinschaft „Märkisches Ufer“ wurden die Sing-Akademie zu Berlin und die Berliner Singakademie ausgezeichnet. Keine Preisverleihung wie jede andere, denn als Laudator für den einen trat jeweils der Direktor des anderen Chores an. Achim Zimmermann von der Berliner Singakademie also lobte die Sing-Akademie zu Berlin, und Kai-Uwe Jirka sprach über die Berliner Singakademie (siehe Seite 18).

Es jedoch einfach nur als eine nette Geste abzutun, im Jahr des Falls der Berliner Mauer zwei Chöre zu ehren, die den (fast) gleichen Namen führen, deren Geschichte jedoch untrennbar mit dem Schicksal Berlins während seiner Teilung verbunden ist, würde dem Ereignis nicht gerecht, denn – war da nicht mal was? Gab es da nicht diese Geschichte vom „Sängerkrieg, der eigentlich keiner ist“? Unter diesem Titel hatte die neue musikzeitung 2002 über das schwierige Verhältnis der beiden dem Namen nach verwandten Chöre berichtet. Die Verleihung der Mendelssohn-Medaille an beide Chöre nun ist ein schöner Anlass, sich dieser Geschichte noch mal anzunehmen und sie nun, 17 Jahre später, weiterzuerzählen.

Sie beginnt nicht etwa, wie vielleicht zu erwarten, 1791, in jenem Jahr also, in dem die Sing-Akademie zu Berlin von Carl Friedrich Fasch gegründet wurde, sondern mehr als 170 Jahre später. Die Sing-Akademie zu Berlin, die ab 1800 von ihrem zweiten Direktor Carl Friedrich Zelter zu jener bedeutenden, weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannten Chorvereinigung geformt wurde, hatte nicht allein als Konzertchor, sondern auch als „Kunstverein für die heilige Musik“, als von freien Berliner Bürgern getragene Einrichtung und als musikalische Akademie mit eigenem Bildungsprogramm eine bis dato einzigartige Tradition generiert, die 1961 mit der Teilung Berlins einen dramatischen Einschnitt erfuhr. Durch den Bau der Mauer sah man sich im Ostteil der Stadt von einem Tag auf den andern vom Wirken der Sing-Akademie zu Berlin, die ihren Sitz im Westteil der Stadt hatte, abgeschnitten. Zweifellos war das ein kultureller Verlust, der 1963 mit der Gründung  der Berliner Singakademie, die sich  konzeptionell und künstlerisch in der gleichen Zelter’schen Tradition wie die Sing-Akademie zu Berlin sah, ausgeglichen werden sollte.
Dem Cembalisten und damaligen Intendanten der Staatsoper Hans Pischner, von dem die Initiative zur Gründung einer Singakademie im Ostteil der Stadt ausging,  war es um die Bewahrung des musikalischen Erbes der Oratorienliteratur aus dem 18. und 19. Jahrhundert auch in der DDR zu tun.

Ganz im Sinne der Sing-Akademie-Tradition als einer Laienchorbewegung wollte Pischner dieses Repertoire und dessen Pflege nicht ausschließlich Kirchenchören oder professionellen Chören überlassen. Zweifellos hatte die Unterstützung der Gründung dieser Ostberliner Singakademie durch die offizielle Kulturpolitik auch kulturpropagandistische Hintergründe. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Dass es im Westteil der Stadt die Sing-Akademie zu Berlin  überhaupt gab, dazu schwieg die Ostberliner Kulturpolitik beharrlich. Dafür wurde die Berliner Singakademie als  kultureller „Leuchtturm“ gefördert und massiv unterstützt. Der Preis dafür und für die Möglichkeit einer Weiterführung der Zelter’schen Sing-Akademie-Tradition  war, dass der Chor oft auch zu offiziellen Anlässen hinzugezogen wurde.

Achim Zimmermann wurde 1989 zum Direktor der Berliner Singakademie berufen. Noch im selben Jahr fiel die Berliner Mauer und hier nun setzt die eigentliche Geschichte an, die 2002 in der nmz erzählt wurde. Es war die unendliche Geschichte von zwei ungleichen Schwestern, die Geschichte einer Vision und ihres Scheiterns, die Geschichte von Vorurteilen, Missverständnissen, Verletzungen, Sprachlosigkeit.  Eine traurige Chronik einseitiger und ergebnisloser Bemühungen um eine Annäherung beider Chöre, die stattdessen hoffnungslos immer weiter auseinander drifteten. Mehr als zehn Jahre hatte der Berliner Senat zunächst die beiden Chöre mit dem ähnlichen Namen gefördert. Während die Berliner Singakademie Jahr für Jahr von Publikum und Kritik gleichermaßen gelobte, äußerst vielseitige Programme absolvierte, geriet die Sing-Akademie weniger mit ihren Konzerten als mit öffentlich ausgestellten Besitzansprüchen in die Schlagzeilen der Feuilletons. Nach dem überraschenden Tod Hans Hilsdorfs, der die Sing-Akademie bis zuletzt als einzig wahren Erben der Zelter’schen Tradition verteidig­te, schien der Konflikt im November 1999 eine neue Wendung zu nehmen. Der Tagesspiegel fragte damals gar, ob die „dirigentenlose und zudem überalterte Sing-Akademie“ nun die Chance ergreifen würde, sich mit den viel gelobten Kollegen aus dem Osten zusammenzutun. Stattdessen wählte man einen Interims-Dirigenten, den man versprechen ließ, binnen zwei Jahren den Chor aus seinem derzeitigen Tief auf das künstlerische Niveau des Namensvetters aus dem Osten zu heben. Inzwischen hatte der Berliner Senat die institutionelle Förderung der „Sing-Akademie zu Berlin“ schon eingestellt.

Damals schrieb die nmz: „Bei Lichte besehen stellt sich, was immer noch als ‚Sängerkrieg von Berlin‘ kolportiert wird, als bestürzend simpel und banal dar. Hier ringen nicht zwei künstlerische Antipoden um Traditionen und zukünftige Wege. Es geht längst nicht mehr um eine ‚geschichtlich bedingte Unversöhnlichkeit‘ der Berliner Singakademie und der Sing-Akademie zu Berlin. Was da noch immer an ideologischen Vorbehalten geäußert wird, erweist sich als offenkundiges Alibi für die eigene Passivität.“
Vier Jahre nach jenem nmz-Bericht übernahm Kai-Uwe Jirka 2006 das Amt des Chordirektors der Sing-Akademie Berlin. Wie nachhaltig Jirka danach auf die Entwicklung des damals überalterten, kaum noch singfähigen Ensembles Einfluss genommen hat, ist inzwischen mit Händen zu greifen. Heute gehören zur Sing-Akademie Berlin ein oratorischer Chor, der, ähnlich der Berliner Singakademie, ebenfalls aus Liebhabern und Laien, Studenten und semiprofessionellen Sängern besteht, ein Kammerchor sowie der Mädchenchor unter der Leitung von Friederike Stahmer.  Dass der Hauptchor den Studierenden der Universität der Künste seit 2006 als Ausbildungs- und Prüfungs-Ensemble dient, beschert ihm zudem einen reichlich sprudelnden Quell an möglichen Nachwuchsstimmen.  

Dass heute, 17 Jahre nach jener verheerenden Bestandsaufnahme in der nmz die beiden Singakademien Berlins gleichermaßen ausgezeichnet wurden, ist bester Beleg für die Entwicklung, die nicht nur die Sing-Akademie als Ensemble, sondern auch das Verhältnis beider Chöre zueinander erfahren hat. Inzwischen nämlich hat es gemeinsame Projekte gegeben, etwa Mendelssohns zweite Sinfonie „Lobgesang“,  oder die gemeinsame Aufführung der großen zweiten Sinfonie Gustav Mahlers mit dem Dirigenten Steven Sloane in der Berliner Philharmonie. Die Vorstände beider Chöre haben Gespräche über weitere mögliche Projekte miteinander vereinbart. Und so verlieh Achim Zimmermann denn in seiner Laudatio für die Sing-Akademie zu Berlin auch seinem Herzensbedürfnis Ausdruck, dass die beiden Singakademien irgendwann eine gemeinsame Sprache sprechen und ein gemeinsames Dach haben mögen. Gleichwohl wäre es sicher übertrieben, dieser Verleihung der Mendelssohn-Medaille an beide Chöre eine übermäßige Symbolkraft anzudichten, sie als ein Signal zu sehen, welches auf das Ende dieses so lang schon anhaltenden Schwebezustandes einer möglicherweise unvollendet gebliebenen Vereinigung der Stadt hinweist.

„Das Versprechen einer Zusammenlegung mag damals – in der Euphorie der Wendezeit – verlockend erschienen sein“, sagte Kai-Uwe Jirka in seiner Laudatio für Achim Zimmermann. Er verstehe im Rückblick auch die Sehnsucht danach. „Ich verstehe aber auch, dass es Kräfte gab, die auf der jeweiligen Eigenart und Differenz beharrt haben.“ Der kulturelle Reichtum Berlins, das unterstrich Jirka, zeige sich schließlich nicht zuletzt darin, dass heute zwei Singakademien in ihrem Namen wirken, jede in ihrem speziellen Wirkungskreis. Achim Zimmermann zeigte sich in seiner Rede erleichtert darüber, „dass der Kalte Krieg Vergangenheit ist“. Die Gräben sind zugeschüttet. Das Bedeutsame an der Situation heute ist, dass sich beide Chöre nicht als konkurrierende Institutionen wahrnehmen, sondern durch die Ergebnisse ihrer Arbeit gemeinsam mit allen anderen Chören Berlins im künstlerischen Wettstreit stehen.

Zu den Gesprächspartnern der nmz bei ihren damaligen Recherchen gehörte auch das Ehrenmitglied der Sing-Akademie zu Berlin Karl Friedrich Zelter, der damals im norddeutschen  Bassum lebte. Es war sein Urahn Carl Friedrich Zelter kein Geringerer als jener, der im Jahr 1800 das Amt des Direktors der von Carl Friedrich Fasch gegründeten „Sing-Akademie zu Berlin“ übernahm. Der Nachkomme des passionierten Musikerziehers und Brieffreundes von Goethe wurde denn auch zum Ehrenmitglied der Sing-Akademie zu Berlin ernannt und war so stolz darauf. Aber während des Gesprächs konstatierte er: „Ich sehe mit großer Traurigkeit und einer gewissen Verbitterung den Niedergang des alten Chores von 1791 und sehe, wie er im Nichts zu verschwinden droht.“ Würde Karl Friedrich Zelter heute die Nachricht aus Berlin von der Verleihung der Mendelssohn-Medaille an beide Singakademien und von dem Procedere dieser Feierstunde empfangen haben – er wäre einverstanden mit dem Lauf der Dinge.

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